Quantcast
Channel: Huffington Post Germany Athena
Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Wrong Turn: Warum Führungskräfte in komplexen Situationen versagen

$
0
0
Dritter Spieltag der Bundesligasaison 2012/13: Hannover 96 gegen Werder Bremen. Schon in der sechsten Minute sorgt Husztli mit einem Freistoß das 1:0. Nur vier Minuten später bereitet er mit einem Kopfball das 2:0 für Hannover vor. In der 26. Minute führt ein vermeidbares Handspiel zum 2:1 durch Elfmeter. Und in der 74. Minute, nach einem packenden Spiel, gelingt den Bremern endlich der Ausgleich. Doch in der Nachspielzeit dann der entscheidende Treffer für Hannover 96. Ein herrlicher Fallrückzieher von Huszti - und das Ding ist drin! Ein Traumtor!

Was dann passiert, wird als einer der schrägsten, unglaublichsten Momente in die Geschichte der Bundesliga eingehen.

Huszti reißt sich vor Freude das Trikot vom Leib, rennt in Richtung Tribüne, springt über die Bande und klettert auf den Zaun des Fanblocks der 96er, um sich feiern zu lassen. Kaum ist er zurück auf dem Platz, zeigt ihm Schiedsrichter Deniz Aytekin zunächst die Gelbe Karte - für das Entblößen des Oberkörpers - und dann Gelb-Rot, weil er den Zaun erklettert hat! Gerade noch bejubelt, in der nächsten Sekunde vom Platz gestellt und im nächsten Spiel gesperrt. Der arme Huszti kann es nicht fassen. Die 49 000 im Stadion ebenso wenig.

Diese Geschichte ist vor allem deshalb so kurios, weil jeder im Stadion nach diesem Spielverlauf und dem spektakulären Siegtreffer Husztis ausgelassenen Jubel nachvollziehen konnte.

Niemand sah darin etwas Strafbares. Weder wurde ein Gegenspieler gefährdet, noch gab es ein unsportliches Verhalten. Die Entscheidung des Schiedsrichters war nicht hart, sie war absurd ... doch halt!

Wrong Turn!

Deniz Aytekin traf überhaupt keine Entscheidung! Der Schiedsrichter »entschied« nichts, sondern wandte schlicht und einfach die Regeln an: »Mir blieb gar nichts anderes übrig, als das durchzuziehen«, lautete später sein Kommentar, in dem hörbares Bedauern mitschwang.

Regeln betonieren Wenn-dann-Beziehungen. So wie alles, was auch in Organisationshandbüchern verzeichnet ist. Dort ist eine klare Abfolge von Ereignissen und Reaktionen festgeschrieben, die wenig bis gar keinen Spielraum für »Entscheidungen« lässt! Ein Oder, Ob oder Vielleicht gibt es nicht. Fallrückzieher in der letzten Spielminute rechtfertigen da keine Sonderregel. Das Wenn-dann-Prinzip kennt nur den Weg der geradlinigen Exekution, wie die Umstände sich auch immer entwickelt haben mögen.

Der Knackpunkt ist: Wenn wir uns - ob nun als Schiedsrichter oder als Top-Entscheider - nach solchen Regelwerken richten, dann entscheiden eben gar nicht wir selber. Dann sind wir weder Richter noch Entscheider, sondern eher eine Art Vollstrecker. Wir überlassen dem jeweiligen Modell von vornherein die Entscheidungskompetenz. Oder noch genauer: Jemand denkt und entscheidet im Voraus, indem er die Regeln beschließt und für gültig erklärt. Von diesem Moment an sind das Denken und Entscheiden der anderen ausgeschaltet. Der Stein rollt ins Tal, komme, was da wolle.

Inzwischen haben wir uns mit einer ganzen Armada solcher Entscheidungsvernichtungsinstrumente umgeben: feste Prozesse, fixierte Umsatz- und Kostenpläne, turnusgerechte Mitarbeitergespräche, Checklisten, Gesprächsleitfäden, Beförderungsrichtlinien, Stellenbeschreibungen, Besprechungsregeln, Reisekostenverordnungen usw.

Unternehmen und Organisationen, die sich solchen Modellen und Handlungsmustern unterworfen haben, sind nichts anderes als Kugelbahnen: Oben kommt die Kugel rein - unten kommt sie raus. Klick-klack. Immer dieselbe Bahn. Immer dieselbe Wendung.

Darauf werden wir schon von klein auf getrimmt: Für Schulen existieren verbindliche Lehrpläne, die für jede Klassenstufe klar definierten Lernstoff festschreiben. Unterschiedliche Entwicklungs- und Wissensstände der Schüler in der gleichen Klassenstufe? Interessieren den Lehrplan nicht. Besonderheiten der Schulklasse, zum Beispiel der Anteil von Immigrantenkindern oder Hochbegabten? Fehlanzeige. Besondere Situationen? In der Regel nicht vorgesehen. Den Lehrern geht es nicht anders wie dem Schiedsrichter Deniz Aytekin:
Regel ist Regel, Plan ist Plan.

Trikot-Ausziehen plus Jubel am Zaun: Gelb plus Gelb-Rot. Klick-klack. 5. Klasse, zweites Halbjahr: Neandertaler. Klick-klack. Für die Überarbeitung der Preisliste ist die Vertriebsabteilung zuständig. Klick-klack. Der Sachbearbeiter im Einkauf darf nur bis 5000 Euro bestellen. Klick-klack. Für den Kauf eines Diktiergeräts braucht es die Genehmigung von oben. Klick-klack. Bei Geschäftsreisen sind öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Klick-klack.

Klick-klack. Crash.

Solche Handlungsvorgaben nenne ich »laute Modelle«. »Wenn A, dann B!« Klick-klack. Das Problem dabei: Diese Vorgaben regeln alles und lenken alles in gewohnte Bahnen. Wir haben es mit einem Automatismus zu tun, der jeden Fall, jedes Ereignis und jede Konstellation gleich behandelt. So wie eine Ampel stur, nach einem festen Rhythmus den Verkehr regelt. Das Modell hat eine neue Rolle bekommen: Es ist so »laut«, dass es befiehlt.

Leider können Modelle nicht denken, egal, wie laut oder leise sie sind. Wozu auch? Klick-klack.

Ein brauchbares Modell für komplexe Situationen dagegen muss stumm sein, ein sich selbst regulierendes System wie der Kreisverkehr oder gleich noch besser ganz ohne jegliche Verkehrsschilder wie im niedersächsischen Bohmte. Das heißt konkret: Soll es für komplexe Situationen taugen, dann darf ein Modell höchstens ein Werkzeug sein, das beim Denken hilft - aber es darf niemanden davon entbinden, selber zu denken. Vor allem aber darf ein brauchbares Modell keine Regeln aufstellen. Der immense Vorteil »stummer Modelle« liegt darin, dass sie den Benutzer nicht erblinden lassen. Im Gegenteil - sie weisen ihm Verantwortung zu und gewähren ihm so die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, schlauer zu werden.

Wenn Sie es dagegen vorziehen, in blindem Glauben laute Modelle anzuwenden, verfallen Sie einer Art Modell-Autismus. Das Modell zwingt Sie dazu, sich auf den Rücken zu werfen und die Beine anzuziehen. Wie ein Käfer, der sich tot stellt. Oder Sie verkommen zum bloßen Statisten. Sie stehen nur rum. Dann allerdings braucht ein Unternehmen auch kein teures Management mehr.

Lars Vollmer, Unternehmer und Berater, ist Autor von „Wrong Turn Warum Führungskräfte in komplexen Situationen versagen", Orell Füssli April 2014

Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>