Vor ein paar Wochen habe ich beobachtet, wie sich eine alte Frau im Bus ziemlich abscheulich benahm. Ich nahm mir vor, künftig mutiger zu sein. Ich wollte mich deutlich auf die Seite derer stellen, die ungerecht behandelt werden.
Im Video oben: So alltäglich ist das Rassismus in Deutschland
Heute hätte ich die Gelegenheit dazu gehabt.
Eins sei vorab gesagt: Ich hätte deutlich besser reagieren können.
Ich wusste, der Tag würde nicht gut werden
Es passierte auf dem Weg zur Arbeit. “Aufgrund einer Stellwerksstörung verzögert sich die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit”, dröhnte es aus dem Lautsprecher am S-Bahnsteig. Also schlängelte ich mich zum Bus durch.
Der war natürlich voll mit Leuten, die auch lieber die S-Bahn genommen hätten.
Im Bus stand bereits ein Kinderwagen, der zusätzlich Platz wegnahm, aber das kann man ja niemandem übel nehmen.
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Eine Haltestelle weiter kam ein weiterer Kinderwagen hinzu. Die Mutter, eine etwa 35-jährige Frau mit schwarzer Hautfarbe, bahnte sich und ihrem Wagen konsequent und mit Charme einen Weg in den Bus.
Eine weitere Haltestelle, ein weiterer Kinderwagen. Diesmal ein Mann mit brauner Hautfarbe.
Der Bus war jetzt so richtig voll.
“Jetzt vermehren die sich auch noch”
“Sehen Sie sich das an”, sagte ein junger Mann plötzlich grob in meine Richtung, ohne irgendwen direkt anzusprechen.
“Ja, sehr süß”, sagte ich.
Ich bin zwar nicht wirklich ein Kinderfan, aber dieses Bild von drei Babys, mit Hautfarben von weiß bis sehr dunkel, fand ich schon sehr schön.
“Jetzt vermehren die sich auch noch”, sagte der junge Mann.
… Was hatte er da grade gesagt?
“Was ist eigentlich Ihr Problem?”, raunzte ich ihn an.
“Ja stimmt doch”, bellte er zurück.
Ja, es stimmte, dass da offensichtlich Menschen Kinder hatten. Aber seine Formulierung ließ wenig Zweifel daran, dass der Mann da nicht nur wertfrei eine Beobachtung mitteilen wollte oder den Geburtenboom bejubelte.
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Es war eindeutig, dass er ein Problem damit hatte, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland Kinder bekommen.
Warum sagt jemand so etwas?
Ich war perplex. Statt noch weiter etwas zu sagen, schaute ich nur verächtlich und drückte mich durch den Bus weg von ihm.
Mittlerweile ist es Abend und ich habe die ganze Zeit an die Situation im Bus gedacht.
Ich versuche mir zu erklären, warum jemand so etwas sagt.
Deutschland ohne Migranten
Der erste Gedanke, der mir kommt, ist, dass er vielleicht glaubt, es würde ihm besser gehen, wenn keine Migranten in Deutschland lebten.
Knapp ein Viertel der Deutschen arbeitet im Niedriglohnsektor, jedes fünfte Kind lebte mindestens fünf Jahre in Armut und trotz aller Jobwunder-Jubeleien beziehen noch immer 4,3 Millionen Deutsche Hartz IV.
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Immer wieder lese ich in User-Kommentaren, dass es den Deutschen besser gehen würde, wenn die Ausländer/Flüchtlinge nicht da wären. Weil der Staat das Geld, das er für sie aufwendet, dann armen Deutschen geben würde. Wer aber nur eine Minute drüber nachdenkt, dem wird klar, dass das nicht stimmt.
Keiner kann wirklich glauben, sein Einkommen wäre auch nur einen Euro höher, wenn es keine Migranten gäbe.
Machen Migranten ihm Angst?
Könnte es Angst sein? Wut entspringt oft aus Angst.
Hat er Angst davor, dass “die” zu viele werden. Dass er selbst in einigen Jahren zu einer Minderheit gehören könnte?
Aber wie kann man so eine Angst haben, wenn in einem überfüllten Bus grade mal vier Leute nicht aussehen wie Bio-Deutsche?
Vielleicht glaubt er auch, die beiden könnten ihre Kinder nicht versorgen. Weil sie Migranten sind, müssten sie auf Stütze angewiesen sein.
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Ja, es gibt viele Menschen, die Kinder haben und sich eigentlich nicht um sie kümmern können oder wollen. Ich komme aus einer Sozialarbeiter-Familie. Ich weiß, was es bedeutet, wenn Eltern besser keine Kinder bekommen hätten.
Aber diese Menschen waren mit ihren Kindern unterwegs, sie sprachen mit ihnen, sorgten sich offensichtlich um sie. Das ist es, was zählt.
Wenn er ihnen unterstellt, schlechte Eltern zu sein, nur weil sie keine weiße Hautfarbe haben, ist das Rassismus und keine Sorge um das Kindeswohl.
Ich bin jetzt verzweifelt
Egal, wie lange ich darüber nachdenke, mir fällt keine Erklärung ein, die den Satz des Mannes hätte rechtfertigen können.
Es scheint, als würden uns Welten trennen. Aktuell fühle ich mich als Deutscher, der deutscher nicht aussehen könnte, keine Kinder hat und keine will, mehr mit den Eltern aus dem Bus verbunden als mit dem jungen Mann.
Vielleicht hätte ich mit ihm diskutieren sollen. Ihn fragen, warum er so dachte.
Ich weiß nicht genau, warum ich es nicht getan habe. Weil ich nicht mutig genug war, mich der öffentlichen Diskussion zu stellen? Weil ich Angst hatte, ihn nicht überzeugen zu können?
Falls Sie das hier lesen, melden Sie sich bitte bei mir. Ich würde gern mit Ihnen reden.
Vielleicht ist es in solchen Situationen wie in der ersten Hilfe: Der größte Fehler ist, wegzugehen und nichts zu tun. Man könnte es wenigstens probieren.