Quantcast
Channel: Huffington Post Germany Athena
Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Vor drei Jahren hat in Tunesien der Arabische Frühling begonnen - Zumindest in der Politik geht es voran

$
0
0
Ein Wintersturm fegt durch die Wüste. Sandige Böen rasseln bis nach Tataouine hinein, ziehen Wirbel aus feinem Staub durch die Straßen und reißen an den Blättern der Palmen. Normalerweise herrschen um diese Jahreszeit in Südtunesien Temperaturen zwischen 15 und 20 Grad, doch der Wind und die kurzen Tage verbreiten ein Gefühl der Kälte. Die Wüste fühlt sich kaum behaglicher an als das Novemberwetter in Berlin.

Hier, am Rande der Sahara, sollte eigentlich schon seit Stunden die Auftaktveranstaltung der „Rallye Ksour“ stattfinden, ein Rennen, das noch vor drei Jahren unmöglich gewesen wäre und in diesem Jahr schon zum zweiten Mal sattfindet. Doch die Teilnehmer erleben am ersten Renntag alles Unglück, das bei einer solchen Rallye zusammenkommen kann: Die Böen machen die 500 Kilometer lange Überfahrt von Tunis nach Tataouine zur Tortur. Eine Fahrerin muss kurzfristig passen, ein anderer hat einen schweren Unfall, bei dem sein Auto von der Straße abkommt. Und zu allem Überfluss bleibt eines der Leitautos der Tunesischen Rennsportföderation (FTA) mit Motorschaden liegen.

tunesien

„Wir hatten ein bisschen Pech“, sagt Mohammed Dhafer Bassalah, sportlicher Leiter der FTA, und übertreibt damit maßlos. Auf dem Kopf trägt er tapfer eine Kappe mit dem Logo seiner Vereinigung. Seine Augen sind müde. „Ich hoffe, dass bald alle hier sind. Und dann können wir morgen endlich loslegen.“ Es vergehen weitere Stunden. Walid, der letzte Organisator - ein kleiner Mann, der stets zu Späßen aufgelegt ist - erreicht das Hotel um drei Uhr morgens. Er schläft drei Stunden, tapert mit kleinen Augen zum Frühstück, setzt sich ins Begleitfahrzeug und fährt hinaus, um die Strecke der ersten Wüstenprüfung zu kontrollieren.

"Die Leute haben nicht genug Geld für Benzin"

Noch im vergangenen Jahr hatten sich 18 Teilnehmer für das Rennen angemeldet, das mit semiprofessionellen Allradautos gefahren wird. In diesem Jahr sind es nur halb so viele. „Wir haben eine Wirtschaftskrise, die Leute haben nicht genug Geld für die Anreise und das Benzin“, sagt Anour, der sich ebenfalls bei der FTA engagiert und mit Walid die Strecke abfährt. Er spricht vier Sprachen und hat eine tiefe, kräftige Stimme. „Und dann gab es noch eine Terrorwarnung. Einige wenige Teilnehmer haben auch deswegen abgesagt.“

tunesien

Neun Teilnehmer. Vielleicht wäre das Rennen in Europa abgesagt worden. Und trotzdem pflügen Walid und Anour mit ihrem Landrover durch die malerische aber gleichzeitig harsche Felslandschaft um Tataouine. An Sträuchern befestigen sie Markierungen aus rot-weißem Flatterband, damit die Fahrer nicht von der Strecke abkommen. Sie stellen Checkpoints mitten im Nichts auf. Und sie testen mit röhrendem Motor die Sanddünen, in denen bulligste Motorenkraft zwischen Millionen kleiner Staubkörner ins Leere laufen kann, wenn man nicht im richtigen Winkel auffährt.

„Bis zur Revolution gab es in Tunesien keine Vereinigungsfreiheit“, sagt Anour. „Nur der stattliche Motorsportverband durfte Rennen wie diese organisieren. Selbst wenn wir gewollt hätten, wir hätten dieses Rennen nie organisieren können.“

Vielleicht gehen sie deshalb mit so viel Liebe zum Detail ans Werk: Mehrere Wochen lang hatten sich die Verantwortlichen Urlaub genommen, um die Etappen zu planen. In Tataouine finden vier Fahrprüfungen statt. Es kommt nicht darauf an, sie so schnell wie möglich zu absolvieren, sondern so genau wie es geht in einer bestimmten Zeit. So gleichen sich die unterschiedlichen technischen Voraussetzungen halbwegs aus. Bei der Planung achteten Anour und seine Mitstreiter darauf, dass jede Etappe unterschiedliche Geländeverhältnisse beinhaltet: Sand, Geröll, Piste, Gras. „das muss man sich vorstellen: für neun Teilnehmer“, sagt Anour.





Das kleine Teilnehmerfeld. Die Ursachen. Natürlich ist auch die Terrorwarnung im Fahrerlager ein Thema. Tatsächlich haben mehrere Staaten, darunter auch die Bundesrepublik, im Herbst Reisewarnungen oder –hinweise ausgesprochen: „Das Auswärtige Amt rät (jedoch) angesichts der bestehenden terroristischen Gefährdung zu erhöhter Aufmerksamkeit, insbesondere in der Nähe touristischer Anziehungspunkte und religiöser Kultstätten sowie an symbolträchtigen Daten, wie zum Beispiel hohen religiösen und anderen Feiertagen.“

In Tataouine selbst ist davon wenig zu spüren. Eine Stadt verändert sich unter dem Eindruck des Terrors. Das lässt sich am besten in Ländern beobachten, die mit alltäglicher extremistischer Gewalt leben müssen, und es sind eher die kleinen Dinge, die auffallen: Nicht die Polizeipräsenz oder Checkpoints des Militärs, auch nicht die politischen Botschaften auf Wänden und Plakaten oder gewalttätigen Demonstrationen – sondern die Art und Weise, wie Menschen sich gegenseitig beobachten.

Aufklappende Handys als Symbol für Westler

In Regionen, wo der Terror das Alltagsleben erreicht hat, haben die Bürger ein Auge aufeinander. Manchmal belauern sie sich regelrecht. In Kabul sind aufklappende Handys für Westler zum Symbol geworden: Wo sie zu sehen sind, droht theoretisch Gefahr. Längst nicht immer. Aber wer weiß schon, wann es ernst wird? Bereits die Drohung des Terrors wirkt schon. In Bagdad sitzen ältere und jüngere Männer am Straßenrand und mustern die Passanten. Sie erkennen an den Schuhen, ob jemand einer Spezialeinheit angehört oder nicht und wissen von Orten zu berichten, die sie niemals, - niemals – passieren würden. Kirchen zum Beispiel. Frauen sieht man tagsüber kaum auf der Straße. Und abends nie.

Von all dem ist in Tataouine nichts zu spüren. In den Cafes hocken Männergruppen im Kreis und spielen klackernd Domino. Kommt jemand von außen, riskieren sie keinen Blick. Sie sind ganz bei ihrem Spiel. Mädchen gehen nachmittags in kleinen Gruppen von der Schule nach Hause. Und ein Taxifahrer schimpft in fließendem Englisch: „Es gibt hier keine Terrorprobleme. Es gibt Kräfte, die unsere derzeitige Regierung destabilisieren wollen, weil sie zurück zum Ben-Ali-Regime wollen!“ Die Terrordrohung ziele auf den Tourismus, mit dem das Land einen beträchtlichen Teil seines Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes machte der Dienstleistungssektor im Jahr 2012 fast zwei Drittel des Nationaleinkommens aus. Wer Tunesien schwächen will, verängstigt die Reisewilligen.

tunesien

Dass islamistische Extremisten genau das im Sinn haben, zeigte sich Ende Oktober. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich vor einem Hotel in der nordtunesischen Touristenstadt Sousse in die Luft. Außer ihm kam dabei niemand zu Schaden. Doch die Botschaft des Terrors war in der Welt: Auch in den Hochburgen des Pauschaltourismus ist niemand hundertprozentig sicher. Doch was sagt das über das Land als Ganzes aus?

Politisch gesehen kommen die Reformen langsam in Gang. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 haben die Tunesier kaum Erfahrung im Umgang mit Demokratie sammeln können. Zwei autokratische Herrscher regierten 55 Jahre lang und ließen kaum Opposition zu. Dann kam die Arabische Revolution, die hier in Tunesien ihren Ausgang nahm.

Islamisten stellen kurioserweise die Mehrheit in der Versammlung

Am 14. Januar 2011 stürzte Diktator Zine al-Abidine Ben Ali. In drei Jahren mühevoller Arbeit hat die verfassungsgebende Versammlung seither ein Gesetzeswerk erarbeitet, das künftig die Grundlage des politischen Handelns darstellen soll. Es umfasst 150 Artikel und muss in den kommenden Monaten Passus für Passus abgestimmt werden. Der Islam soll demnach als vorherrschende Glaubensrichtung anerkannt werden, Recht jedoch wird künftig unabhängig von der Scharia gesprochen werden. Der entsprechende Artikel wurde vor knapp einer Woche mit großer Mehrheit verabschiedet. Kurioserweise stellen Islamisten die Mehrheit in der Versammlung. Und Kritiker merkten postwendend an, dass sich verschiedene Paragraphen der Verfassung flexibel auslegen ließen.

Abends, nach der ersten Etappe, diskutieren auch die Teilnehmer der Rallye Ksour über Politik. Beim Tee sitzen sie in einer der burgähnlichen Anlagen, genannt Ksar, die der Region ihren Namen gegeben haben. Frei übersetzt heißt Ksour so viel wie „Burgenland“. George Lucas hat hier in den 70er Jahren die ersten Star Wars-Filme gedreht. Luke Skywalkers Heimatplanet heißt „Tatooine“, ein Tribut an die größte Stadt des Ksour. Ab und zu kommen echte Fans des Star Wars-Universums hier her, um die Drehorte zu besichtigen. Gerne hätten sie hier mehr Tourismus.

"Hier braucht keiner Angst zu haben"

Doch Schreckensmeldungen wie der Terroranschlag vom Oktober sind Gift für die tunesische Fremdenverkehrsindustrie. Ein Fahrer merkt mit leiser Stimme an: „Eigentlich sind wir Tunesier doch entspannte Menschen. Hier braucht keiner Angst zu haben. Das ist ganz anders als etwa in Libyen.“ Ein anderer lobt die landschaftlichen Vorzüge der Region. Es ist, als sprächen sie von einem Tunesien, das möglich ist. Vielleicht bald schon. „Aber eine Sache gibt mir schon zu denken“, sagt ein Dritter. „Ich wünschte, wir hätten eine Mentalität, in der wir Probleme anpacken und lösen können. Das fehlt hier leider.“ Es ist, als wollten sie nicht sehen, was sie selbst in diesem Moment gerade erreicht haben.

Am nächsten Tag geht ein Teilnehmer in der Wüste verloren. Er taucht weder am ersten noch am zweiten Checkpoint auf, und auch nicht im Ziel. Im Geröll westlich von Tataouine gibt es keinen Handyempfang, die nächste Oase ist kilometerweit entfernt. Anour und Walid fahren die Hügel ab, stellen sich auf Anhöhen, um Ausschau zu halten. Das ganze Team sucht mit, auch die Polizei schaltet sich ein. Nach drei Stunden erfahren die Männer, dass der Fahrer schlicht die Übersicht verloren hat und dann ins Hotel zurückgefahren ist. Ohne jemanden Bescheid zu sagen.

Am Nachmittag sind sie wütend. Am Abend schon nicht mehr. Und tags darauf machen sie Witze über Mohammed, den verloren Fahrer. Die Episode ist da schon längst Teil der Geschichte geworden: Der von einigen mutigen Motorsportbegeisterten, die inmitten von Bergen und Sand ihre Freizeit opfern, um ein Rennen möglich zu machen. Und ein Stück Freiheit.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>