Kinder aus ärmeren Familien haben es oft schwerer als die Nachkommen aus wohlhabenden Familien, auch wenn ihre Eltern sie ebenso sehr lieben.
Spannend ist: Bestimmte Unterschiede treten bereits in den ersten beiden Lebensjahren sehr ausgeprägt auf, das zeigen Forschungen immer deutlicher. Und: Sie lassen sich nach Ansicht von Experten auch dann schon bekämpfen.
So haben Kinder aus ärmeren Familien etwa bei der Sprachentwicklung einen deutlichen Rückstand Kindern aus reicheren Kindern gegenüber.
Es ist eine Entwicklung, die sich später fortsetzt. So können schon jetzt 20 Prozent der Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen. Vor den Folgen warnte der Präsident des deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter-Meidinger, erst vor wenigen Tagen in einem Gastbeitrag für die HuffPost.
Schon im Alter von 18 Monaten massive Diskrepanzen
Eine der bemerkenswertesten Studien in dem Bereich Sprachentwicklung kommt von Anne Fernald von der Stanford University. Sie stellte fest, dass die Unterschiede zwischen reichen und armen Kindern bereits im Alter von 18 Monaten zu beobachten sind.
Ihre Forschungsergebnisse zeigen, dass bereits dann massive Diskrepanzen auftreten. Das Erstaunliche: Zu diesem Zeitpunkt beherrschen die meisten Kleinkinder nicht mehr als ein paar dutzend Wörter.
Trotzdem konnte Fernald nachweisen, dass Kleinkinder aus benachteiligten Familien in der Entwicklung mehrere Monate hinter den Kindern aus wohlhabenden Familien zurückliegen.
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Ganz konkret untersuchte die Psychologin das anhand von Bildern. Sie zeigte Babys jeweils zwei Farbzeichnungen, beispielsweise die eines Hundes und die eines Balls.
Als die Kinder aufgefordert wurden, ihren Blick auf den Ball zu lenken, stellte Fernald fest: Die Babys aus besser gestellten Familien konnten das richtige Bild innerhalb von 750 Millisekunden identifizieren und ihren Blick darauf richten. Bei den anderen Babys dauerte es im Schnitt 200 Millisekunden länger.
Der Rückstand wird mit jedem Jahr größer
Das scheint auf den ersten Blick wenig, ist aber ein erstes Anzeichen für eine langsamere Entwicklung, die sich fortsetzt, je älter die Kinder werden.
Bei Jungen und Mädchen im Alter von zwei Jahren beobachtete die Psychologin bereits einen sechsmonatigen Rückstand bei der Menge an zur Verfügung stehenden Wörtern und der Fähigkeit, Sprache zu verarbeiten.
Fünfjährige aus armen Familien können Fernalds Versuchen zufolge ihren bessergestellten Altersgenossen in der Entwicklung und in der Lerngeschwindigkeit bereits bis zu zwei Jahre hinterherhinken.
″Über Sprache bauen Kinder Intelligenz auf”, schreibt Fernald in ihrer Studie. Das lässt sich auch anhand von Hirnuntersuchungen bestätigen, wie Kimberly Noble von der Columbia University feststellte. Sie konnte nachweisen, dass bei Kindern aus wohlhabenden Familien die Sprachzentren im Gehirn ausgeprägter sind.
Es spielt also eine wichtige Rolle, wie viel und wie abwechslungsreich Eltern und andere Vertrauenspersonen mit ihren Kindern sprechen.
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Dabei aber gilt: Kinder profitieren nur von Sprache, die direkt an sie gerichtet ist. Über Wörter, die aus einem Fernsehgerät kommen oder die das Kind nur im Hintergrund mithört, wird kein Vokabular aufgebaut.
Auf die soziale Ungleichheit bezogen, ist dabei interessant: Studien zufolge sehen Kinder aus unteren Schichten mehr fern. Laut einer Untersuchung der Organisation World Vision verbringen 41 Prozent der Kinder aus diesen gesellschaftlichen Schichten regelmäßig am Tag mehr als zwei Stunden vor dem Fernseher. Bei Kindern aus den oberen Schichten sind es hingegen nur 10 Prozent.
Vorlesen spielt eine wichtige Rolle
In diesem Zusammenhang ist auch Vorlesen von ganz entscheidender Bedeutung.
Eine Studie der Stiftung Lesen kam 2013 zu dem Ergebnis, dass in fast jeder dritten Familie mit Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren den Kindern gar nicht oder selten vorgelesen. Besonders habe sich das in Haushalten aus bildungsfernen Schichten gezeigt, so das Ergebnis der Studie.
Dabei ist Vorlesen essenziell wichtig für die Entwicklung eines Kindes.
“Die Mimik und die Stimmlage der Mutter oder des Vaters zeigen dem Kind, welche Bedeutung das Wort hat, das es gerade hört”, sagte Alexandra Winzinger, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin aus München, kürzlich der HuffPost. “So werden der Spracherwerb, die Sprachfähigkeit und die Lesekompetenz gestärkt.”
Kindern, denen wenig vorgelesen wir, könnten sich später schlechter vorstellen wie zum Beispiel die Buchstaben gebildet oder Laute mit der Zunge hergestellt werden. Und dadurch werde ihnen auch das Schreiben schwerer fallen als anderen.
Und passend zu den Erkenntnissen von Fernald und ihren Kollegen haben mehrere Studien gezeigt, dass Kinder, denen oft vorgelesen wird, auch intelligenter sind.
Wissenschaftler der New York University stellten bereits 2013 fest, dass interaktives Vorlesen - das heißt, dem Kind beim Vorlesen auch Fragen stellen und Erklärungen abgeben - den IQ eines Kindes erhöht, und zwar um durchschnittlich sechs Punkte.
Rückstand lässt sich aufholen
Bleibt nur noch die Frage: Lässt sich ein Defizit ausgleichen, wenn es früh festgestellt wird? Können Kinder aus ärmeren Familien, in denen die Eltern häufig schlicht zu wenig Zeit oder nicht das Know-How haben, um sich intensiv um die Entwicklung ihrer Kinder zu kümmern, den Rückstand aufholen?
Psychologin Fernald ist der Ansicht, dass das durchaus möglich ist. Bei einem Programm namens “Habla Conmigo” (“Sprich mit mir”) mit spanischsprachigen Müttern mit geringem Einkommen in Kalifornien stellte sie positive Effekte fest.
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Die Mütter lernten in einem achtwöchigen Kurs, mehr mit ihren Kindern zu sprechen und ein größeres Vokabular zu benutzen. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe hätten die Kinder der Kursteilnehmerinnen im Alter von zwei Jahren einen größeren Wortschatz gehabt und schneller gelernt, berichtete Fernald.
“Unser Ziel ist es, Eltern zu helfen, etwas Wichtiges zu verstehen”, schreibt sie in ihrer Studie. “Indem sie von klein auf viel mit ihren Kindern sprechen, können sie ihre Zukunft entscheidend mitgestalten.”
Eltern müssen ihren Kindern die Welt erklären
Was können Eltern also tun, um das Defizit gar nicht erst aufkommen zu lassen?
Das Wichtigste ist laut Fernald: Kontext schaffen. Eltern könnten gar nicht früh genug anfangen, ihren Kindern die Welt zu erklären, rät sie.
Denn Kinder lernen neue Wörter aus ihrem Kontext. Das bedeutet: Je schneller Babys die Wörter verstehen, die sie schon kennen, desto einfacher können sie auch neue abspeichern.
Und: Je größer der Wortschatz ist, desto schneller lernen Kinder dazu.
Beim Satz “der Hund liegt im Korb” können sich Kinder, die das Wort “Hund” schon kennen, beispielsweise das Wort “Korb” von selbst erschließen. Fehlt der wichtige Begriff im Satz, lernen Kinder nichts dazu.
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Wenn Eltern etwa sagen “Komm, wir räumen das Spielzeugauto in den Korb zu dem Plüschaffen und der Eisenbahn”, bringen Kinder die verschiedenen Wörter miteinander in Verbindung.
Das bedeutet allerdings nicht, dass Eltern hochgestochen und in komplexen Sätzen mit ihren Kleinkindern sprechen sollten. Erst vor wenigen Monaten zeigte eine Studie von Forschern der University of Delaware, dass eine kindgerechte Sprache dazu führt, dass Kinder schneller und besser sprechen lernen.
Die Sprache sollte kindgerecht sein
“Eltern, die kindgerichtete Sprache anwenden, fördern den Spracherwerb ihrer Kinder”, schreibt das Team um Roberta Michnick Golinkoff dazu in der Fachzeitschrift “Current Directions in Psychological Science”.
Forscher von der Brown University in Providence, Rhode Island führen das auf die langsamere Sprechgeschwindigkeit und die überdeutliche Aussprache von Vokalen bei der sogenannten “Babysprache” zurück.
Diese Art der Kommunikation helfe dem Kind, seine Aufmerksamkeit auf das Gesagte und den Sprecher zu lenken, schreiben die Wissenschaftler im “Journal of the Acoustical Society of America”, aus dem die “Süddeutsche Zeitung” zitiert.
Es zeigt sich also: Wer vom ersten Tag an liebevoll und interessiert mit seinem Kind kommuniziert, legt den Grundstein für ein erfolgreiches, glückliches Leben.
(ben)