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So kompliziert war ein Umzug in den Westen, bevor die Mauer fiel

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De facto gab es an diesem sogenannten Wahlsonntag im Herbst 1954 nur eine offene Stimmabgabe, ohne Wahlkabine und ohne Ankreuzen einer von mehreren Parteien. Es gab nur ein „Ja" oder ein „Nein" für die Kandidaten der Nationalen Front.

Ich hatte meine Mutter politisch noch nie so erregt erlebt wie an diesem Tag. „Wenn ein Staat so etwas als Wahl bezeichnet, ist er noch zu ganz anderem fähig!", empörte sie sich.

Wie wahr! Obwohl zu dieser Zeit wohl noch niemand an den Bau einer Mauer quer durch Berlin dachte.
Es waren also weder freie noch geheime und somit keine demokratischen Wahlen. Es blieb eine Farce, eine „Wahl" jenseits echter Alternativen, aber mit fassadendemokratischem Anstrich.

Das war die Meinung bei uns zu Hause. Und in der Schule? Wenig später nach dem für uns so entscheidenden Sonntag schrieb ich in Gemeinschaftskunde folgende Hausarbeit über die Volkskammerwahl 1954:

„Das Ergebnis der Volkswahlen vom 17. Oktober zeigt die Bejahung der Politik unserer Regierung durch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Der Sieg der gemeinsamen Liste der Nationalen Front ist ein Beweis dafür, dass die Regierung der DDR auf dem richtigen Wege ist.

Dieser Weg ist der Weg des Friedens, der Freundschaft zu den Nachbarvölkern und
ein Weg zur friedlichen Verständigung der Deutschen. 99 Prozent der Bevölkerung der DDR und Ost-Berlins stimmten gleichzeitig gegen die von Adenauer betriebene Wiederaufrüstungspolitik
der Bundesrepublik und der Vorbereitung eines neuen Krieges gegen das Lager des Sozialismus.

Der 17. Oktober zeigte den Imperialisten ihren mächtigen Feind. Dieser Feind der Imperialisten und Monopolherren sind die 11 Millionen Deutschen in unserer Republik, denn sie wussten, um welche wichtige Entscheidung es bei diesen Wahlen ging: nämlich um die Entscheidung zwischen dem Lager des Friedens und der Verständigung und dem Lager des Krieges.

Wer gegen die Kandidaten unserer Nationalen Front stimmte, gab seine Stimme den Kräften, die gegen das eigene Volk sind und Kriege vom Zaune brechen. Unser Bekenntnis zu den Grundprinzipien der Nationalen Front war und bleibt ein Bekenntnis zur Friedenspolitik unserer Deutschen Demokratischen Republik. Auch die 2. Volkskammer wird den richtigen Kurs der DDR bestätigen."

Verfasst hatte ich den Text so, wie man ihn von uns erwartete. Das war auch bei den meisten anderen Schülern jahrelang eingeübte und inzwischen nahezu perfekt gehandhabte opportunistische Praxis, Lippenbekenntnisse mit den üblichen Phrasen.

Von einem ging ich allerdings aus: Die Regierung macht den Frieden, die Völkerfreundschaft und die deutschdeutsche Verständigung zum festen Bestandteil ihrer Politik. Von diesen hohen Zielen war auch ich überzeugt.

In dieser Zeit bereiteten meine Eltern unseren Weggang vor. Die Firma Siemens und Halske, in der mein Vater seit über 20 Jahren als technischer Angestellter arbeitete, unterstützte dieses Vorhaben. Die Personalabteilung hatte ihm schon lange bescheinigt, sich zu einer spezialisierten Fachkraft
auf dem Gebiet der Fernmeldetechnik entwickelt zu haben.

„Wir sind deshalb daran interessiert, einem potenziellen Ausfall vorzubeugen und würden es begrüßen, wenn Herrn Willy Schülke mit Familie die Zuzugsgenehmigung für West-Berlin erteilt werden würde."

Folglich stand der Arbeitgeber einem Umzug von Anfang an wohlwollend gegenüber. Das Landesarbeitsamt in West-Berlin SW 68 Kreuzberg erteilte Vater am 11. Januar 1955 eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Zuzugsstelle des Wohnbezirksamtes.

Darin stand: „Die Erteilung der unbefristeten Zuzugsgenehmigung aufgrund des § 4 Ziffer 1 des Zulassungsgesetzes wird im Rahmen der für Schlüsselkräfte vorgesehenen Kontingente befürwortet.
Nach Erhalt der Zuzugsgenehmigung, die von der Zuzugsstelle des zuständigen Bezirksamtes erteilt wird, ist diese dem Facharbeitsamt I, Berlin-Wilmersdorf, Breitenbachplatz 2, zur Registrierung vorzulegen."

Am 25. Juli 1955 erfolgte die Genehmigung, nachdem am 30. Juni 1955 das „bis zum 2. Juli 1955 befristete Zuzugsversprechen" vom Bezirkseinwohneramt Charlottenburg verlängert worden war. Der Bezirk Charlottenburg war zuständig.

In diesem Bezirk hatten sich meine Eltern schon lange vorher bei Verwandten polizeilich mit Zweitwohnsitz angemeldet. Ich bekam eine unbefristete Zuzugsgenehmigung vom Bezirksamt Spandau mit Wirkung vom 30. Juli 1955 „gemäß § 4/5 des Gesetzes über den Zuzug nach Berlin vom 9. Januar 1951 (VOB I S. 84)".

Neben der Zuzugserlaubnis und einer polizeilichen Anmeldung wurde der Mietvertrag mit der Wohnungsbaugesellschaft nur „unter Vorbehalt der Genehmigung des Wohnungsamtes" abgeschlossen. Das Bezirksamt Spandau schickte am 21. Juni 1955 an den bevollmächtigten Verwalter des Hauseigentümers folgendes Schreiben:

„Auf Ihren Antrag erklären wir uns gemäß § 14 des Wohnraumbewirtschaftungsgesetzes
mit der Benutzung der im Hause Berlin-Siemensstadt ... Vorderhaus... gelegenen - bezugsfertigen - 3-Zimmer-Wohnung Neubau durch Herrn Schülke mit 3 Angehörigen einverstanden."

Damit stand seitens der westlichen Behörden unserem Umzug nichts mehr im Wege. Weil die komplizierte bürokratische Praxis offenbar ein gesamtdeutsches Phänomen war, beleuchte ich nun eingehend auch die andere Seite.

Eins sei an dieser Stelle aber noch angemerkt: Bei einem sicheren Studienplatz an der Humboldt-
Universität hätte ich offiziell ein Zimmer bei meiner lieben Omi am Arkonaplatz im Ost-Berliner Stadtbezirk Mitte bewohnt. Ständige Aufenthalte bei den Eltern im Westen wären ohnehin möglich gewesen.

Unser Umzugstransport aus der Hauptstadt der DDR nach West-Berlin musste rund sechs Monate vorher beantragt werden. Ferner musste man sich einem langwierigen bürokratischen Verfahren unterziehen. Wir taten beides ohne Murren.

So waren „Anträge auf Transportgenehmigung für Umzugsgut vom demokratischen Sektor nach West-Berlin" dem Magistrat von Groß-Berlin, Abt. für Innere Angelegenheiten, Innerdeutscher
Handel, Bln C 2, Altes Stadthaus, Eingang Stralauer Straße, einzureichen. Im Detail nannte man
8 Hauptpunkte, die als Unterlagen beizufügen sind. Punkt 1:

„Umzugsgut-Aufstellung in dreifacher Ausfertigung. Alle Gegenstände sind einzeln aufzuführen und fortlaufend zu nummerieren. Bei technischen und industriellen Erzeugnissen (wie Staubsauger, Kühlschränke, Möbel) ist die Lieferfirma sowie das Anschaffungsjahr ... anzugeben und außerdem der Eigentumsnachweis durch Beifügung der Rechnungen zu erbringen.

Können Rechnungen nicht vorgelegt werden, muss durch die Unterschrift eines Bürgen bestätigt werden, dass die Gegenstände Eigentum des Antragstellers sind". Unter Punkt 7
stand: „Bescheinigung des Arbeitgebers über das Einverständnis zum Umzug resp. die Notwendigkeit des Umzugs, mit genauer Angabe über Tätigkeit, Beginn und evtl. Beendigung des Arbeitsverhältnisses".

Daneben war eine eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben, dass die mitgeführten Sachen zum persönlichen Gebrauch bestimmt sind und keine Handelsware darstellen und dass dieselben nicht von anderen Personen benutzt werden, nicht gewerblichen Zwecken dienen und auch nicht gepfändet oder beschlagnahmt sind.

Kann es ein eindrucksvolleres Dokument deutscher Bürokratie geben? Trotz alledem, es ist im Leben fast alles relativ. Was hätte manche Flüchtlingsfamilie nicht alles dafür gegeben, um auch nur einen Bruchteil ihres Mobiliars mitnehmen zu dürfen!

So trugen wir einen Gegenstand nach dem anderen akribisch in Listen ein, vom 2,5 Meter langen Kleiderschrank bis hin zum kleinsten Taschentuch aus Kunstseide. Das Umzugsgut stand auf mehreren Listen mit 186 Positionen.

Position 39 lautete: „1 Küchenpendellampe mit gebrauchter Birne". Geradezu originell die Nummer 73: „Schlitten mit Apothekenschrank zusammengebunden". Bei den Nummern 76 bis 179 handelte es sich um genehmigungspflichtige Bücher. Bei politisch nicht ganz astreinen Büchern gingen wir auf Nummer sicher und brachten sie schon frühzeitig zu Vaters Schwester in den Westen.

Nachdem die via S-Bahn schon nach drüben transportierten Bücher sich bei den Verwandten auf dem Fußboden in der Küche stapelten, glaubten wir, die Selektion sei erfolgreich beendet. Meine
Eltern legten die von uns als lupenrein eingestufte Bücherliste vor.

Aber es war doch noch ein Haar in der Suppe. Als einziges Werk sollten wir ausgerechnet „Münchhausen" vorlegen. Warum? Weil der Drehbuchautor zum gleichnamigen Film sich seinerzeit zum Nationalsozialismus bekannt hätte, hieß es.

Beim dritten Besuch nun Buchabgabe! Die Position 178 war in der Liste gestrichen worden. Jedes Utensil in Vaters Werkzeugkasten hatten wir einzeln vermerkt, also 1 Hammer, 2 Kneifzangen ... Aber das reichte noch nicht.

„Wie viele Schrauben und Nägel?" fragte tatsächlich der Bürokrat. Darauf mein äußerlich ruhiger Vater: „Soll ich die etwa zählen?" - „Nein", entgegnete der penible Büromensch, „nur so ungefähr angeben, ob es 100, 200 oder mehr Gramm sind." Auch dies wurde anschließend zu Hause geprüft
und wahrheitsgetreu notiert.

Und endlich, nach Monaten permanenter, nahezu perfekter Privatinventur war der Umzug von Berlin nach Berlin genehmigt.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:
Eine Berliner Schulzeit im heißen und im kalten Krieg" von Klaus W. Schülke, 128 Seiten, viele Fotos,
Sammlung der Zeitzeugen (73). Zeitgut Verlag, Berlin. Broschierte Ausgabe, ISBN 978-3-86614-155-1, Euro 9,90
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