- Hinter vielen Sexualstraftätern steht eine Ehefrau oder eine Familie
- Für die ist es nicht einfach, mit der Tat der geliebten Person umzugehen
- Wir haben mit Frauen gesprochen, die sich in dieser Situation befinden
Als Vanda 20 Jahre alt war, riefen ihre Eltern sie zu sich ins Wohnzimmer, weil sie ihr eine schlechte Nachricht überbringen mussten. Ihre Mutter eröffnete ihr in einem äußerst nüchternen Tonfall, dass ihr Vater
wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt worden war.
Ihr Vater, der eine Gefängnisapotheke im Südosten Englands leitete und gerade zuhause war, weil er auf sein Gerichtsverfahren wartete, saß mit versteinerte Miene da, während Wanda, die auf einem College in Manchester Musik studierte, geschockt auf das grüne Familiensofa sank.
“Ich konnte es einfach nicht fassen, dass dieser Mensch so etwas getan hatte”, sagte Vanda, die mittlerweile 50 Jahre alt ist, als Bibliothekarin arbeitet und in Ohio wohnt, im Gespräch mit der HuffPost. “Er war eine wichtige Persönlichkeit in der örtlichen Kirchengemeinde und er genoss ein hohes Ansehen. Nichts in seinem Leben hat auch nur ansatzweise darauf hingedeutet, dass er ein Mensch sein könnte, der irgendwann einmal ins Gefängnis muss.”
Vandas Vater wurde später tatsächlich dafür schuldig befunden, dass er eine Krankenschwester im Gefängnis zweimal zum Oralsex gezwungen hatte und er wurde deshalb schließlich zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Dennoch klammerte sich Vanda, die ihren Nachnamen zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht nennen möchte, verzweifelt an die ursprüngliche Aussage ihrer Eltern, die behauptet hatten, dass die Frau, die Vandas Vater angezeigt hatte, eine Lügnerin war.
Und selbst als in den Regionalnachrichten über den Fall berichtet wurde, wollte Vanda es einfach nicht wahrhaben, dass der Mann, dem sie von Kindheit an vertraut hatte, zu einem derart abscheulichen Verhalten imstande sein sollte.
Das Trauma kann sich auf die Familie ausdehen
Hinter all den einflussreichen Männern, die in den vergangenen zwei Monaten
wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt worden sind, stehen Ehefrauen, Familienmitglieder, Kollegen und Freunde, die nicht begreifen können, dass der Mensch, den sie lieben, derart abscheuliche Taten begehen konnte.
Letzte Woche fragte die Moderatorin Savannah Guthrie in der amerikanischen “Today Show” mit zitternder Stimme: “Was tut man, wenn bekannt wird, dass man einen Menschen liebt, der eine schlimme Tat begangen hat?”
Sie hatte nur wenige Stunden zuvor erfahren, dass ihr Co-Moderator Matt Lauer wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung entlassen worden war. Auch die
Moderatorin Gayle King hatte eine ähnliche Frage gestellt, nachdem Charlie Rose, ihr ehemaliger Co-Moderator bei der amerikanischen Morgenshow “CBS This Morning”, von acht Frauen wegen sexueller Übergriffe angeklagt worden war.
Und die amerikanische Komikerin Sarah Silverman sagte zu den Vorwürfen gegen den Comedian Louis C.K.: “Kann man einen Menschen lieben, der ein Verbrechen begangen hat?”
In Fällen von sexuellem Missbrauch erleiden die Opfer fast immer das schlimmste Trauma. Viele von ihnen wurden von Menschen belästigt, die sie persönlich kannten und denen sie vertraut hatten. Da sexuelle Belästigung jedoch weite Kreise zieht, kann sich das Trauma auch auf die engsten Freunde und Familienmitglieder (und in Fällen von berühmten Persönlichkeiten sogar auf die Fans) der Täter ausdehnen.
Diese Angehörigen, die häufig als “Sekundäropfer” bezeichnet werden, müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie eine Beziehung weiterführen wollen, die ihnen jetzt verlogen vorkommt.
Garcia stant zwischen Liebe und Abscheu
Als Maureen Farrell Garcia im Jahr 2000 herausfand, dass ihr damaliger Ehemann ein junges Mädchen aus ihrer Verwandtschaft sexuell missbraucht hatte, hegte sie gemischte Gefühle. “Ich war wütend auf diesen Mann, der damals noch mein Ehemann war, und ich hatte auch Angst vor ihm”, erzählte die 47-Jährige, die an einem New Yorker College literarisches Schreiben unterrichtet.
“Ich war jedoch auch traurig, weil mir klar wurde, dass alles, woran ich geglaubt hatte, plötzlich in Frage gestellt wurde und dass sich von nun an mein ganzes Leben verändern würde.”
Ein Pastor hatte Farrell Garcias Exmann davon überzeugt, sich selbst bei der Polizei anzuzeigen. Die Polizisten hätten Verständnis führen ihren Mann gehabt, erzählt Farrell Garcia. Da er die Straftat von sich aus gestanden hatte, musste er nicht ins Gefängnis. Stattdessen erhielt er eine Bewährungsstrafe und er musste an einer Gruppentherapie teilnehmen.
Er zog jedoch trotzdem aus dem Haus aus, in dem er gemeinsam mit seiner Frau und seinen 8 und 10 Jahre alten Töchtern gelebt hatte. Und obwohl Farrell Garcia ihren Mann für seine Taten verabscheute, standen diese Gefühle im Konflikt mit ihrer Liebe zu dem Mann, den sie als Teenager kennengelernt hatte, und mit dem sie jahrzehntelang ein schönes Leben geteilt hatte.
“Man kann es nicht einfach abstellen, wenn man jemanden so lange geliebt hat”, sagte sie. “Man befindet sich in einer Position, in der man zur selben Zeit zwei völlig gegensätzliche Emotionen wahrnimmt, und das ist ein grauenhafter Zustand.”
Teilweise fragte Farrell Garcia sich, ob ihr Exmann durch eine Therapie nicht vielleicht doch wieder in sein altes Leben zurückkehren könnte. Auf der anderen Seite dachte sie sich jedoch: “Ich glaube nicht, dass er wieder normal werden kann. Ich bin fertig mit ihm.”
Angehörige sind im ersten Moment verwirrt
Nach Angaben von Experten ist es nichts Ungewöhnliches, dass die Angehörigen von Sexualstraftätern zwischen ihren Gefühlen von Liebe und Abscheu hin- und hergerissen sind. “Wie würde es dir gehen, wenn dein Bruder
wegen sexueller Belästigung oder sexuellen Missbrauchs angeklagt werden würde?”, fragte Brian Pacheco, Leiter der Kommunikationsabteilung bei Safe Horizon, einer New Yorker Organisation, die Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt betreut.
“Es ist vollkommen normal, dass die Angehörigen im ersten Moment verwirrt sind und hin- und herschwanken zwischen ‘Was für ein schrecklicher Mensch er/sie nur ist, dass er/sie so etwas tun kann’ und ‘Ich will den Kontakt zu ihm/ihr nicht abbrechen’. Es ist wichtig, dass die Angehörigen sich bewusst mit diesem Prozess auseinandersetzen. Sie müssen ihre Entscheidung auch nicht sofort treffen.”
Dass die Gefühle eines Menschen sich letzten Endes mit der Zeit auch komplett verändern könnten, sei eine Tatsache, die viele Psychologen und Therapeuten in den Sitzungen mit ihren Patienten ansprechen würden, sagt Pacheco. Es kann passieren, dass Angehörige den Täter zwar anfänglich in Schutz nehmen, dass sie jedoch irgendwann wütend werden und sich hintergangen fühlen. Oft müssen die Angehörigen den Verlust ihrer Beziehung zum Straftäter in einer intensiven Trauerphase verarbeiten.
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“Es [war] so, als würde ich herausfinden, dass der Mensch, den ich kannte, niemals existiert hätte”, sagte Farrell Garcia. “Ich war an einem Punkt angelangt, an dem mir alles, woran ich geglaubt hatte, wie eine Lüge vorkam. Mein ganzes Leben schien nur noch ein Scherbenhaufen zu sein.”
Oft kommt es auch vor, dass Ehefrauen, Familienmitglieder und Freunde sich wegen der Taten ihres Angehörigen mitschuldig fühlen. Als Suzanna Quintana ihren Ehemann, den sie inzwischen als Sexualstraftäter bezeichnet, im Jahr 2015 verließ, fragte sie sich, inwiefern sie ihn in seinem Verhalten unterstützt hatte.
Als Quintana herausfand, dass er in der Zeit, bevor die beiden sich kennenlernten, seinen Job als Restaurantmanager wegen sexueller Belästigung verloren hatte, glaubte sie ihm, dass die Kollegin, die ihn angezeigt hatte, gelogen hatte. Sie nahm seine Entschuldigung an, nachdem er mit ihrer 16-jährigen Babysitterin geflirtet und Kommentare zur Größe der Brüste einer jungen Freundin der Familie abgelassen hatte.
Als ihre 19-jährige Mieterin sagte, dass sie ein komisches Gefühl dabei habe, dass er, ohne zu fragen, ihre Wohnung betreten habe, spielte Quintana den Vorfall herunter.
Quintana machte sich selbst Vorwürfe
“Ich klammerte mich an den Mann, den ich kannte und fand Entschuldigungen für den anderen Mann, der auch immer mal wieder zum Vorschein kam”, sagte sie. “Wir hatten eine so tolle gemeinsame Geschichte und wir liebten uns. Die Gefahr, dass mir all das genommen werden könnte, war manchmal einfach zu groß für mich.”
Quintana reichte im Jahr 2015 die Scheidung ein, nachdem ihr Mann mehrere Frauen zwischen 19 und 20 Jahren sexuell belästigt hatte. Quintana dachte anschließend viel über seine Taten nach. Sie erinnert sich, dass sie sich damals überlegt hatte: “Es gibt einige Punkte, die ich jetzt aneinanderreihen muss.
Und wo ist mein Platz in dieser ganzen Angelegenheit? Muss ich mir Vorwürfe machen und habe ich die Taten unterstützt? Ich glaube, es ist eine ganz natürliche Reaktion, dass wir Frauen uns sofort fragen, was wir bei der Sache falsch gemacht haben. Obwohl es gar nicht unsere Schuld ist.”
Frauen wie Guthrie und Silverman werden dafür kritisiert, dass sie die sexuellen Übergriffe ihrer Kollegen nicht früher öffentlich gemacht haben.
Der Vorwurf an sie lautet, dass sie den Mund gehalten hätten, weil sie ihre Karriere nicht gefährden wollten. Obwohl Pacheco der Meinung ist, dass die engsten Vertrauten die Taten von Sexualverbrechern verurteilen sollten, sobald sie etwas davon mitbekommen, kann dieser Prozess für die Angehörigen jedoch oft sehr schwierig sein.
“Wir müssen die Schuld eindeutig der Person zuschreiben, die die Tat begangen hat”, sagte Pacheco. “[Die Angehörigen] fühlen sich oft machtlos, weil sie nicht eingreifen konnten und weil sie das Geschehene nicht mehr rückgängig machen können ... es gehört jedoch auch dazu, dass man einsieht, dass man selbst keine Schuld daran trägt.”
Viele Fälle geschehen im Verborgenen
Mitglieder der Unterhaltungsindustrie bezeichneten die Fälle von sexueller Belästigung durch berühmte Täter wie Harvey Weinstein und Louis C.K. als offenes Geheimnis innerhalb der Branche. Die meisten Verbrecher sind jedoch oft sehr geschickt darin, ihre Taten verborgen zu halten.
“Viele dieser Männer sind äußerst charmant und sympathisch”, sagte die Sexualtherapeutin Alexandra Katehakis aus Los Angeles. “Jeder mag sie und sie sind der strahlende Mittelpunkt jeder Veranstaltung.”
Auch wenn es uns leichter fällt, uns Sexualstraftäter als Monster vorzustellen, die wir auf den ersten Blick erkennen, ist es in Wahrheit doch nicht ganz so einfach. Die Täter sind oft ganz normale Menschen, die mit ihren Kindern am Tisch sitzen und zu Abend essen, die Hochzeitstage mit ihren Frauen feiern und die enge Beziehungen zu ihren Geschwistern pflegen.
Aus diesem Grund kann es passieren, dass Ehefrauen und Familienangehörige sich dafür entscheiden, trotz deren Vergehen an der Seite der Täter zu bleiben, weil sie sich ihnen verbunden fühlen.
Der Psychiater Paul Fedoroff aus Ottawa leitet Selbsthilfegruppen für Ehepartner und Angehörige, die ihre Beziehung zu einem Sexualstraftäter nicht aufgeben wollen. Er erklärt den Teilnehmern, dass es möglich sei, widersprüchliche Gefühle von Liebe und Hass voneinander zu trennen.
“[Sie] haben das Recht dazu, dass sie zum Täter anders stehen als zur Tat”, so Fedoroff. “Bloß weil man seinen Mann liebt, muss das nicht auch automatisch bedeuten, dass man das Verbrechen, das er begangen hat, nicht verurteilt.”
Sexualstraftäter können sich ändern
Fedoroff sagt, dass manche Sexualstraftäter versuchen könnten, ihr Verhalten zu verändern und dass sie mit der richtigen Behandlung auch gesunde Beziehungen führen könnten.
“Es ist ein Gerücht, dass Sexualstraftäter sich nicht ändern können”, so Fedoroff. “Es ist nicht Verwerfliches daran, einen Mann zu lieben, der sich geändert hat und der jetzt niemanden mehr belästigt. Das bedeutet [jedoch] nicht, dass die Angehörigen deshalb die geschehenen Taten vergeben oder in irgendeiner Weise entschuldigen müssen.”
Wenn Sexualstraftäter sich in Behandlung begeben, sei es für sie sogar sehr hilfreich, ein unterstützendes Netzwerk um sich zu haben, sagte Katehakis. Nicht jeder Angehörige will jedoch weiterhin an der Seite eines Sexualstraftäters bleiben. Katehakis sagt, ihr Job als Therapeutin sei es, “das Selbstbewusstsein [von Ehefrauen oder Familienangehörigen] wiederaufzubauen”, damit “sie frei entscheiden können, ob sie bleiben oder lieber gehen wollen.”
Beide Varianten sind völlig in Ordnung. Pacheco glaubt jedoch, dass man seine Liebe zu einem Menschen besser mit der Verachtung gegenüber dessen Taten in Einklang bringen kann, wenn der Täter dazu bereit ist, die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen.
“Der Straftäter muss zu allererst einmal zugeben: ‘Ich habe einen Fehler gemacht und ich muss mein Verhalten ändern’”, sagte Pacheco. “Es ist schwer, weiterzugehen, wenn jemand die Verantwortung für seine Taten nicht übernimmt.”
Vanda hat sich von ihrem Vater abgewendet
Vanda konnte ihrem Vater seine Taten nicht vergeben, weil er seine Schuld niemals zugegeben hat. Durch die Therapie, die sie seit fünf Jahren macht, kam sie zu der Überzeugung, dass die Klägerin Recht hatte. Als sie jedoch mit ihrem Vater am Telefon darüber sprechen wollte, legte er einfach auf.
“Er zeigte überhaupt keine Reue”, sagte Vanda. “Wir sollten ihn als Opfer sehen und damit Ende der Geschichte.” Vanda will mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben, doch sie sagt: “Wenn er wenigstens ein bisschen Reue gezeigt hätte, dann hätten wir darüber miteinander sprechen können.”
Auch Farrell Garcia entschied sich dafür, ihren Ehemann zu verlassen, nachdem er das Mädchen aus ihrer Verwandtschaft missbraucht hatte. Die beiden haben keinerlei Kontakt mehr zueinander. Im Laufe ihrer Therapie wurde Farrell Garcia klar, dass ihr Mann ihr Vertrauen für immer zerstört hatte. Durch die Therapie hat sie jedoch auch gelernt, ihren Mann nicht nur für seine Verbrechen in Erinnerung zu behalten.
“Ich liebe ihn, so gut ich kann, und obwohl ich weiß, was er alles getan hat”, sagte sie und fügte hinzu, dass ihre Art von Liebe bedeute, dass sie ihm die Verantwortung für seine Taten gebe, statt ihm ihre Zuneigung zu zeigen und weiter mit ihm verheiratet zu bleiben.
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“Es ist leichter, mir zu denken, dass er ein schrecklicher Mensch ist. Und er ist auch ein schrecklicher Mensch. Doch wenn er zugleich nicht auch menschlich und lustig und charmant und intelligent wäre, dann hätte er es niemals geschafft, mit seinen Taten davonzukommen. Wir müssen uns also eingestehen, dass auch Sexualstraftäter diese Eigenschaften besitzen können. Er hat diese Eigenschaften einfach nur für die falschen Dinge benutzt.”
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei HuffPost US und wurde von Susanne Raupach aus dem Englischen übersetzt.
(ks)