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Die beste Party meines Lebens: Mein 9. November

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Den ganzen Tag schon hatte ich mich auf mein Rendezvous am Abend gefreut. Mein Studenten-Job in der Lokalredaktion des SFB war klasse, aber ich war nicht so wirklich bei der Sache. Gerade hatte ich jemanden kennengelernt und hatte mich verabredet, heute bei mir zu kochen. Um 20:00 Uhr sollte es losgehen. Und ich wollte noch jede Menge vorbereiten.

Vor einem Fernseher in der Redaktion saßen wir alle zusammen, und schauten die legendäre Pressekonferenz mit Günter Schabowski im damaligen internationalen Pressezentrum der DDR. Viele staunten, waren ungläubig, und ich erinnere mich noch, wie jemand sagte: „Das klingt ja fast so als wär die DDR zu Ende." Es wurde gelacht. Ein anderer sagte: „Vielleicht sollten wir ein Kamera-Team schicken, könnte ja sein, dass das jemand glaubt."



Natürlich waren allen die Unruhen im Osten bewusst. Viele Berliner Familien waren geteilt und die Verwandten dort erzählten uns, so könne es nicht weitergehen. Aber, da sie das immer taten, dachten wir uns nicht wirklich was dabei. Aus heutiger Sicht betrachtet war das alles eine logische Folge, all die Montagsdemos, die große Demo auf dem Alexanderplatz. Aber damals war es schlicht undenkbar. Natürlich herrschte ein Wind des Wechsels in Berlin. Aber wahrscheinlich fehlt uns einfach die Fantasie, das Unmögliche zu denken. Da waren uns „die Brüder und Schwestern aus dem anderen Teil Deutschlands" anscheinend ein bisschen voraus.

Eigentlich wollte ich kochen

Meine Gedanken waren eh schon woanders! Mein Job war zu Ende und ich rannte los, wollte nach Hause. Gerade angekommen kam auch schon mein Besuch. Wir begannen bei guter Musik die Kochvorbereitungen. Ich weiß noch, dass ich mit Zwiebeln schneiden beschäftigt war, als mein Telefon klingelte. Meine Mutter war dran. Ausgerechnet meine Mutter! Sie fragte: „Wieso bist Du zu Hause? Weißt Du nicht, dass die Mauer fällt?" Ich war genervt, erwiderte nur „Mami ich kann gerade nicht, habe eine wunderbare Verabredung hier zu Hause, das ist echt wichtiger." Und wimmelte sie ab. Meine Mutter sagte etwas von Geschichte passiert, doch ich murmelte, mag ja sein, hatte kein Ohr dafür. Nachdem meine Mutter nochmal anrief, machten wir den Fernseher an und sahen, was in der Zwischenzeit passiert war.

Party am Brandenburger Tor

Natürlich ließen wir das Kochen Kochen sein, sprangen in die S-Bahn und fuhren in Richtung Mitte. Dort war es bereits richtig voll. Vom S-Bahnhof Tiergarten liefen wir ungefähr eine Viertelstunde durch die Menschenmassen zum Brandenburger Tor. Die Mauer war relativ nah an den Bäumen des Tiergartens und es war unglaublich eng, mit einer extrem positiv geladenen Stimmung. Es war bitterkalt, aber ich tanzte mit Leuten, die ich noch nie gesehen hatte. Alle umarmten sich, küssten sich. Viele hatten Sekt dabei, die Flaschen kreisten.

Plötzlich war da eine Leiter und man konnte rauf auf die Mauer. Wie oft hatten wir davor gestanden, und dann waren wir plötzlich oben. Unglaublich! Von oben konnten man die Massen auf der anderen Seite sehen. Da passierte was... VoPos wurden umarmt, drüben fand die gleiche Party statt.

Geschichte live

Das festliche Treiben zog mich mit - hin zum nächsten Grenzübergang. Und da sah man, wie offen die Mauer war. Ein steter Strom lief ungläubig staunend die Straße entlang in den Westen. Alle hatten so einen glückselig staunenden Blick. Kein Hollywood Regisseur hätte sich das besser ausdenken können. Aber es war wahr! Und das war's, was es so beeindruckend machte. Geschichte live und wir waren mittendrin! Da war eine unglaubliche Energie! Es wurde überall umarmt, geküsst, angestoßen. Viele hatten merkwürdige Getränke mitgebracht: wahrscheinlich selbst gebrannter Wodka.

Auch flossen viele Tränen, vor allem bei den Älteren. Und Sorgen waren auch da: Oh Gott was macht „der Russe"? Was macht die Stasi? Werden sie in ihren Kasernen bleiben? Oder erleben wir so etwas wie in Prag? Aber wahrscheinlich war es diese surreale Energie, die alle Bedenken und negativen Energien fortblies. Mit Polizisten, Grenzern und auch Busfahrern wurde getanzt, sie wurden umarmt, geherzt und gedrückt. Irgendwie war das alles unwirklich und eigentlich unbeschreiblich.

Es grenzt an ein Wunder, dass bei den vielen Menschenmassen alles so friedlich verlief. Aber so war es. Und die östlichen Ordnungshüter waren genauso. Alles war einfach wie eine gigantische Party. Und das Beste: Am nächsten Morgen war alles kein Traum!

Kleiner Nachsatz: Mein Koch-Date und ich haben uns im Strom der feiernden Massen irgendwann aus den Augen verloren, aber es war die beste Party meines Lebens.

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