Die Vorfälle werfen ein Licht auf ein Problem, das in Deutschland noch viel zu häufig kleingeredet wird: Antisemitismus.
Denn mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Ende der Shoah, ist Judenfeindlichkeit in Deutschland kein Problem der Vergangenheit. Umfragen aus den vergangenen Monaten und die Polizeistatistiken zeigen vielmehr: Der Antisemitismus frisst sich wieder tiefer in die Gesellschaft.
Vorurteile reichen in die Mitte der Gesellschaft
Bei Neonazis und Neuen Rechten ist der Antisemitismus ebenso anschlussfähig, wie bei vielen jungen Einwanderern aus muslimischen Ländern. Aber auch bis in die Mittelschicht sind antisemitische Vorurteile verbreitet.
Auf Berliner Schulhöfen, so zeigte ein Umfrage im Sommer, ist “Jude” inzwischen wieder ein geläufiges Schimpfwort.
Aber wo liegen die Ursachen für diese erschreckende Entwicklung?
Um diese Frage zu beantworten hat die HuffPost mit Betroffenen, Politikern, Aktivisten und Wissenschaftlern gesprochen. Wir wollten wissen: Wie empfinden die rund 100.000 Juden, die in Deutschland leben, Antisemitismus im Alltag? Wie antisemitisch ist Deutschland wirklich? Und wie können wir das ändern?
Den Antworten widmen wir eine ganze Themenwoche mit Blogs, Interviews und Analysen.
Um zu verstehen, wie drängend das Thema ist, reicht ein Blick in die Statistiken. Sie zeigen eine alarmierende Entwicklung.
Polizei registriert wenige Angriffe, doch Betroffene berichten anderes
Eine Studie der Universität Bielefeld ergab im April zum Beispiel, dass über 80 Prozent der befragten Juden sich durch Antisemitismus “stark belastet” fühlen.
58 Prozent der Befragten vermeiden aus Sicherheitsgründen bestimmte Stadtteile.
70 Prozent tragen keine äußerlich erkennbaren jüdischen Symbole, um nicht Ziel von Übergriffen zu werden. Diejenigen, die doch eine Kippa tragen oder sich auf andere Weise als Juden zu erkennen geben, berichten besonders häufig von Anfeindungen, heißt es in der Studie. Interviewpartner sprechen darin von Zuständen, “die so vor Jahren nicht denkbar gewesen wären”.
Tatsächlich wächst in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland die Sorge.
“Unsere Mitglieder fühlen sich durchaus bedroht”, sagt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Bremerhaven, Mircea Ionescu, kürzlich Radio Bremen.
Anfang Dezember hatten Unbekannte in der Hafenstadt ein Hakenkreuz an die Synagoge gemalt. Ionescu berichtete daraufhin vom Antisemitismus, den einige der 50 Gemeindemitglieder in der Stadt spürten. Ionescu beschreibt ein Gefühl zwischen Angst und Trauer.
CDU-Politikerin Prien: “Jüdischsein ist kein Tabu mehr”
Die Folge: Viele Juden leben ihre Religion im Verborgenen aus. Und einige von ihnen wollten gegenüber der HuffPost nicht über antisemitische Vorfälle sprechen - weil sie Fürchten, dass die Berichte nur zu noch mehr Übergriffen führen.
Karin Prien kann das verstehen, hat aber einen anderen Weg gewählt. Prien ist Bildungsministerin in Schleswig-Holstein und eine der wenigen offen jüdischen Spitzenpolitiker Deutschlands.
Sie sagt im Gespräch mit der HuffPost: “Jüdischsein ist in Deutschland kein Tabu mehr.” Dennoch nimmt die CDU-Politikerin die Situation in Deutschland mit Sorge wahr. Auch sie wisse um den Anstieg antisemitischer Straftaten.
Fast 700 waren es auf Bundesebene allein im ersten Halbjahr 2017, vier Prozent mehr als in derselben Zeitspanne des Vorjahres.
Polizei registriert antisemitische Straftaten nicht
Ein Grund, den Prien nennt: “Die Enttabuisierung von Antisemitismus, die von Rechtspopulisten betrieben wird.”
Tatsächlich kommt Judenfeindlichkeit in Deutschland noch immer meist von rechts. 15 körperliche Angriffe zählte die Polizei auf Juden im ersten Halbjahr. Fast alle verübt von Rechtsradikalen.
Allerdings sind das nur die angezeigten Fälle, in denen die Polizei ein judenfeindliches Motiv nachweisen konnte. Die reale Zahl dürfte deutlich höher liegen. Auch weil die Polizei “Vermeidungsstrategien” anwendet, wie der Verfassungsschutz in seinem jüngsten Bericht kritisiert.
Und weiter: “Selbst bei der Offensichtlichkeit des Tatmotivs (verweist die Polizei, Anm. d. Red.) häufig auf alternative, nicht politische Tathintergründe.”
Die Behörden verschweigen also ein offenkundiges Problem – und lassen die Betroffenen oft mit einem Gefühl der Hilflosigkeit zurück.
Antisemiten in der AfD
Zur Enttabuisierung des Antisemitismus trägt auch die AfD bei. Einige ihrer Mitglieder und auch prominente Politiker gerieten für antisemitische Äußerungen in der Vergangenheit immer wieder in die Schlagzeilen.
Mit Wolfgang Gedeon sitzt ein überzeugter Antisemit im Stuttgarter Landtag.
➨ Mehr zum Thema: “Kein einziger Jude ist in der Gaskammer umgebracht worden”: Wie antisemitisch ist die AfD wirklich?
Kein Geheimnis ist auch, dass AfD-Prominente wie Parteichef Alexander Gauland und der Rechtsaußen Björn Höcke am liebsten einen Schlußstrich unter die Erinnerung an den Holocaust ziehen würden.
Allerdings sind die in der AfD auch immer wieder pro-jüdische- und pro-Israel-Stimmen zu hören. Aber auch dahinter steckt laut Experten Kalkül. So erklärte der Antisemitismus-Experte Gideon Botsch von der Universität Potsdam kürzlich im Deutschlandfunk:
Der Antisemitismus werde für die AfD immer dann wichtig, “wenn er sich mobilisieren lässt gegen andere Minderheiten, insbesondere gegen muslimische Communities in Deutschland und gegen Flüchtlinge”.
Der muslimischer Antisemitismus bringt den Nahostkonflikt nach Deutschland
Fakt ist aber jenseits aller populistischen Hetze: Das Bedrohungspotenzial durch muslimische Antisemiten hat zugenommen. Es äußert sich unter anderem auf pro-Palästina Demonstrationen wie am Wochenende in München und Berlin.
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(Demonstranten verbrennen Fahne mit Davidstern in Berlin. Fotoquelle: Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V./dpa)
Das sagt auch die Bildungsministerin in Schleswig-Holstein Karin Prien: Sie konstatiert, dass der Antisemitismus “durch eine Zuwanderung von Menschen aus Ländern, in denen eine Feindschaft mit Israel zum guten Ton gehört“, zuletzt gestiegen ist.
In der Befragung der Universität Bielefeld gab sogar die Mehrheit der von Antisemitismus betroffenen Juden an, von Muslimen angefeindet worden zu sein.
In einigen Gegenden Deutschlands trifft der hasserfüllte Keim des Nahost-Konflikts auf besonders nahrhaften Boden. Im Jahr 2014, als die Lage im Gaza-Streifen eskalierte, riefen junge, dunkelhaarige Demonstranten in Frankfurt und Berlin den Schlachtruf „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“.
Der 25-Jährige Monty Ott, Mitarbeiter im Deutschen Bundestag, sagt deshalb: “In manche Außenbezirke von Berlin traue ich mich nicht mehr.” Immer skrupelloser verleihen junge – oft radikale – Muslime ihrem Israel-Hass hier Ausdruck.
Auch die Mittelschicht hegt alarmierende Vorurteile
Doch nicht nur Islamisten und Rechtsradikale befeuern die anti-jüdische Stimmung. Auch in der Mittelschicht breitet sich antisemitisches Gedankengut aus. Das zeigt eine Umfrage der Heinrich-Böll-Stiftung, die unter dem Titel “Mitte-Studie” vergangenes Jahr erschienen ist.
Demnach ist jeder zehnte Deutsche der Meinung, dass der Einfluss von Juden zu groß sei. Ebenso groß ist die Zustimmung zu der Aussage “Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen”.
Es sind dieselben erschreckenden Theorien, wie sie die Nationalsozialisten streuten, um die Massen gegen die Juden aufzuwiegeln.
Medien wirken Antisemitismus nicht entgegen
Vorurteile abbauen, das sollte daher auch eine Aufgabe der Medien sein.
Eine Untersuchung des Forschungsinstitutes Media Tenor International für die HuffPost zeigt jedoch: Die deutschen Leitmedien berichten seit 2014 überwiegend im negativen Kontext über das Judentum. Und: die Berichterstattung wird kritischer.
“Insbesondere in den letzten zwei Jahren ist die Bewertung des Judentums auch in den deutschen Leitmedien deutlich ins Negative gekippt. Noch negativer werden nur Muslime in den deutschen Leitmedien dargestellt”, erklärt Ronald Schatz, Gründer und Chefredakteur von Media Tenor und Berater des UN Generaldirektors in Genf.
Seit Jahren berichten deutsche Journalisten vor allem in Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt über das Judentum. Positive Aspekte wie die soziale Arbeit jüdischer Gemeinden in Deutschland spielten kaum eine Rolle in der Berichterstattung, sagt Schatz.
Und noch eine beunruhigende Entdeckung hat das Team von Schatz bei seinen Recherchen gemacht: Das Thema Antisemitismus läuft in den Medien weit unter der Wahrnehmungsschwelle der Bürger. Medien berichten also so selten, dass das Thema im öffentlichen Diskurs keine Rolle spielt.
Gleichzeitig verschärfen rechtsextreme Medien ihre Hetze. Das “Compact”-Magazin des berüchtigten Publizisten Jürgen Elsässer etwa wettert gegen die angebliche “Holocaust-Industrie”, mit der Juden versuchen würden, Gewinn aus der Shoah zu ziehen.
“Compact” gilt in der rechten Szene, unter AfD-Anhängern wie Neonazis, als Leitmedium.
Immer wieder verbreitet das Hetzblatt wilde Theorien über die “Bilderberger”, die “Israel-Lobby” und wendet bekannte antisemitische Codes der NS-Zeit auf aktuelle Entwicklungen an.
Wie schlimm es ist, sieht man jeden Tag in den Großstädten
Und liefert vielleicht sogar Inspiration für Gewalttaten.
In Berlin ist die Angst vor Übergriffen so groß, dass 65 jüdische Einrichtungen rund um die Uhr bewacht werden. Über 2,5 Millionen Euro kostete das das Land im Jahr 2015. Andere Bundesländer weigern sich preiszugeben, welche Schutzmaßnahmen sie für Synagogen und Kulturzentren treffen. Wohl aus Angst, militante Judenfeinde auf falsche Ideen zu bringen.
“Sehr besorgt” zeigte sich auch Kanzlerin Angela Merkel zuletzt darüber, dass solche Schutzmaßnahmen überhaupt nötig sind.
Derzeit deutet wenig darauf hin, dass sich das bald ändern wird.
Allerdings gibt es Menschen, Projekte, Initiativen, die Hoffnung machen. So zum Beispiel die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Türkischstämmige Berliner gründeten sie schon 2003 auch als Reaktion auf den immer sichtbarer werdenden Antisemitismus - auch in muslimischen und Migranten-Communities.
Dervis Hizarci, der Vorstand der Kreuzberger Initiative und Lehrer in Kreuzberg, sagt: “Wer auch immer mit Antisemitismus konfrontiert ist und das Gefühl hat, dass ist vielleicht auch nur eher Unwissenheit und nicht Bösartigkeit, sollte das Gespräch suchen und aufklären.”
So wie Hizarci. Nachdem sich zwei Schüler in seiner Klasse zuletzt als “Jude” beschimpften, hat er mit ihnen einen einwöchigen Workshop gemacht. “Wir haben das jüdische Museum in Berlin besucht, wir haben das Judentum und den Islam verglichen”, erklärt Hizarci.
Ob das schon hilft? Es ist zumindest ein Anfang.