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Ordnung als Bodenständigkeit. Was unser Leben heute gedeihen lässt

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Der Ruhrkonzern ThyssenKrupp soll so werden wie sein Chef, der Ingenieur Heinrich Hiesinger: grundsolide. Heißt es in der aktuellen Ausgabe des manager magazins (10/2014). Der Manager mag keine risikoreichen Deals und keine großen Würfe. Dazu sei der auf einem schwäbischen Bauernhof (wo im Frühjahr gesät und im Herbst geerntet wurde) aufgewachsene Manager zu „bodenständig".

Nun soll das Unternehmen dem Charakter des Konzernlenkers nachgebildet werden - „unaufgeregt und erdverbunden". Ein erster symbolischer Vorstoß war eine Hüttenwanderung, zu der die obersten 40 Führungskräfte im Juli eingeladen wurden: „Abends nach dem Abstieg sagte man sich offen die Meinung. Am Morgen putzte man sich im gemeinschaftlichen Waschraum die Zähne. Und nach dem Abstieg war die Hälfte per Du miteinander."

Ja, es mag ein Zufall sein, dass der Beitrag zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches „Die Neuerfindung des Erfolgs" der US-amerikanischen Journalistin Arianna Huffington, Mitbegründerin und Chefredakteurin der Onlinezeitung Huffington Post, zusammenfällt.

Aber gerade Zufälle wie diese zeigen, dass gesellschaftliche Entwicklungen immer auch einem gemeinsamen Ordnungsprinzip folgen und miteinander verbunden sind. Dazu gehört eine neue Form des bodenständigen Wirtschaftens, für die Arianna Huffington plädiert: „Immer mehr Menschen - sowohl Männer wie Frauen - wollen sich nicht mehr zu Tode arbeiten, daher ist es wichtig, ihnen humane Wege zurück in die Arbeitswelt zu bahnen, damit ihre Qualifikationen nicht verloren gehen."

Soll das Leben im besten Wortsinn nachhaltig „gedeihen", ist es entscheidend, die Trennung zum beruflichen Erfolg aufzuheben. Inneres und äußeres Wachstum sind für sie mit Weisheit, Staunen und Großzügigkeit verbunden. Und mit Philosophie als Übung in Lebenskunst.

Einer der besten Wege, um gesünder und zufriedener zu werden, ist für sie die Entdeckung der Achtsamkeit, für die es allerdings eine Ordnung des Geistes braucht. Als sie das erste Mal vom englischen Begriff „Mindfulness" hörte, war sie zunächst verwirrt: Ihr „mind" (Geist) sei doch schon voll genug.

Sie stellte ihn sich als eine Art „Gerümpelschublade" vor, in die immer mehr hineingestopft wird in der Hoffnung, dass sie sich nicht verklemmt. Dann las sie Jon Kabat-Zinns Schriften über „Mindfulness" und verstand, dass Herz (durch Empathie) und Geist (durch Konzentration) miteinander verbunden sein müssen, um ausgeglichen zu sein und anderen volle Aufmerksamkeit schenken zu können.

Auch wenn der Begriff von ihr kaum im Text verwendet wird: „Ordnung" ist das in ihrem Buch beschriebene Prinzip der Nachhaltigkeit, das zugleich auch eine symbolische Bedeutung hat. Denn es geht ihr darum, etwas in Ordnung zu bringen, das aus den Fugen geraten ist: Wir haben die Frage danach, was ein gutes Leben ausmacht, aus den Augen verloren und uns vor allem darauf konzentriert, „wie man möglichst viel Geld macht, ein möglichst großes Haus kauft und möglichst hoch auf der Karriereleiter kommt...

Langfristig allerdings sind Geld und Macht allein wie ein Hocker mit zwei Beinen - man kann eine Weile darauf balancieren, aber irgendwann kippt man um. Das passiert mittlerweile mehr und mehr Menschen, und zwar sehr erfolgreichen." Kein Wunder, dass die Sehnsucht nach Bodenständigkeit, Halt und einem besseren Leben gerade heute so ausgeprägt ist. Die gebürtige Griechin zitiert in ihrem Buch Alexander Solchenizyn, der in seinem Roman „Im ersten Kreis der Hölle" schreibt: „Wenn du die Welt in Ordnung bringen wolltest, wo würdest du beginnen: Bei dir oder bei den anderen?"

Es ist das Verdienst der deutschen Philosophin Dr. Ina Schmidt, bereits 2011 in ihrem Buch „Alles in bester Ordnung" gezeigt zu haben, dass es bei der Ordnung um das geht, was Martin Heidegger bereits in den 1950er Jahren mit „Bodenständigkeit" beschrieben hat. Gemeint ist eine im besten Wortsinn erdverbundene Haltung, die eigene Entwicklungsmöglichkeiten in einem stabilen Umfeld genauso ernst nimmt wie die Freude an der Neugier. Es lohnt sich, in diesen Tagen einen Blick in ihr Werk zu werfen oder vielmehr, es aufmerksam zu lesen, weil es gewissermaßen all die Samen enthält, die heute aufgegangen sind - das zeigt sich am Beispiel von Heinrich Hiesinger genauso wie in den Reflexionen von Arianna Huffington.

Und noch etwas findet sich in Ina Schmidts „bester Ordnung": das, was eine nachhaltige Lebenseinstellung ausmacht, die von der Ordnung der Dinge nicht zu trennen ist. Ein Beispiel, das zwar nicht im Buch zu finden ist, aber viele Parallelen dazu aufweist: Claudia Silber, hauptberuflich Leiterin Unternehmenskommunikation bei der memo AG, bestätigt, dass sich Ordnung bei ihr erleichternd, geerdet und bodenständig anfühlt. Besonders nahe ist ihr die Aussage der Philosophin, dass wir nur bei den Dingen (und Menschen), zu denen wir eine (gute) Beziehung haben, Glück finden.

Das geht bei ihr auch in Richtung Minimalismus: „Wenn wir zu viele Dinge (und Menschen) ‚anhäufen', verlieren wir den Überblick, wird es unordentlich, und wir sind letztlich nicht glücklich. Dabei geht es dann auch wieder um das Thema Konzentration, die uns den Blick auf das Wesentliche richten lässt. Die Konzentration auf die wesentlichen Dinge (und Menschen) im Leben machen uns glücklich, und wir fühlen uns ‚sortiert', gut aufgehoben. Der Rest kann getrost in den Papierkorb wandern oder besser: in gute Hände weggegeben werden."

Ordnung ist für die Managerin auch ein ganz persönliches Thema: So kann sie morgens ihre Wohnung nicht verlassen, wenn nicht alles an seinem Platz ist. Das gilt auch für das Büro: „Ich kann dann am besten arbeiten, wenn ich nur das aktuelle Projekt auf dem Schreibtisch liegen habe. Es kam daher schon vor, dass ich gefragt wurde, ob ich demnächst Urlaub hätte oder das Unternehmen verlassen würde."

Genauso verhält es sich mit ihren Gedanken: „Ich fühle mich schlecht und unruhig, wenn in meinem Oberstübchen ‚Chaos' herrscht." Meistens zieht sie sich dann für einige Stunden zurück, um wieder eine Ordnung im Geist entstehen zu lassen. Danach fällt es ihr leichter, klare Gedanken zu fassen und Entscheidungen zu treffen.

An diesem Beispiel zeigt sich zugleich die inhaltliche Verbindung zu den aktuellen Themen der Wirtschaftspresse (Bodenständigkeit, Solidität) zu Arianna Huffington (Neuerfindung des Erfolgs) und Ina Schmidt (Aufmerksamkeit, Stimmigkeit). Wenn jedes Thema einzeln betrachtet wird, lassen sich die inhaltlichen Punkte nur schwer verbinden.

Die gemeinsame Ordnung zeigt sich erst später, wenn vor dem inneren Auge ein Gesamtbild entsteht aus (Er-)Leben, Erfahrung und Lesen. Auch das ist Nachhaltigkeit: darauf zu vertrauen, dass es sich irgendwann zusammenfügt. Bücher wie die von Ina Schmidt können dabei helfen, es besser zu verstehen.
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Interview mit der Philosophin Dr. Ina Schmidt

_ Frau Dr. Schmidt, wann ist für Sie alles in „bester Ordnung"?

Immer dann, wenn ich das Gefühl habe, dass die Dinge, die mir gerade wichtig sind, gut zusammenpassen. Es also so etwas wie eine Stimmigkeit gibt, die sich in einem aufgeräumten Wohnzimmer genauso spiegeln kann wie auf einem chaotischen Schreibtisch, wenn gerade ein Konzept gelungen ist. Es geht mir darum, zwischen diesen verschiedenen Ordnungen zu unterscheiden, einer systematischen und einer organischen Ordnung, einer äußeren und einer inneren Ordnung. Genauer darauf zu achten, wo eigentlich gerade wirklich etwas in „Unordnung" geraten ist, ist notwendig, um wirklich an den richtigen Stellen aufzuräumen. Denn wenn etwas in Ordnung ist, dann meinen wir damit meistens nicht, dass die Dinge in den richtigen Schubladen liegen, sondern dass etwas gut ist - und genau dieser Unterschied hat mich interessiert, als ich das Buch „Alles in bester Ordnung" zu schreiben angefangen habe.

_ Sie verweisen darauf, dass es bei der Ordnung um das geht, was Martin Heidegger bereits in den 1950er Jahren mit „Bodenständigkeit" beschrieben hat. Dabei geht es um eine im besten Wortsinn erdverbundene Haltung, die eigene Entwicklungsmöglichkeiten in einem stabilen Umfeld genauso ernst nimmt wie die Freude an der Neugier. Warum brauchen wir in allen Bereichen des Lebens heute mehr denn je „Bodenständigkeit"?

Weil wir viele Jahre damit beschäftigt waren, Bodenständigkeit spießig, langweilig und rückwärtsgewandt zu finden und das zum Teil auch aus gutem Grund - wenn wir den historischen Umgang mit der Ordnung schon seit 19.Jahrhundert genauer verfolgen. Diese ursprünglich preußische Sekundärtugend meinte eine Ordnung, die mit dem eben genannten Gefühl von Stimmigkeit nichts zu tun hatte, und doch bleiben einige dieser alten Werte gültig, wenn wir sie denn in die Gegenwart mitnehmen und übersetzen lernen. Denn mittlerweile leben wir in einer dauernden Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit und stellen fest, dass uns der Boden unter den Füßen hin und wieder sehr fehlt. Es geht auch bei Heidegger nicht darum, seinen Vorgarten in Mustern zu harken oder 50 Jahre lang in derselben Firma zu arbeiten, sondern darum, zu wissen, wo man steht, auf welchem Boden und warum. Nur wenn es uns gelingt, den Wunsch nach Unabhängigkeit, Flexibilität und Mobilität mit dem Wunsch nach einem festen „Standpunkt" zu verbinden, entsteht das, was uns in die Lage versetzt, das rechte Maß von Alt und Neu zu dem zusammenzusetzen, was wirkliche Entwicklung, also qualitatives Wachstum auszeichnet - auch um einen Gegenpol zu unserer Ausrichtung eines ewigen Schneller, Höher, Weiter zu schaffen, der die Dinge aus der Balance bringt und damit am Ende verhindert, dass sie sich zu einer eigenen - stabilen - Ordnung fügen können.

_ Sie führen ihre Großmutter als Beispiel für einen Menschen an, der sich eine eigene Ordnung geschaffen hat, die eben genau diesen Werten verpflichtet war - und sich dabei selbst nicht so wichtig genommen hat. Dazu gehört auch eine Bemerkung von Ihnen an einer anderen Stelle: dass es um die Frage geht, welche Bereicherung Menschen mit ihrem Sein für die Gemeinschaft darstellen...

Ja, das Leben meiner Großmutter war sehr von Ordnung bestimmt, sowohl in ihren täglichen Abläufen als auch in der Vorstellung von einer für sie nicht erklärbaren Ordnung, in die sich ihr persönliches Leben einfügen musste oder konnte. Sie hatte ihren Glauben, aber wir können den religiösen Glauben auch durch das Vertrauen in eine sinnhafte Ordnung der Welt ersetzen, die nicht zwingend eine christliche sein muss. Wichtig ist das, was für uns daraus folgt. Meiner Großmutter ging es weniger um persönliche Ziele, Status oder Anerkennung, sondern darum, dass sie den Platz, den sie für sich in ihrem Leben gesehen hat, gut auszufüllen imstande war, durch die Kriegszeiten hindurch, Jahre voller Chaos, Veränderung und Unwissenheit über das, was kommt. Die Idee, dass es dennoch eine Ordnung hinter all dem gab, war für sie lebenserhaltend und sie hat diese Kraft immer wie selbstverständlich ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft, in der sie gelebt hat, zur Verfügung gestellt, aber, was ganz wichtig war, ohne sich dabei selbst zu vergessen. Darin war sie ohne es zu wissen auch eine Anhängerin der Stoiker und der alten griechischen Denker, die genau an diese Fähigkeit in uns Menschen appellieren: ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was wir können, wie wir es entfalten und wie wir dadurch auch die Gemeinschaft, in der wir leben, zu etwas Besserem machen. Wenn sich wirklich alle Menschen an diese Idee hielten, dann wäre sicher sehr viel mehr „in bester Ordnung".

_ Inwiefern ist Weisheit an die Ordnung des Lebens und der Dinge gebunden?

Weisheit ist etwas, dem wir uns im Leben nur annähern können, das wir nicht durch dicke Bücher oder Theorien erreichen können, sondern nur dadurch, dass wir Erfahrungen sammeln und uns wirklich mit ebendiesen Erfahrungen auseinandersetzen, mit anderen Menschen sprechen - uns ein Bild machen und dieses Bild immer wieder überprüfen, so wie es bereits Sokrates auf den Straßen Athens als oberstes Ziel der Philosophie beschrieben hat. Ein weiser Mensch ist also nicht unbedingt ein Gelehrter, sondern jemand, der sich mit dem Leben im persönlichen wie im grundsätzlichen auseinandersetzt und dies in der sicheren Einsicht aufrecht erhält, dass er am Ende keine Antworten bekommen wird, ohne dies als Mangel zu empfinden. Das Leben ist wesentlich durch Veränderung, durch Entwicklung und Wandel bestimmt und ebenso sind es die vermeintlich festen Ordnungen, die wir im Leben vorfinden - Weisheit bedeutet, ebendiese Ordnungen ernst zu nehmen, wohl wissend, dass sie nicht von Dauer sein werden.

_ Wie erleben Sie selbst das Gefühl von Ordnung? Und was löst es in Ihnen aus?

Für mich ist das Gefühl von Ordnung etwas erleichterndes, etwas, in dem ich mich hin und wieder ausruhen kann - weil in diesem Moment nichts zu tun, nichts zu verändern ist. Auch wenn das dann meist nicht sehr lang anhält. Wie gesagt, diese Erleichterung, dieses Gefühl von „Richtigkeit", kann von den unterschiedlichsten Momenten ausgehen: ein aufgeräumter Keller, ein schöne Gesprächsatmosphäre, ein gelungenes Essen oder ein guter Artikel - all das können Anlässe für dieses Gefühl von Stimmigkeit sein, das mir dann oft die Kraft gibt, es mit der nächsten Baustelle aufzunehmen.

_ Weshalb ist Glück für Sie nur in der Beziehung zu finden, die wir zu den Dingen aufbauen und die uns lehrt, den nächsten Schritt zu tun? Welche Bedeutung spielt dabei Aufmerksamkeit (Mindfulness)?

Glück lässt sich meiner Überzeugung nach nicht als ein Ziel denken, es kann einem begegnen, wir können es erfahren, wenn wir etwas tun, das uns Freude macht, wenn wir einen Sinn in dem sehen, wie und mit wem wir leben. Dafür braucht es einen sehr aufmerksamen Blick auf das, was wir tun und warum. Um aber überhaupt wachsam und aufmerksam genug für das zu sein, was uns umgibt bzw. begegnet, müssen wir mit der Welt um uns herum (und am besten auch mit der Welt in unserem Inneren) in Kontakt stehen - im besten Fall eine Beziehung zu den Dingen und Menschen eingehen. Das heißt nicht, dass wir mit allem und jedem um uns herum eng verbunden sein müssen, aber wenn ich wirklich und ernsthaft meine Aufmerksamkeit auf etwas richte, mich ihm widme, dann ist das eben schon eine Form von „Bezogenheit", für die ich mich bewusst entscheide und in der uns im besten Fall dann auch das Glück begegnen kann.

_ Wir haben am Anfang schon von der Bedeutung der Bodenständigkeit gesprochen, nun von der Aufmerksamkeit, die wir in die Beziehungen zu den Dingen um unser herum aufbringen sollten - worin genau sehen sie die Verbindung der Ordnung zu den Fragen, die gegenwärtig zum Begriff der Nachhaltigkeit diskutiert werden?

In dem, was Nachhaltigkeit bedeutet, lässt sich viel von dem zusammenführen, was wir bisher gehört haben: es geht darum, sich im Rahmen des Möglichen wahrhaft dem zu widmen, was wir in unserem Leben bedeutsam - also gut und wichtig - finden, und dafür Verantwortung übernehmen. Wenn es darum geht, eine Familie zu gründen, dann geht es darum, sich ernsthaft über das Gedanken zu machen, auf was ich mich einlasse, welche Konsequenzen diese Entscheidung für mein Leben hat und wie ich diesen Veränderung begegnen könnte. Ähnlich ist es bei der Führung von Unternehmen, die sowohl in sich einer bestimmten sinnvollen Ordnung gehorchen sollten, als auch ein Bewusstsein davon haben müssen, in welchen Ordnungszusammenhang (regional wie global) sie sich einfügen. Die Verbindung von persönlichem Bewusstsein für das, was es an Möglichkeiten gibt, welche Ressourcen dafür zur Verfügung stehen und welche Grenzen es einzuhalten gilt, bedeutet einen verantwortungsvollen Umgang mit dem, was ist und dem, was werden könnte und stiftet aus dieser Haltung heraus eine nachhaltige Ordnung - in jeder Form von sozialem Kontext.

_ Weshalb ist der persönliche Zugang zu einem so komplexen Thema wie Nachhaltigkeit immer auch mit der Fähigkeit verbunden, die Welt neu zu sehen? Welche Bedeutung hat für Sie in diesem Zusammenhang der US-amerikanische Science-Fiction-Film "Avatar" von James Cameron?

Ja, gut, dass Sie darauf kommen. Es ist natürlich neben der Besinnung auf die eigene „Bodenständigkeit" sehr wichtig, nicht so sehr auf seinem Standpunkt zu beharren, dass der Blick für Neues verstellt wird. Denn in jeder Form der lebendigen Ordnung gibt es Wandel und einen Moment der „schöpferischen Zerstörung", in der das Alte dem Neuen Platz machen muss. Damit solche Entwicklungen uns nicht aus der Bahn werfen bzw. wir die Augen für Anzeichen von Veränderung und notwendiger Anpassung offen halten, müssen wir uns hin und wieder auch zwingen - anders zu denken, andere Perspektiven einzunehmen und uns nicht unsere Denkmuster (auch eine Form der Ordnung) zu verkapseln. In dem Film „Avatar" gibt es eine sehr schöne Szene, in der die spirituelle Heilerin des Volkes von Pandora die menschlichen Gelehrten dafür kritisiert, dass sie glaubten, bereits alles zu wissen - und „ein Gefäß, das schon voll ist, lässt sich nicht füllen". Einer vermeintlich festgefügten Überzeugung lässt sich nichts mehr hinzufügen und sie wird keinerlei Neuerung oder Veränderung als richtig akzeptieren können. So geschieht es nicht selten, dass wirkliche Neuerungen dann entdeckt werden, wenn wir unvoreingenommen und mit wenig Vorwissen auf ganz zentrale Lebensfragen herangehen - wir also ganz allein unserer Neugier folgen. Hier hilft hin und wieder das Bild eines Spiels, das zwar nach Regeln verläuft, aber doch keiner letzten Antwort verpflichtet ist. Wenn wir also hin und wieder sehr ernsten Fragen auf spielerische Weise begegnen, ermöglichen wir die kreative - und manchmal chaotische - Perspektive, die für das Entdecken von Neuem unerlässlich ist. Und dann lassen sich daraus wieder Strukturen und Ordnungen gestalten.

_ Wie kann es aus Ihrer persönlichen Sicht gelingen, einen besseren Zugang zu unserer inneren und äußeren Ordnung zu finden? Was würden Sie Menschen mit auf den Weg geben, die Sie danach fragen?

Versuchen Sie einfach, in ihrem Alltag hin und wieder innezuhalten, kurze Momente, in denen Sie das, was sie glauben, so gut zu kennen, anders betrachten, sich fragen, was macht eigentlich dieses Thema, diese Aufgabe, dieses Möbelstück oder dieser Mensch in meinem Leben? Der Wunsch nach Ordnung entsteht meist aus dem Gefühl, zu viele Dinge, Themen oder Aufgaben um sich herum angesammelt zu haben, mit denen wir eigentlich nicht mehr „in Beziehung" stehen, denen wir keine Aufmerksamkeit mehr schenken wollen und die sich möglicherweise nur noch als Relikte von längst Vergangenem in unserem Leben herumtreiben. Kurt Tucholsky hat einmal gesagt, die Basis einer guten Ordnung ist ein großer Papierkorb - und darin lassen sich hin und wieder auch sehr gut alte Überzeugungen, Glaubenssätze oder Vorstellungen entsorgen. Dann ist sicher noch nicht „alles in bester Ordnung", aber wir schaffen wieder Luft zum Atmen und Denken und das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, das chaotische Leben immer wieder aufs Neue in Ordnung bringen zu können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Ina Schmidt: Alles in bester Ordnung. Oder wie man lernt, das Chaos zu lieben. Ein philosophischer Wegweiser vom Suchen und Finden. Ludwig Verlag, München 2011.

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