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Wie ich über Ungarn in den Westen floh

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Wir laufen schon eine ganze Weile. Irgendwo hier muss die Grenze doch sein?! Die Nachmittagssonne steht hoch an diesem 20.August 1989. Der Wald ist hier in der Nähe von Sopron (Ödenburg) wie solch ein Wald auch in der DDR sein könnte.

Wichtige Fragen gibt es für uns hier und heute: Wo sind gerade die ungarischen Grenzsoldaten und wo die Wachtürme? Gibt es in diesem Wald Stacheldraht oder gar Minen?

Bisher hat unsere Gruppe gar nichts von dem gesehen. Wir, das sind ca. 50 Personen, wohl eher zufällig in dieser ungarischen Dorfkneipe in Grenznähe auf ungarischer Seite des Neusiedler See. Darunter sind wir 3 Freunde, die jetzt im Gänsemarsch in Richtung Nirgendwo starten. Sicher ist das hier organisiert, aber von wem? Das fragen wir uns noch heute.

Bunt gekleidet, kurze Hosen, ohne Proviant, ohne Getränke gegen den Durst. Eine Wanderung eben genau so, wie wenn man zufällig irgendwo vorbei kommt und einem klar wird, das ist eine/die Chance etwas wirklich Einmaliges zu sehen.

Es sah in diesem Fall nach einer Massen-Flucht aus, irgendwie. Ein geheimer Wunsch konnte also wahr werden. Aber nur jetzt!

Eine Gruppe von so viel Personen, wohl alles DDR-Bürger, gibt auch eine gewisse Sicherheit, wenn es denn doch schief geht. Kennen wir ja: geteiltes Leid ist halbes Leid.

Und dann, nach einem Marsch von ca. 45 Minuten, kam von der Gruppenspitze die Info: Jetzt sind wir drüben. Ihr könnt wieder sprechen, sogar rauchen - wer will...

Auf einmal waren wir also in ÖSTERREICH. Unfassbar. Unfassbar einfach. Unfassbar leicht. Ade Ungarn. Ade Sozialismus. Ade Freunde in der DDR.

Ade Eltern. Wir sehen uns dann spätestens 2004 wieder, wenn Ihr, Vater und Mutter, Rentner seid und Reisen dürft. In die große weite Welt und in den anderen Teil unseres geteilten Landes. West-
geld werde ich Euch dafür jetzt geben können. Jetzt werde ich also vor Euch dort sein, mit erst 28 Jahren. In der Bundesrepublik Deutschland - dem „Westen".

Beim ach so bösen Kapitalismus. Und wo es so gut riecht, wenn unsere Wahrnehmung aus dem „Intershop" uns nicht täuschen.

Manche, die zu DDR-Zeiten schon mal besuchsweise „drüben" waren sagten uns immer: Im Westen ist sogar das Gras grüner. Leute gibt es...

Wenn man, wie wir, zu Dritt diesen Weg gen Westen geht und noch jemanden hat, der einem Unterstützung und ein Ziel mit erster Unterkunft (Stuttgart) bietet, dann ist die Ungewissheit nicht ganz so groß.

Mörbisch am See, gemeint ist der Neusiedler See, stand auf dem weißen Ortsschild mit schwarzer Schrift, welches wir nach unserer folgenreichen Wanderung sahen. Was erwartet uns jetzt in Österreich? Wie geht es jetzt weiter? In Österreich. Im Westen Deutschlands. Im (neuen) Leben? Gespannte Erwartung.

Auch Freude, natürlich. Über das Glück, dass ich noch gar nicht fassen kann. Vor einem Jahr ist mein Kumpel beim privaten Fluchtversuch in Ungarn gefasst worden. Die Konsequenz: Auslieferung von Ungarn an die DDR. Verurteilung wegen Republikflucht. DDR-Knast für ihn.

Wie schnell sich Weltpolitik ändern kann.

Auf der von den Österreichischen Behörden organisierten Busreise von Mörbisch am See nach Wien, wir bekamen nach der Aufnahme unserer Personalien Busse gestellt, konnte ich es mit eigenen Augen sehen: die Häuser hatten schicke Fassaden, die Strassen waren gemacht und ohne Löcher, die Fußwege waren gepflegt und das Gras war... grüner...! Ich kann es noch heute beschwören.

In Wien empfing uns die Deutsche Botschaft. Die Botschaft war voller Ex-DDR-Bürger. Fast alles junge Leute. Der Exodus der DDR hatte begonnen und nahm Ausmaße an. Es ist immer beängstigend für ein Land, wenn ihm die Jugend weg läuft!

Und es waren in meiner Wahrnehmung durchweg „vernünftige Leute", viele mit kleinen Kindern. Die personelle Zukunft der DDR verließ das Land, welches sich als Gewinner der Geschichte sah?!

Und ein Ende der Schlange der Ausreisenden war nicht abzusehen, denn das Aufnahmelager in Gießen war schon Ende August voll.

So schickte man uns, nachdem wir unsere 200 Schilling (Kurs D-Mark zu Schilling damals 1:7) Begrüßungsgeld zur Feier des Tages in echtes Gösser-Bier eingetauscht hatten und einer von der deutschen Botschaft organisierten Nacht im Studenten-Hotel AQUILA, Zimmer 389, mit einem vollen Sonderzug ab Wien (Abfahrt 21.25 Uhr) in Richtung Deutschland-West. Über Passau und Aschaffenburg kamen wir im beschaulichen 7.000 Einwohner Städtchen Schöppingen in Westfalen, unserer nächsten Station, an.

Danke an dieser Stelle noch mal an den unbekannten freundlichen Herren auf dem Bahnhof in Aschaffenburg der mir früh um 5, ich war sehr neugierig auf das neue Land..., einen echten 20 D-Mark-
Schein einfach so in die Hand drückte, als ich beim kurzen Halt auf dem Bahnhof zufällig aus dem Zugfenster schaute, um erstmals in meinem Leben Aschaffenburger Luft zu schnuppern.

Das Aufnahmelager in Schöppingen, eigentlich eine 1987 geräumte NATO-Kaserne, gedacht für Spät-
Aussiedler aus Russland, wurde jetzt Zwischenstation für uns Landsleute aus dem Osten.

Über uns Ostdeutsche als temporäre Gäste war man im Ort nicht traurig. So die Reaktionen in der dortigen Kneipe, die wir mit unseren paar Kröten, wir bekamen wieder ein Begrüßungsgeld, still, leise und schüchtern besuchten.

Natürlich fiel es auf, wenn 3 Nicht-Einheimische in der kleinen Stadt Schöppingen erstmals in einer dortigen Kneipe sind. Danke für das Bier, dass Ihr uns Dreien dort spendiert habt.

Aufnahme der Personalien, Ausgabe Begrüßungsgeld (200 DM), Befragung durch Sicherheitsorgane des Bundes, Orientierungshilfe für Übersiedler ohne konkretes Ziel, Ausgabe der Bahnfahrkarten für die Zielgerichteteren - dafür steht für mich im Nachhinein Schöppingen.

Am 25.08. bekam ich (m)eine Bahnfahrkarte nach Stuttgart, meinem ersten Ziel. Und durfte damit u.a eine Bahnfahrt entlang dem Ufer des Rheins genießen. Was uns die DDR so alles vorenthalten wollte, dachte ich mir so. Ich habe wohl fast die ganze Bahnfahrt am Fenster gestanden, um so wenig wie möglich zu verpassen.

Stuttgart wollte der Zufall und wäre sicher nicht meine erste Wahl gewesen, wenn ich freie Wahl hätte. Aber hier waren zum Glück für mich Freunde und Bekannte, die meinen Start deutlich erleichterten.
Das war mir klar und wichtig.

Was macht also ein Diplomsportlehrer aus Leipzig, ohne große Berufserfahrung, der Studienabschluss war erst 3 Jahre her, im Kapitalismus, fragte ich mich? Was kann ich? Was will ich? Welche Kompromisse bin ich breit einzugehen?!

Aktuell arbeitslos - klar, wohnen durfte ich bei Freunden, musste ich jetzt selbst aktiv werden, um bald unabhängiger zu werden. So hatte ich es aber auch erwartet.

Ich nahm sehr bald das Angebot des Arbeitsamtes an und ließ mich zum Industriekaufmann umschulen. Mein 3. Beruf und diesmal vielseitig verwendbar. Erfolgreicher Abschluss nach 1,5 Jahren bei der IHK Stuttgart. Sportlehrer wie mich, von der DHfK, brauchte man offensichtlich nicht so zahlreich, wie das mit DDR-Brille zu vermuten wahr....

Als Sport- und besonders Fußballinteressierter durfte ich jetzt hautnah den Bundesligafußball erleben. Wohl jeder Fußballinteressierte in der ehemaligen DDR hatte, gleichzeitig zu seinem Favoriten im DDR-Fußball, auch seine Lieblings-Westmannschaft.

Meine Premiere war dann auch bereits im September der Besuch des Spiel des VfB Stuttgart gegen „meinen" FC Bayern München (2:1) im Stuttgarter Stadion, das damals noch Neckarstadion hieß. Fußballgenuss für 15 D-Mark. Fußballtechnisch war ich also im Westen angekommen.

Über den Sport, ich suchte gesellschaftliche Kontakte im neuen Umfeld und trainierte bald eine Kindergruppe bei einem Wasserballverein in Stuttgart-Bad Cannstatt, bekam ich auch einen Praktikumsplatz in einer Firma, die meine erste Festanstellung im Westen werden sollte. Ich war also auch im Berufsleben angekommen.

Und ich machte mich offensichtlich im neuen Beruf nicht so schlecht, da man mir einen Job als Niederlassungsleiter im Osten des neuen, größeren Deutschland an bot, um den Vertrieb für die Firma regional und vor Ort anzukurbeln.

Nach nur 3 Jahren Abwesenheit aus der DDR war ich schließlich und endlich Ende 1992 wieder in Leipzig angekommen, dem eigentlichen Startpunkt meiner geplanten Urlaubsreise nach Bulgarien, die nur bis Ungarn führte und in Stuttgart endete, weil es die Weltpolitik zufälliger-
weise gerade möglich machte.

Fazit 1: Nein, es war letztlich kein Spaziergang! Immerhin war unsere Wanderung am 20.08.1989, ein Tag nach dem Paneuropäischen Picknick, mein 3. Fluchtversuch in Ungarn. Der 1. Versuch wurde wegen zu starker Grenzkontrollen in einer anderen Region in Ungarn von uns bewusst abgebrochen.

Beim 2.Versuch wurden wir zwar gefasst, aber wieder laufen gelassen. Zum Glück waren die Ungarn im August 1989 schon sehr großzügig im Umgang mit ostdeutschen Flüchtlingen.

Und: Nach meiner Zeit der Arbeitslosigkeit in der DDR im Frühjahr 1989, nach Berufsverbot in der DDR-Sportorganisation DTSB und dem Erleben von 6 Stunden Stasi-Verhör in Berlin-Hohenschönhausen, nach den Zeiten der Hoffnungslosigkeit in meine Zukunft in der DDR habe ich mir den letztlichen Erfolg bei der Flucht redlich verdient, finde ich.

Fazit 2: Ich habe meinen Umweg nie bereut! Nicht jeden der zu spät kommt, den bestraft das Leben! Früher oder später holt die historische Gerechtigkeit sogar ganze Länder ein.

Danke Österreich! Danke Ungarn! Köszönöm! & Viszontlátásra! Danke & Auf Wiedersehen!

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