"Über die Schwierigkeit, eine Gesellschaft aufzuklären, die sich für aufgeklärt hält."
Hartmut von Hentig
Wenn die linke Hand nicht weiß (oder will), was eigentlich die rechte tut (oder tun will), entsteht nur allzu leicht der Vorwurf der Doppelbödigkeit, gerne sogar der Heuchelei.
Dieser Vorwurf muss nicht unbedingt zutreffen, schließlich wäre auch schlichter Mangel an Gehirn, komplettes Versagen der zentralen Steuerungsorgane eine Erklärungsmöglichkeit. Aber fest steht doch, dass ein scheinbar unkontrolliert zuckendes Wesen, zumal wenn es sich um ein Staats-Wesen von einiger Größe und Bedeutung handelt, auf der Weltbühne, d.h. in Gesellschaft und unter Beobachtung aller Völker nicht unbedingt die beste Figur abgibt.
Deutschland, so glaube ich, die deutsche Nation leidet an einem Identitätsproblem. So sehr, dass uns kaum mehr ins Bewusstsein dringt, dass wir überhaupt an etwas bzw. gerade daran leiden. Doch unter der wirtschaftlich prosperierenden Oberfläche bleibt weiterhin enorm vieles ungeklärt und versteckt.
Leider haben wir ja im wahrsten Sinne des Wortes sehr viele Leichen im Keller. Und wenn sich die bis heute damit einhergehende, tiefe Persönlichkeitsstörung innenpolitisch gerade noch überdecken und kompensieren lässt, außenpolitisch bricht sie offen hervor.
Die Folge: ohne - zugegebenermaßen schwierige - Schärfung deutscher Identität, keine wesentliche Neuausrichtung und Handlungsfähigkeit deutscher Außenpolitik! Jedenfalls keine mit Rückhalt im (souveränen) Volk, Stichwort postdemocracy. Aber auf eben diesen kommt es Veranstaltungen wie der Review 2014 doch an. Oder stehen wir auch hier an einer Epochenschwelle?
Fraglich ist jedenfalls, ob wir eine allzu handlungsfähige Außenpolitik überhaupt wollen sollen. "Einig nach innen, stark nach außen", war ein zentraler Leitspruch Hitlers, dem er seine Innenpolitik kategorisch unterordnete. Ist aber in einer pluralistischen Gesellschaft ohne allzu viele verpflichtende gemeinsame Vorstellungen, nicht eine gewisse außenpolitische Zerfahrenheit so unvermeidlich wie prinzipiell auch begrüßenswert?
Ist sie nicht einfach Ausdruck großer individueller Freiheiten, die in einem solchen Lande herrschen? Ein gewissermaßen notwendiger Systemfehler liberaler Gesellschaften also? Ist solche Zerfahrenheit nicht jedenfalls relativ viel besser, als ungehindert, weil mit sicheren Mehrheiten im inländischen Rücken, auftrumpfen zu können, auch wenn, wie Bundespräsident Gauck auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz feierlich versicherte, "dies heute ein gutes Deutschland ist"? Können wir uns dessen dauerhaft wirklich so sicher sein?
Joachim Fests skeptische Einschätzung, dass "Hitlers wirkliches Vermächtnis", das gerade kein moralisches ist (Zeit Online, 12.9.06), in Deutschland weitgehend unerfasst sei, wäre immerhin ernst zu nehmen. Denn die "Bedingungen für totalitäre Einbrüche [...] sind heute, unter anderen Vorzeichen, nahezu unverändert gegeben. Sie sind eine Begleiterscheinung entwickelter Gesellschaften, die nach Lebenslügen verlangen."
Eine größere Lebenslüge als den in Deutschland weit verbreiteten Irrglauben, der eigenen Geschichte entrinnen zu können, indem man mit ihr einfach nichts mehr zu tun haben will bzw. sich ihr moralisch haushoch überlegen wähnt, lässt sich allerdings kaum denken! Ein neuer Hitler wird in anderer Gestalt auftreten und sicherlich nicht die Dummheit begehen, sich ausgerechnet auf Hitler zu berufen. An diesem Punkt insbesondere greift von Hentigs eingangs zitiertes Motto.
Kurzum: Müssen unsere Politiker, weil wir in einer repräsentativen Demokratie leben, also nicht einfach, wie in der Innenpolitik selbstverständlich, auch in der Außenpolitik aktiv für Mehrheiten sorgen, d.h. entsprechende Alternativen u.a. im Wahlkampf anbieten und entsprechend bei jeder Wahl neu verantworten?
Ist die damit verbundene Unsicherheit nicht einfach ganz normales Berufsrisiko, mit dem sie sich und wir uns als Bürger- gewiss zuweilen äußerst ärgerlich und unbefriedigend - schlichtweg abzufinden haben?
Wollten wir den außenpolitischen Konsens aber tatsächlich herstellen, gälte es nach meinem Urteil zwischen den beiden zentralen, noch verbliebenen, freilich im Streit liegenden deutschen Kollektividentitäten zu vermitteln: unserem Auschwitz-, wenn ich so sagen darf, und unserem Wirtschafts-Wir.
"Sie wehren sich gegen Verallgemeinerungen über den deutschen Charakter", fragte Theo Sommer, "gab es denn in Ihrem persönlichen Leben Orte, an denen Sie gespürt haben, dass Sie Deutscher sind?" - "Nein", lautete Helmut Schmidts lapidare Antwort, "außer in Auschwitz keine!"
So unangenehm diese Feststellung ist: Bilden die Folgewirkungen von Auschwitz nicht tatsächlich die einzig zuverlässig identitätsstiftende Klammer, die unsere pluralistische Gesellschaft noch eint? Jeder Deutsche, sei er noch so individualistisch, selbstverwirklichend, kennt wohl die entsprechende Scham, Betroffenheit oder das häufig auftretende Ohnmachts- oder gar Ungerechtigkeitsgefühl.
Die Folge ist ein gespaltenes Verhältnis zu unserem historischen Erbe: wir lehnen es instinktiv ab, können es aber unmöglich verweigern. Kein Wunder, dass wir, wie Steinmeier so treffend ausgeführt hat, Probleme mit unserer DNA haben. "Was fehlt ist [...] diese DNA, durch die wir uns auf nationaler Ebene, die schwierigen Fragen auf internationaler Ebene normativ aufschließen."
Seit sich unser Auschwitz-Wir zwischen 1958 und 1968 überhaupt verstärkt zu entwickeln begann, fiel die deutsche Geschichte endgültig als positives Identifikationspotential aus. In Verruf geraten war sie aber durch Kriegsniederlage und totalen Zusammenbruch schon früher. Nur irgendetwas brauchten die Deutschen doch, um überhaupt weiter leben zu können.
Michel Foucaults Analyse gilt bis heute: "Die Geschichte hatte den deutschen Staat verneint. Künftig wird die Wirtschaft in der Lage sein, seine Selbstbehauptung zu ermöglichen. Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum wird eine erloschene Geschichte ablösen. [...] Die wirtschaftliche Freiheit als gemeinsames Produkt des Wachstums sowohl des Wohlstands als auch des Staats als auch der Geschichtsvergessenheit."
Was das Wirtschafts-Wir also eigentlich ermöglichte, war das schlichte Überleben der deutschen Nation. Im Zusammenklang mit allgemeinen Liberalisierungstendenzen bedeutete es aber mehr und mehr, was sich die Deutschen nach zwei verlorenen Weltkriegen und völlig zerstörtem Land sehnlichst erwünschten: Ruhe, Ruhe vom Staat, der zuvor unablässig kollektiviert, gefordert, die Individuen in Beschlag genommen hatte.
Gleichzeitig war es immer unverzichtbarer Ersatzstoff für so essentielle Bedürfnisse wie Wir-Gefühle des Stolzes oder der Würde. Man sieht das am besten an jenen Deutschen, die vom Wirtschaftswachstum am wenigsten profitieren: den Arbeitlosen. Auch sie, obwohl sie gar nicht daran mitarbeiten (können), sind stolz auf die deutsche Wirtschaftskraft. Gleichzeitig, wird immer wieder berichtet, fühlen sie sich in ihrer Würde nachdrücklich zurückgesetzt, regelrecht minderwertig im Umgang mit Berufstätigen.
Das Auschwitz-Wir stellt uns also moralische Forderungen. Das Wirtschafts-Wir erfüllt uns mit Stolz und gleichzeitig mit Unbehagen, die moralischen Forderungen zu erfüllen. Wir wollen Ruhe haben und Wohlstand.
Zur Not, so scheint es, auf Kosten dessen, was wir für Moral halten! Andererseits sind Bundespräsidenten über der Frage zurückgetreten, ob es legitim sei, Kriege zu führen, um Wirtschaftsinteressen zu sichern (Süddeutsche Zeitung, 19.6.11).
Vielleicht bietet sich als Heilmittel deutscher Identitätsprobleme nun paradoxerweise ausgerechnet etwas an, das vielen Deutschen intuitiv als inakzeptabel befremdlich erscheint: ein aktives Engagement im Nahostkonflikt, eine nachdrückliche Friedensmission in Israel resp. den von ihm besetzten Gebieten!
Das ist eine gewagte Forderung. Doch eine Nation wächst an ihren Zielen. Und wäre der neben den unmittelbar Beteiligten besonders für Deutsche unerträgliche Nahostkonflikt als letzte offensichtliche Kriegsfolge endlich beseitigt, wäre nicht nur Deutschland von seiner schwersten Hypothek erheblich entlastet.
Vielmehr wäre auch dem Frieden in der Welt und der Stabilität einer Region gedient, die den Weltfrieden, wie Günter Grass völlig zu Recht bemerkt hat, ganz wesentlich gefährdet. Leichter gesagt, als getan! Doch eine entsprechende europäische Initiative läge in Deutschlands vitalem Interesse. Denn der besonders moralische Prestigegewinn wäre so ungeheuerlich, könnte Deutschlands Ansehen in der Welt wie im eigenen Lande so großartig steigern, dass sich mancher heute noch hochmoralisch aufgeladene Konflikt zwischen Auschwitz- und Wirtschafts-Wir künftig schlichtweg erübrigte.
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Dieser Beitrag ist einer von fünf Gewinner-Texten des „Review2014"-Essaywettbewerbs: www.review2014.de/de/wettbewerb. Im Essay-Wettbewerb wurde die Frage gestellt: "Was sollte die deutsche Außenpolitik in Zukunft tun? Und welche Ziele soll sie dabei verfolgen?"
Georg Frühschütz studiert Deutsch und Geschichte (Lehramt) an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Das von Außenminister Frank-Walter Steinmeier initiierte Projekt "Review 2014 - Außenpolitik Weiter Denken" will eine breite gesellschaftliche Debatte über Ziele, Interessen und Perspektiven deutscher Außenpolitik anstoßen: www.review2014.de
Hartmut von Hentig
Wenn die linke Hand nicht weiß (oder will), was eigentlich die rechte tut (oder tun will), entsteht nur allzu leicht der Vorwurf der Doppelbödigkeit, gerne sogar der Heuchelei.
Dieser Vorwurf muss nicht unbedingt zutreffen, schließlich wäre auch schlichter Mangel an Gehirn, komplettes Versagen der zentralen Steuerungsorgane eine Erklärungsmöglichkeit. Aber fest steht doch, dass ein scheinbar unkontrolliert zuckendes Wesen, zumal wenn es sich um ein Staats-Wesen von einiger Größe und Bedeutung handelt, auf der Weltbühne, d.h. in Gesellschaft und unter Beobachtung aller Völker nicht unbedingt die beste Figur abgibt.
Deutschland, so glaube ich, die deutsche Nation leidet an einem Identitätsproblem. So sehr, dass uns kaum mehr ins Bewusstsein dringt, dass wir überhaupt an etwas bzw. gerade daran leiden. Doch unter der wirtschaftlich prosperierenden Oberfläche bleibt weiterhin enorm vieles ungeklärt und versteckt.
Leider haben wir ja im wahrsten Sinne des Wortes sehr viele Leichen im Keller. Und wenn sich die bis heute damit einhergehende, tiefe Persönlichkeitsstörung innenpolitisch gerade noch überdecken und kompensieren lässt, außenpolitisch bricht sie offen hervor.
Die Folge: ohne - zugegebenermaßen schwierige - Schärfung deutscher Identität, keine wesentliche Neuausrichtung und Handlungsfähigkeit deutscher Außenpolitik! Jedenfalls keine mit Rückhalt im (souveränen) Volk, Stichwort postdemocracy. Aber auf eben diesen kommt es Veranstaltungen wie der Review 2014 doch an. Oder stehen wir auch hier an einer Epochenschwelle?
Fraglich ist jedenfalls, ob wir eine allzu handlungsfähige Außenpolitik überhaupt wollen sollen. "Einig nach innen, stark nach außen", war ein zentraler Leitspruch Hitlers, dem er seine Innenpolitik kategorisch unterordnete. Ist aber in einer pluralistischen Gesellschaft ohne allzu viele verpflichtende gemeinsame Vorstellungen, nicht eine gewisse außenpolitische Zerfahrenheit so unvermeidlich wie prinzipiell auch begrüßenswert?
Ist sie nicht einfach Ausdruck großer individueller Freiheiten, die in einem solchen Lande herrschen? Ein gewissermaßen notwendiger Systemfehler liberaler Gesellschaften also? Ist solche Zerfahrenheit nicht jedenfalls relativ viel besser, als ungehindert, weil mit sicheren Mehrheiten im inländischen Rücken, auftrumpfen zu können, auch wenn, wie Bundespräsident Gauck auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz feierlich versicherte, "dies heute ein gutes Deutschland ist"? Können wir uns dessen dauerhaft wirklich so sicher sein?
Joachim Fests skeptische Einschätzung, dass "Hitlers wirkliches Vermächtnis", das gerade kein moralisches ist (Zeit Online, 12.9.06), in Deutschland weitgehend unerfasst sei, wäre immerhin ernst zu nehmen. Denn die "Bedingungen für totalitäre Einbrüche [...] sind heute, unter anderen Vorzeichen, nahezu unverändert gegeben. Sie sind eine Begleiterscheinung entwickelter Gesellschaften, die nach Lebenslügen verlangen."
Eine größere Lebenslüge als den in Deutschland weit verbreiteten Irrglauben, der eigenen Geschichte entrinnen zu können, indem man mit ihr einfach nichts mehr zu tun haben will bzw. sich ihr moralisch haushoch überlegen wähnt, lässt sich allerdings kaum denken! Ein neuer Hitler wird in anderer Gestalt auftreten und sicherlich nicht die Dummheit begehen, sich ausgerechnet auf Hitler zu berufen. An diesem Punkt insbesondere greift von Hentigs eingangs zitiertes Motto.
Kurzum: Müssen unsere Politiker, weil wir in einer repräsentativen Demokratie leben, also nicht einfach, wie in der Innenpolitik selbstverständlich, auch in der Außenpolitik aktiv für Mehrheiten sorgen, d.h. entsprechende Alternativen u.a. im Wahlkampf anbieten und entsprechend bei jeder Wahl neu verantworten?
Ist die damit verbundene Unsicherheit nicht einfach ganz normales Berufsrisiko, mit dem sie sich und wir uns als Bürger- gewiss zuweilen äußerst ärgerlich und unbefriedigend - schlichtweg abzufinden haben?
Wollten wir den außenpolitischen Konsens aber tatsächlich herstellen, gälte es nach meinem Urteil zwischen den beiden zentralen, noch verbliebenen, freilich im Streit liegenden deutschen Kollektividentitäten zu vermitteln: unserem Auschwitz-, wenn ich so sagen darf, und unserem Wirtschafts-Wir.
"Sie wehren sich gegen Verallgemeinerungen über den deutschen Charakter", fragte Theo Sommer, "gab es denn in Ihrem persönlichen Leben Orte, an denen Sie gespürt haben, dass Sie Deutscher sind?" - "Nein", lautete Helmut Schmidts lapidare Antwort, "außer in Auschwitz keine!"
So unangenehm diese Feststellung ist: Bilden die Folgewirkungen von Auschwitz nicht tatsächlich die einzig zuverlässig identitätsstiftende Klammer, die unsere pluralistische Gesellschaft noch eint? Jeder Deutsche, sei er noch so individualistisch, selbstverwirklichend, kennt wohl die entsprechende Scham, Betroffenheit oder das häufig auftretende Ohnmachts- oder gar Ungerechtigkeitsgefühl.
Die Folge ist ein gespaltenes Verhältnis zu unserem historischen Erbe: wir lehnen es instinktiv ab, können es aber unmöglich verweigern. Kein Wunder, dass wir, wie Steinmeier so treffend ausgeführt hat, Probleme mit unserer DNA haben. "Was fehlt ist [...] diese DNA, durch die wir uns auf nationaler Ebene, die schwierigen Fragen auf internationaler Ebene normativ aufschließen."
Seit sich unser Auschwitz-Wir zwischen 1958 und 1968 überhaupt verstärkt zu entwickeln begann, fiel die deutsche Geschichte endgültig als positives Identifikationspotential aus. In Verruf geraten war sie aber durch Kriegsniederlage und totalen Zusammenbruch schon früher. Nur irgendetwas brauchten die Deutschen doch, um überhaupt weiter leben zu können.
Michel Foucaults Analyse gilt bis heute: "Die Geschichte hatte den deutschen Staat verneint. Künftig wird die Wirtschaft in der Lage sein, seine Selbstbehauptung zu ermöglichen. Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum wird eine erloschene Geschichte ablösen. [...] Die wirtschaftliche Freiheit als gemeinsames Produkt des Wachstums sowohl des Wohlstands als auch des Staats als auch der Geschichtsvergessenheit."
Was das Wirtschafts-Wir also eigentlich ermöglichte, war das schlichte Überleben der deutschen Nation. Im Zusammenklang mit allgemeinen Liberalisierungstendenzen bedeutete es aber mehr und mehr, was sich die Deutschen nach zwei verlorenen Weltkriegen und völlig zerstörtem Land sehnlichst erwünschten: Ruhe, Ruhe vom Staat, der zuvor unablässig kollektiviert, gefordert, die Individuen in Beschlag genommen hatte.
Gleichzeitig war es immer unverzichtbarer Ersatzstoff für so essentielle Bedürfnisse wie Wir-Gefühle des Stolzes oder der Würde. Man sieht das am besten an jenen Deutschen, die vom Wirtschaftswachstum am wenigsten profitieren: den Arbeitlosen. Auch sie, obwohl sie gar nicht daran mitarbeiten (können), sind stolz auf die deutsche Wirtschaftskraft. Gleichzeitig, wird immer wieder berichtet, fühlen sie sich in ihrer Würde nachdrücklich zurückgesetzt, regelrecht minderwertig im Umgang mit Berufstätigen.
Das Auschwitz-Wir stellt uns also moralische Forderungen. Das Wirtschafts-Wir erfüllt uns mit Stolz und gleichzeitig mit Unbehagen, die moralischen Forderungen zu erfüllen. Wir wollen Ruhe haben und Wohlstand.
Zur Not, so scheint es, auf Kosten dessen, was wir für Moral halten! Andererseits sind Bundespräsidenten über der Frage zurückgetreten, ob es legitim sei, Kriege zu führen, um Wirtschaftsinteressen zu sichern (Süddeutsche Zeitung, 19.6.11).
Vielleicht bietet sich als Heilmittel deutscher Identitätsprobleme nun paradoxerweise ausgerechnet etwas an, das vielen Deutschen intuitiv als inakzeptabel befremdlich erscheint: ein aktives Engagement im Nahostkonflikt, eine nachdrückliche Friedensmission in Israel resp. den von ihm besetzten Gebieten!
Das ist eine gewagte Forderung. Doch eine Nation wächst an ihren Zielen. Und wäre der neben den unmittelbar Beteiligten besonders für Deutsche unerträgliche Nahostkonflikt als letzte offensichtliche Kriegsfolge endlich beseitigt, wäre nicht nur Deutschland von seiner schwersten Hypothek erheblich entlastet.
Vielmehr wäre auch dem Frieden in der Welt und der Stabilität einer Region gedient, die den Weltfrieden, wie Günter Grass völlig zu Recht bemerkt hat, ganz wesentlich gefährdet. Leichter gesagt, als getan! Doch eine entsprechende europäische Initiative läge in Deutschlands vitalem Interesse. Denn der besonders moralische Prestigegewinn wäre so ungeheuerlich, könnte Deutschlands Ansehen in der Welt wie im eigenen Lande so großartig steigern, dass sich mancher heute noch hochmoralisch aufgeladene Konflikt zwischen Auschwitz- und Wirtschafts-Wir künftig schlichtweg erübrigte.
Dieser Beitrag ist einer von fünf Gewinner-Texten des „Review2014"-Essaywettbewerbs: www.review2014.de/de/wettbewerb. Im Essay-Wettbewerb wurde die Frage gestellt: "Was sollte die deutsche Außenpolitik in Zukunft tun? Und welche Ziele soll sie dabei verfolgen?"
Georg Frühschütz studiert Deutsch und Geschichte (Lehramt) an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Das von Außenminister Frank-Walter Steinmeier initiierte Projekt "Review 2014 - Außenpolitik Weiter Denken" will eine breite gesellschaftliche Debatte über Ziele, Interessen und Perspektiven deutscher Außenpolitik anstoßen: www.review2014.de
