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Eisbären und Stress: Was wir von den weißen Riesen lernen können

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Kein Tier hat für mich eine stärkere Symbolkraft für Selbstbestimmung und Souveränität als der Eisbär. Und doch: Seine Umwelt ändert sich derzeit so schnell und so dramatisch, dass alle Flexibilität und individuelle Stärke wohl nicht ausreichen werden, um den Eisbär in freier Wildbahn vor dem kollektiven Stresstod zu bewahren.

Zwei Drittel ihres Lebens verbringen Eisbären schlafend oder lauernd. Sie warten vor dem Atemloch einer Robbe und dösen und faulenzen dort Stunden über Stunden, bis eine unglückliche Robbe auftaucht, um Luft zu holen. Dann ist es schlagartig vorbei mit der Ruhe. Und mit der Robbe. Der Eisbär katapultiert seine halbe Tonne Lebendgewicht nach vorne, packt die Robbe mit Zähnen und Klauen und zieht sie aus dem Wasser.

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Faulenzen & Müßiggang
Ein Eisbär, der sich auf einer Eisscholle sonnt, ist für mich der Inbegriff der genießerischen Faulenzerei und des Müßiggangs. Herrlich! Ich liebe dieses Bild, wie man es in Tierfilmen sehen kann. Da wälzen sie sich herum und strecken wohlig die große, schwarze Nase in die Sonne, die Augen vor Wonne geschlossen. Und dann der Kontrast: Sie sind Kraftpakete und unglaublich agil. Sie können über kurze Strecken mit einer Geschwindigkeit von über 30 Stundenkilometern rennen. Außerdem sind sie enorm ausdauernd: Im Herbst 2008 beobachteten Forscher die Wanderungen einer Eisbärendame in der Beaufortsee, einem Teil des Nordpolarmeers nördlich von Alaska und Kanada. Sie hatten sie im August gefangen und einen Sender an ihr befestigt. Die Forscher konnten kaum glauben, was sie sahen, als sie das Signal auswerteten. Die Eisbärin schwamm ununterbrochen neun Tage am Stück, ohne zu schlafen, dabei legte sie fast 700 Kilometer zurück, das ist Luftlinie mehr als die Strecke von Heidelberg nach Berlin. Schwimmend, im Meer! Dann kam sie ans Ufer, stieg an Land und ruhte sich nicht etwa aus, sondern marschierte schnurstracks, ohne eine Pause einzulegen, weitere 1.800 Kilometer, eine Strecke, so lang wie die Distanz zwischen Heidelberg und Sankt Petersburg! Dann fingen die Wissenschaftler die Bärin erneut und wogen sie: Sie hatte mehr als ein Fünftel ihres Gewichts verloren!

Weitere Untersuchungen legten nahe, dass dieses Eisbären-Exemplar eine solche strapaziöse Wanderung nicht freiwillig oder routinemäßig unternahm, sondern alleine aus Überlebenstrieb, nämlich um nicht zu verhungern. Eisbären jagen normalerweise auf dem Eis, weil sie schwimmend im Meer ihre Hauptbeute, die Robben, niemals erwischen würden. Aber wenn kein Eis mehr da ist ...

Anpassungsfähigkeit
Eisbären sind unwahrscheinlich widerstandsfähig. Sie sind extrem gut an ihre Umwelt angepasst. Ihre Haut ist schwarz, und das gelblich-weiße Fell besteht aus Haaren, die hohl und durchsichtig sind. Die Haare leiten jeden Sonnenstrahl auf die dunkle Oberfläche, die die Wärme optimal absorbiert. Was für eine clevere Erfindung der Natur! Andererseits dringt die Wärme von innen nicht nach außen, weil der Pelz und die zehn Zentimeter dicke Fettschicht des Eisbären so gut isolieren, dass der Bär auf dem Monitor einer Wärmebildkamera nicht zu sehen wäre. Bären können sich in guten Zeiten bis zu 150 Kilogramm Speck anfressen, ein Vorrat, mit dem sie zur Not ein ganzes Jahr auskommen können. In solchen Fastenzeiten fressen sie nur Seetang, damit ihr Verdauungsapparat in Gang bleibt.

So scheu und vorsichtig sie sind - wenn ihnen die menschliche Zivilisation zu nahe kommt, holen sie sich ihre Nahrung eben auch von dort. Dennoch sind sie keine Kulturfolger wie Füchse und Waschbären. Nur wenn sie der Hunger treibt, holen sie sich, was sie brauchen: Essensreste aus Mülleimern oder hie und da mal den Hofhund einer menschlichen Ansiedlung. Alles in allem sind die Anpassungsleistungen des Eisbären verblüffend.


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Er ist das größte Landraubtier der Erde, er steht an der Spitze der kompletten arktischen Nahrungskette. Außer dem Menschen hat der Eisbär keine natürlichen Feinde. Als die Population in den 1950er- und 1960er-Jahren durch hemmungslose Bejagung - vor allem zur Trophäenjagd zum Vergnügen - auf wenige tausend Exemplare dezimiert wurde, gaben manche Wissenschaftler schon keinen Pfifferling mehr auf Ursus maritimus. Aber nachdem die fünf Staaten, in denen er lebt, die Vereinigten Staaten, Kanada, Dänemark (beziehungsweise Grönland), Norwegen und die Sowjetunion sich in den 1970er-Jahren auf ein Schutzprogramm einigen konnten, erholte sich der Bestand wieder einigermaßen.

Heute gibt es ungefähr 20.000 bis 25.000 Tiere. Was für ein starkes, mächtiges, flexibles, widerstandsfähiges Tier! Es ist jammerschade, dass der Eisbär in freier Wildbahn keine Überlebenschance hat. Wir haben sie ihm bereits genommen, es ist nur noch eine Frage der Zeit...

Fazit: Ein Leben in Selbstbestimmung mit allen Konsequenzen ist kein Patentrezept. Möglicherweise ist es trotzdem die derzeit beste Art und Weise, mit dem modernen Leben zurechtzukommen. Aber das heißt dann, dass wir nicht so weitermachen können wie im letzten Jahrhundert - wir müssen uns anpassen, damit der Stress uns nicht den Boden unter den Füßen wegzieht!


Über den Autor
Prof. Dr. Lothar Seiwert, CSP (Certified Speaking Professional) und CSPGlobal, ist seit über 30 Jahren Europas führender Experte für Zeit- und Lebensmanagement. Millionen Menschen weltweit haben ihn in seinen Vorträgen erlebt und sind durch seine Bestseller dazu inspiriert worden, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Und er hat einen Faible für Eisbären. Weitere Informationen unter www.Lothar-Seiwert.de


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Buchtipp
Seiwert, Lothar: Ausgetickt. Lieber selbstbestimmt als fremdgesteuert (Trainerbuch des Jahres in Gold). 2. Aufl. München: Ariston 2011, 349 Seiten, ISBN 978-3-424-20058-4



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