Sigmar Gabriel hat es geschafft.
Nicht etwa, weil er auf dem Höhepunkt seiner Karriere stünde – auch, wenn das Amt des Außenministers für den SPD-Politiker sicherlich ein solcher ist. Sondern vor allem, weil kaum noch jemand ihm die Schuld am desolaten Zustand der SPD gibt.
Dabei war Gabriel von 2009 bis Anfang dieses Jahres Vorsitzender der Sozialdemokraten. Acht Jahre lang war die Partei unter seiner Führung an der Regierung beteiligt.
► Dennoch schaffte sie es, von schon katastrophalen 23 Prozent bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 auf historisch schlechte 20,5 Prozent bei der Wahl im September abzustürzen.
Auf den letzten Metern vor der Wahl in diesem Jahr schwang zwar Neu-Chef Martin Schulz die Rote Laterne. Doch diese war auch ein vergiftetes Erbe von Gabriel.
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Schulz ist nun einer der meist kritisierten Politiker des Landes. Gabriel hingegen darf Gastbeiträge im “Spiegel” schreiben – und darin über das Scheitern der SPD philosophieren, als hätte er damit nichts zu tun.
Gabriel: “Bei uns gibt es oftmals zu viel Grünes und Liberales und zu wenig Rotes”
Aber mit dem Alltag, also den Verhandlungen über eine Helferrolle der SPD in einer neuen Merkel-GroKo, will sich Gabriel in seinem Gastbeitrag auch gar nicht aufhalten. Die Probleme der SPD lägen tiefer, findet er.
Der Nationalstaat könne nämlich seine Wohlfahrtsversprechen nicht mehr einlösen, vielmehr erpresse der Kapitalismus die Nationalstaaten sogar zur Flexibilität.
“Zugespitzt: Fast alle Bedingungen für den sozialdemokratischen Erfolg in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind verschwunden”, schreibt Gabriel.
Bisher hat die SPD laut Gabriel auf diese Herausforderungen keine Antwort gefunden – und wenn, dann die falschen. Nämlich Antworten, die schon andere Parteien geben würden: “Bei uns gibt es oftmals zu viel Grünes und Liberales und zu wenig Rotes.”
Soll heißen: Die SPD soll nicht mehr so viel bei der FDP und den Grünen klauen. Dass die Sozialdemokraten im Bund seit acht Jahren mit keiner der beiden Parteien koaliert haben, ja die FDP die vergangenen vier Jahre nicht einmal im Bundestag saß – geschenkt.
Die SPD, die Gabriel vorschwebt, soll also wieder “rot” sein. Damit meint der Ex-Vorsitzende aber keine Orientierung nach links – ganz im Gegenteil.
Gabriel klaut der Union die Leitkultur-Debatte
Denn was sich Gabriel für die deutsche Sozialdemokratie wünscht ist, dass sie sich mehr Gedanken über Heimat, Identität und Leitkultur macht.
“Ist der Wunsch nach sicherem Grund unter den Füßen, der sich hinter dem Begriff ‘Heimat’ hier in Deutschland verbindet, etwas, was wir verstehen, oder sehen wir darin ein rückwärtsgewandtes und sogar reaktionäres Bild, dem wir nichts mehr abgewinnen können?”, fragt sich Gabriel.
Und weiter: “Ist die Sehnsucht nach einer ‘Leitkultur’” angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?”
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Soll heißen, die Zeiten haben sich geändert, die SPD aber (seit Jahrzehnten) nicht. Gabriel hat erkannt, dass viele SPD-Wähler nun AfD wählen und will diese Menschen zurückholen.
Er schreibt: “Die offenen Grenzen von 2015 stehen in Deutschland für nicht wenige Menschen (...) als Sinnbild für die Extremform von Multikulti, Diversität und den Verlust jeglicher Ordnung.”
Statt diese Sichtweise zu berücksichtigen, hätte die SPD sich in “Wirtschaftsdebatten an den Wettbewerbsdruck dieser postmodernen Globalisierung angepasst.”
Gabriel fordert Konsequenzen – bleibt aber vage
Die SPD müsse sich jetzt diesen “völlig veränderten Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik” anpassen. Es bedürfe weniger sich in sich selbst erschöpfender linker Umverteilungsdebatten und mehr Identitätsstiftung – in Deutschland, aber auch in Europa.
► Wie seine Partei das konkret bewerkstelligen soll, lässt Gabriel offen.
Wo es ans Eingemachte geht, bleibt sein Manifest vage. Nur so viel: ”Erst wenn wir uns wirklich zu diesen Veränderungen bekennen und daraus auch Konsequenzen ziehen, werden sich unsere Wahlergebnisse verbessern.”
Mit Konsequenzen hat es die SPD aber nicht so. Kein einziger Spitzenpolitiker der Partei ist nach dem Debakel bei der Bundestagswahl zurückgetreten oder hat in der Öffentlichkeit Platz für neue Kräfte gemacht.
Auch und besonders Sigmar Gabriel nicht.
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(best)