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Als das Foto meiner Tochter um die Welt ging

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Wenn Sie bei Google „mood swing" (deutsch: Stimmungsumschwung) eingeben, zeigt das erste Bild, das Sie sehen, meine Tochter. Sie sitzt auf einer Schaukel und verzieht ihr Gesicht zu einem mürrischen Schmollen. Sie spielt es für die Kamera. Sie will damit Zorn darstellen. Aber die meisten der Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, die das Bild gesehen haben, glauben, sie ist wirklich sauer. Und ich denke, dass sie das Bild deshalb noch mehr lieben und sie es deshalb teilen wollen. So macht unsere Tochter weiterhin ihren Weg durch das Internet. In einem Zyklus, der sich wiederholt.

Wir waren das Wochenende über mit unseren beiden Kindern, 2 und 5 Jahre alt, weggefahren. Wir hatten ein stickiges Strandhaus in Rhode Island gemietet und zu unserer Enttäuschung gab es keinen W-Lan-Zugang. Mein Mann und ich mussten arbeiten während des Urlaubs. Ich wartete gespannt darauf, eine Rückmeldung zu den letzten Änderungen meines Romans „Cutting Teeth" zu bekommen. Ich fand heraus, dass ich, wenn ich meinen Laptop am Ende der Auffahrt wie eine Wünschelrute herumwedelte, das Internet der Nachbarn empfangen konnte. Ich war also unten, am Ende der Auffahrt, und winkte mit meinem Laptop in der Luft, als ich sah, dass jemand ein Foto auf meiner Facebook-Seite veröffentlicht hatte. Es war ein Foto meiner zweijährigen Tochter auf einer Schaukel. „Ist das nicht deine Tochter?", fragte mein Freund. Natürlich ist sie es, dachte ich. Mein Mann hatte das Foto vor ein paar Wochen aufgenommen und wir beide hatten es auf Facebook geteilt. Es war ein Hit gewesen und unsere süße Tochter hatte viele Likes und Kommentare bekommen. Ich schäme mich, zuzugeben, dass das meine Stimmung an diesem Tag anhob. Aber als ich das Foto nun begutachtete, sah ich die großen Blockbuchstaben - MOOD SWING - am oberen Rand des Bildes. Mein Freund hatte es auf einer „Meme-Webseite" gefunden.

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Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, deshalb habe ich nach „Meme" gegooglet. Laut „Merriam-Webster" ist „Meme" eine Idee, ein Verhalten, ein Stil oder ein Brauch, der sich von Person zu Person innerhalb einer Kultur ausbreitet. Ich ging auf die Website Cheezburger.com, wo mein Freund das Foto entdeckt hatte. Da war es. Ich mailte dem Webmaster und bat ihn, das Bild zu löschen. Problem gelöst, dachte ich.

Als ich zurück ins Strandhaus kam erzählte ich meinem Mann von dem Foto und wir lachten darüber. Wir versprachen uns, unsere Facebook-Freundeslisten durchzusehen und alle zu löschen, die wir nicht wirklich kannten. Wir ahnten nicht, dass das Foto bereits seit Tagen auf Reddit war und an die Spitze der bekanntesten Meme-Charts stürmte. Millionen hatten das Bild gesehen und unsere schmollende Tochter geteilt.

Etwas später an diesem Tag fingen Facebook-Freunde an, Verlinkungen zum „MOOD SWING-Foto" auf meine Seite zu posten. Alle führten zum selben Bild auf unterschiedlichen Seiten. Ich rannte alle 20 Minuten ans Ende der Auffahrt, um neue Posts zu checken. Jedes Mal gab es neue Entdeckungen vom Bild meiner Tochter durch Social-Media-Freunde. Sie waren empört. Mein Mann und ich machten uns Sorgen über die Situation, aber unsere Freunde, vor allem die, die auch kleine Kinder haben, und ich sollte hinzufügen, dass sie die Posts unserer süßen kleinen Töchter in den vergangenen zwei Jahren anbeteten, wurden beleidigt. Sie sahen die Privatsphäre verletzt. Dazu kam, das schleichende Gefühl, dass ein Unbekannter Besitz von unserem Baby hatte. Wenn meine Freunde beunruhigt sind, sollte ich das auch sein, sagte ich mir. Ich schäme mich, dass ich so ruhig war. Wie konnte jemand so etwas von uns stehlen?

Mehrere Freunde hatten gefragt ob sie die Meme-Webseiten in meinem Namen kontaktieren und auffordern sollten, das Bild zu entfernen. Ich stimmte zu, obwohl ich bezweifelte, dass das Foto zurückgenommen werden konnte, weil es sich mit jeder Stunde weiter ausbreitete. Aber ich wollte nicht wie eine schlechte Mutter aussehen, der es egal war, dass ihre Tochter im ganzen Internet zu sehen war. Also gab ich ihnen meinen Segen.

Im Laufe der nächsten 24 Stunden sah ich das Foto meiner Tochter immer und immer wieder in meiner Facebook-Timeline. Gepostet von Eltern-Zeitschriften, Bloggern und Meme-Seiten. Und auch von Freunden, die nicht wussten, dass das meine Tochter auf der Schaukel war. Die Missbilligung unserer Freunde, die Ausbreitung des Gesichtes unserer Tochter und das Geheimnis um den Dieb des Fotos näherten sich wie ein Sturm an uns heran, bis es das einzige war, worüber wir sprachen. Das Foto. Das Foto. Der Urlaub war ruiniert. Die Kinder verbrachten zu viel Zeit vor dem Fernseher, mein Mann und ich standen abwechselnd winkend mit dem Laptop am Ende der Einfahrt oder wir fuhren zu Starbucks, um das Internet dort zu nutzen. Dass wir weit weg von zu Hause, weg von unserer zuverlässigen Internet-Verbindung waren, gab mir das Gefühl, noch weniger Kontrolle über die Situation zu haben. Ich machte mir Vorwürfe. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich wusste, dass es so etwas wie Privatsphäre im Internet nicht gibt und ich jedes Mal, wenn ich ein Foto von meinen Kindern postete, verantwortlich dafür war. Ich benutzte meine Wut als ein Schild, um von meiner Schuld abzulenken und mich auf das zu konzentrieren, was ein Freund eine „Invasion auf deine kostbare Familie" nannte.

Mein Mann postete eine Nachricht auf Facebook, in der er den Täter aufforderte, sich zu offenbaren. Er erklärte, dass wir nur den Ursprung zurückverfolgen wollten. Wo das Feuer sozusagen anfing zu brennen. Am nächsten Tag schickte ein Mitarbeiter meines Mannes ihm eine E-Mail, in der er kleinlaut zugab, dass er es war, der das Foto auf Reddit veröffentlichte. Er behauptete, er tat es, um auf Reddit sogenannte „Karma Points" zu bekommen. Er hatte per Photoshop den Schriftzug „MOOD SWING" auf das Foto gesetzt - ein Scherz, den einer der Freunde meines Mannes unter den Originalpost kommentiert hatte. Die Mail enthielt außerdem den Link zu Reddit und das Versprechen, dass er sein bestes geben würde, dass das Foto verschwindet. Ein Versprechen, das unmöglich zu halten war.

Es war mein erster Besuch auf Reddit. Ich vermute, für die Meme-Explosion, die heute zum täglichen Humor gehört, bin ich einfach ein halbes Jahrzehnt zu früh geboren worden. Am Anfang war es schwierig, das Durcheinander der Beiträge, Subposts und Kommentare auf der Reddit-Seite zu verstehen. Das Foto meiner Tochter stand an der Spitze, nachdem es hunderttausende Punkte und Kommentare bekommen hatte. Viele waren harmlos, die meisten waren LOLs und LMFAOs und Kommentare wie: „Das Kind wachte auf und sagte, dass du mich nicht dazu bringst, Spaß zu haben". Aber es gab auch Kommentare wie: „Was für eine Schlampe!". Und eine 40-Post-lange Diskussion darüber, ob meine Tochter ein Junge oder ein Mädchen ist. Sogar ihre Hose wurde analysiert. Es gab keine Informationen zu ihrem Namen oder den Ursprung des Fotos. Aber so viele Fremde nannten meine Tochter „hässlich" und „garstig". Ich als normal ängstliche Mutter fühlte mich plötzlich, als würde hinter jeder Ecke Gefahr lauern.

Unsere Bemühungen, das Foto aus dem Internet zu löschen, waren vergeblich. Soweit ich das beurteilen kann, wird es für immer dort bleiben. Nach einer Woche hin und her Mailen mit verschiedenen Meme-Webseiten, Elternmagazinen und Reddit, ergaben wir uns der Zwangsläufigkeit des Internets. Überraschenderweise fühlte ich mich besser, als ich die Gewissheit hatte, dass ich keine Kontrolle über das Foto habe. Jetzt, fast zwei Jahre später, bin ich sogar ein bisschen stolz, wenn ich mein Handy zücke „Mood Swing" eingebe und ein lustiges und liebenswertes Foto meiner Tochter gezeigt bekomme. Es ist eine große Geschichte, die man erzählen kann. Habe ich ihnen schon von der Zeit erzählt, als ein Foto meiner Tochter viral ging? Ein Jahr, nachdem das Foto zum ersten Mal gepostet wurde, und Honest Toddler, ein Twitter-User, der durch seine Berühmtheit sogar einen Buch-Deal bekam, das Foto meiner Tochter auf seiner Webseite postete, rief ich meinen Mann an und teilte meine Freude leise.

Das Foto erscheint immer noch in meinem Facebook-Feed und mein Mann hatte vor kurzem ein Schlüsselerlebnis, als er das Foto unserer Tochter in Postergröße über dem Schreibtisch einer Kollegin hängen sah. Sie hatte keine Ahnung, dass das kleine Mädchen unsere Tochter war und entschuldigte sich. Sie versprach, es abzunehmen. Mein Mann lachte und sagte ihr, dass es nicht störe.

Habe ich aus dieser Erfahrung etwas gelernt? Wenn ja, zeigt es sich nicht in meinen täglichen Beiträgen in den sozialen Medien. Ich poste Fotos meiner Kinder und süße Anekdoten aus unserem täglichen Leben. Es gab ein paar Wochen, in denen ich ihre Vornamen mit den Initialen abkürzte - der Versuch, Privatsphäre zu schaffen. Aber ich erkannte, dass jedermann überall online alles herausfinden kann, was es über meine Familie zu wissen gibt. Ich wollte einer dieser Eltern sein, die keine Fotos ihrer Kinder online veröffentlichen, sodass die ganze Welt Zugang dazu hat, aber ist es dafür jetzt nicht zu spät? Wie sollte ich alles löschen, was ich bis jetzt schon geteilt habe?

Ich schelte mich immer noch selbst dafür, dass ich weiß, dass ein Foto meiner Tochter auf Facebook dreimal so oft geliked wird, wie ein Link zu einem Artikel oder Essay, den ich veröffentliche. Wenn ich neue Leute kennenlerne, ist eines der ersten Dinge, die sie sagen: „Sie sind die Mutter der entzückenden Kinder auf Instagram!". Als würden meine Kinder tatsächlich online leben. Was in gewisser Weise ja auch stimmt. Eine Bilderbuchwelt voll mit Smileys und dummen Ausdrücken und Bildern, die freudige Ereignisse bedeuten. Eine Landschaft, die man mit Hilfe von Instagram verträumt wirken lassen kann. Die Online-Welt bietet Eltern unendlichen Möglichkeiten. Wir können uns eine Geschichte über unsere Kinder und uns als Eltern zusammenbasteln. Und dieser scheinbar „perfekten" Eltern-Identität kann ich fast unmöglich widerstehen.

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