Kein Zweifel kann daran bestehen, dass die Annexion der Krim völkerrechtswidrig ist und alle Versuche, das rechtswidrige Verhalten durch Gesten der Selbstbestimmung zu heilen ihr Ziel verfehlen. Dahinter aber wirft sich die Frage auf, die später Historiker, uns aber schon heute beschäftigen muss: ist dieses Vorgehen Teil einer Großen Strategie, Russland als Weltmacht auferstehen zu lassen, oder reagierte der russische Präsident auf die als bedrohlich wahrgenommene Ausweitung des westlichen Einflussgebietes in die Ukraine?
Von der Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich ab, welche Lösung es für den anhaltenden Konflikt geben kann. Deswegen ist es nicht nur eine abstrakt politische Frage, sondern eine, die Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in ganz Europa hat.
Unzureichende Analyse
Die westliche Ukraine- und Russlandpolitik leide daran, dass ihr keine adäquate Analyse des post-sowjetischen Raums zugrunde liegt, lautet das zentrale Argument von Herfried Münkler in einem beachtenswerten, pointiert geschriebenen Artikel. Münklers Kategorien tragen wesentlich dazu bei, ein noch besseres Verständnis der Lage der betroffenen Staaten zu entwickeln.
Seine Ursachenforschung kann andere Analysen produktiv ergänzen. Angesichts der turbulenten Lage und der politisch verfahrenen Situation kann nicht genug nachgedacht werden, um die Entwicklungen der europäischen Staatenordnung, der europäischen Sicherheit und des wirtschaftlichen Austauschs zu verstehen.
Einen Punkt in Herfried Münklers Analyse würde ich aber gerne hinterfragen. Mir geht es um das drin verborgene Argument, dass eine unzureichende Analyse zu unzureichender Politik geführt hat, dass - wie er schreibt - wegen des analytischen blinden Flecks "Politiker der Europäischen Union ... Putins Agieren auf der Krim und in der Ostukraine ratlos gegenüber(stehen)." Das würde die europäischen Politiker kräftig entlasten, wenn sie nicht sehen konnten, was nur durch die post-imperialistische Brille zu sehen ist.
Der post-imperialistische Raum
Um Münklers These des post-imperialistischen Raumes ausführlich zu zitieren, weil sie wert ist, gelesen zu werden, folgt hier ein längerer Ausschnitt. Er schreibt:
„Der Hauptgrund für die westliche Fehlbeurteilung der politisch-militärischen Elite in Russland dürfte darin liegen, dass Theorien, die auf der Grundannahme rationaler Nutzenmaximierung errichtet wurden, den Einfluss historischer Erinnerung für Entscheidungen nicht kennen. Deshalb wurden Sentiments und Ressentiments nicht systematisch in die Modelle einbezogen.
So wurde die Äußerung Wladimir Putins, der Zerfall der Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", als Anekdote zur melancholischen Stimmung des Kremlherrn begriffen, nicht aber als handlungsleitende Vorstellung maßgeblicher russischer Politiker.
Hätte man dagegen die Bedeutung historischer Erinnerung an einstige Größe in Rechnung gestellt, dann hätte man mit einem entsprechenden Agieren der Russen gerechnet, sobald bestimmte Entwicklungen die alte Größe in noch weitere Ferne zu rücken drohten. Folglich hätte man bei Beachtung historischer Reminiszenzen die Gespräche über ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine mit größerer Sensibilität für russische Befindlichkeiten geführt und entweder Rücksicht genommen oder mit einer heftigen Reaktion gerechnet.
Die Europäer aber taten weder das Eine noch das Andere. Das spricht dafür, dass neoimperiale Träume und ein durch sie angeleitetes Handeln der Russen außerhalb ihres Analyserasters lagen. Es ist an der Zeit, dieses Analyseraster einer gründlichen Revision zu unterziehen."
Nationale Interessen
Aber hätte die russische Interessenlage nicht auch sehen können, wer in nationalstaatlichen Kategorien denkt? Hätte eine Betrachtung der Lage aus nationalen Interessen und regionalen Ordnungsvorstellungen heraus nicht auch dazu leiten können, ja müssen, die Bedeutung der Ukraine für Russland zu erkennen? Ich denke schon und möchte deshalb argumentieren, dass die Politiker der Europäischen Union sehr wohl sehen konnten, was sie da taten und weiterhin tun.
Vielleicht hätten sie es aus unzureichenden Gründen und mit eingeschränktem Blick sehen können, weil sie in nationalstaatlichen und nicht in post-imperialistischen Kategorien dachten. Darüber mag ich an dieser Stelle nicht argumentieren. Mir geht es also nicht um den post-sowjetischen Raum und die in ihm wirkenden Kräfte, sondern um die EU und die in ihr wirkenden Kräfte.
Aus dem Maschinenraum
Nachdem Altbundeskanzler Helmut Schmidt der EU „Größenwahn" in ihrer Ukrainepolitik vorgeworfen hatte, konterte der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen derart laut und schroff, dass man dahinter andere politische Kräfte vermuten muss, für die er hier ins Feuer sprang. (Zum Hintergrund: Günter Verheugen hatte wegen des Koalitionswechsels der FDP und des Sturzes von Helmut Schmidt die FDP verlassen und war der SPD beigetreten.) Verheugen möchte die EU-Kommission gegen Schmidt in Schutz nehmen, weshalb er sehr deutlich die Entwicklung beschreibt. Wörtlich heißt es :
„Noch im September 2013 hatte die ukrainische Regierung, trotz des Drucks aus Moskau, an der Assoziierung festgehalten und das, obwohl die EU durch ihre Parteinahme für Tymoschenko faktisch den amtierenden Regierungschef zum politischen Gegner erklärt hatte und längst mit der damaligen Opposition in der Ukraine paktierte. Die Haltung der ukrainischen Regierung änderte sich erst, als das Land auch in die wirtschaftliche Schieflage geriet und niemand in der EU das ernst nahm. Zudem hat die EU im Jahr 2013 kein Gespräch mit Russland gesucht, und auch das kann nicht der Kommission allein angelastet werden.
Mit Russland wurde schlicht nicht darüber geredet, was die Assoziierung der Ukraine (und anderer) politisch und wirtschaftlich bedeutet. Russische Bedenken, dass sich dadurch der Handel mit der Ukraine verschlechtern könnte, wurden vom Tisch gewischt."
Weiter schreibt er:
„EU-Politiker ... haben sich offen mit dem sogenannten Euro-Maidan solidarisiert und nicht gesehen oder sehen wollen, dass es sich weder um eine landesweite noch um eine homogene Bewegung handelte. Europäische Politiker erwiesen sich als blind für die innenpolitischen Spannungen zwischen der Ost- und der Westukraine."
Aufarbeitung der Ukrainepolitik
Aufgrund ihrer bisher abweichenden Haltungen wäre von der Hohen Beauftragten Frederica Mogherini eine Aufarbeitung der Russland- und Ukrainepolitik der EU zu erwarten gewesen. Aber nur kurze Zeit. Das hat sich inzwischen erledigt. In der Anhörung vor dem Europäischen Parlament erklärte sie: Russland ist derzeit kein Partner der Europäischen Union, wichtiger sei es, an der Seite der Ukraine zu stehen. Wobei auch eine Verschärfung der Sanktionen in Betracht komme, falls sich Russland nicht an die verabredete Pufferzone in der Ostukraine hält.
Die dringend gebotene Aufarbeitung der Ukrainepolitik der EU wird also ausbleiben. Das hat aber weniger mit der Welt, sondern mehr mit den Ränkespielen in der EU zu tun. Für deren Klima mag das angenehm sein. Für die Außenpolitik der Europäischen Union aber ist es kontraproduktiv.
Hier kommt die Analyse von Herfried Münkler wieder anregend ins Spiel, um über die Analyse nationaler Interessen hinaus auch mit post-imperialistischen Kategorien darüber nachzudenken, wie die Russland- und Ukrainepolitik der EU in Zukunft ausgestaltet werden sollte.
Von der Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich ab, welche Lösung es für den anhaltenden Konflikt geben kann. Deswegen ist es nicht nur eine abstrakt politische Frage, sondern eine, die Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in ganz Europa hat.
Unzureichende Analyse
Die westliche Ukraine- und Russlandpolitik leide daran, dass ihr keine adäquate Analyse des post-sowjetischen Raums zugrunde liegt, lautet das zentrale Argument von Herfried Münkler in einem beachtenswerten, pointiert geschriebenen Artikel. Münklers Kategorien tragen wesentlich dazu bei, ein noch besseres Verständnis der Lage der betroffenen Staaten zu entwickeln.
Seine Ursachenforschung kann andere Analysen produktiv ergänzen. Angesichts der turbulenten Lage und der politisch verfahrenen Situation kann nicht genug nachgedacht werden, um die Entwicklungen der europäischen Staatenordnung, der europäischen Sicherheit und des wirtschaftlichen Austauschs zu verstehen.
Einen Punkt in Herfried Münklers Analyse würde ich aber gerne hinterfragen. Mir geht es um das drin verborgene Argument, dass eine unzureichende Analyse zu unzureichender Politik geführt hat, dass - wie er schreibt - wegen des analytischen blinden Flecks "Politiker der Europäischen Union ... Putins Agieren auf der Krim und in der Ostukraine ratlos gegenüber(stehen)." Das würde die europäischen Politiker kräftig entlasten, wenn sie nicht sehen konnten, was nur durch die post-imperialistische Brille zu sehen ist.
Der post-imperialistische Raum
Um Münklers These des post-imperialistischen Raumes ausführlich zu zitieren, weil sie wert ist, gelesen zu werden, folgt hier ein längerer Ausschnitt. Er schreibt:
„Der Hauptgrund für die westliche Fehlbeurteilung der politisch-militärischen Elite in Russland dürfte darin liegen, dass Theorien, die auf der Grundannahme rationaler Nutzenmaximierung errichtet wurden, den Einfluss historischer Erinnerung für Entscheidungen nicht kennen. Deshalb wurden Sentiments und Ressentiments nicht systematisch in die Modelle einbezogen.
So wurde die Äußerung Wladimir Putins, der Zerfall der Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", als Anekdote zur melancholischen Stimmung des Kremlherrn begriffen, nicht aber als handlungsleitende Vorstellung maßgeblicher russischer Politiker.
Hätte man dagegen die Bedeutung historischer Erinnerung an einstige Größe in Rechnung gestellt, dann hätte man mit einem entsprechenden Agieren der Russen gerechnet, sobald bestimmte Entwicklungen die alte Größe in noch weitere Ferne zu rücken drohten. Folglich hätte man bei Beachtung historischer Reminiszenzen die Gespräche über ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine mit größerer Sensibilität für russische Befindlichkeiten geführt und entweder Rücksicht genommen oder mit einer heftigen Reaktion gerechnet.
Die Europäer aber taten weder das Eine noch das Andere. Das spricht dafür, dass neoimperiale Träume und ein durch sie angeleitetes Handeln der Russen außerhalb ihres Analyserasters lagen. Es ist an der Zeit, dieses Analyseraster einer gründlichen Revision zu unterziehen."
Nationale Interessen
Aber hätte die russische Interessenlage nicht auch sehen können, wer in nationalstaatlichen Kategorien denkt? Hätte eine Betrachtung der Lage aus nationalen Interessen und regionalen Ordnungsvorstellungen heraus nicht auch dazu leiten können, ja müssen, die Bedeutung der Ukraine für Russland zu erkennen? Ich denke schon und möchte deshalb argumentieren, dass die Politiker der Europäischen Union sehr wohl sehen konnten, was sie da taten und weiterhin tun.
Vielleicht hätten sie es aus unzureichenden Gründen und mit eingeschränktem Blick sehen können, weil sie in nationalstaatlichen und nicht in post-imperialistischen Kategorien dachten. Darüber mag ich an dieser Stelle nicht argumentieren. Mir geht es also nicht um den post-sowjetischen Raum und die in ihm wirkenden Kräfte, sondern um die EU und die in ihr wirkenden Kräfte.
Aus dem Maschinenraum
Nachdem Altbundeskanzler Helmut Schmidt der EU „Größenwahn" in ihrer Ukrainepolitik vorgeworfen hatte, konterte der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen derart laut und schroff, dass man dahinter andere politische Kräfte vermuten muss, für die er hier ins Feuer sprang. (Zum Hintergrund: Günter Verheugen hatte wegen des Koalitionswechsels der FDP und des Sturzes von Helmut Schmidt die FDP verlassen und war der SPD beigetreten.) Verheugen möchte die EU-Kommission gegen Schmidt in Schutz nehmen, weshalb er sehr deutlich die Entwicklung beschreibt. Wörtlich heißt es :
„Noch im September 2013 hatte die ukrainische Regierung, trotz des Drucks aus Moskau, an der Assoziierung festgehalten und das, obwohl die EU durch ihre Parteinahme für Tymoschenko faktisch den amtierenden Regierungschef zum politischen Gegner erklärt hatte und längst mit der damaligen Opposition in der Ukraine paktierte. Die Haltung der ukrainischen Regierung änderte sich erst, als das Land auch in die wirtschaftliche Schieflage geriet und niemand in der EU das ernst nahm. Zudem hat die EU im Jahr 2013 kein Gespräch mit Russland gesucht, und auch das kann nicht der Kommission allein angelastet werden.
Mit Russland wurde schlicht nicht darüber geredet, was die Assoziierung der Ukraine (und anderer) politisch und wirtschaftlich bedeutet. Russische Bedenken, dass sich dadurch der Handel mit der Ukraine verschlechtern könnte, wurden vom Tisch gewischt."
Weiter schreibt er:
„EU-Politiker ... haben sich offen mit dem sogenannten Euro-Maidan solidarisiert und nicht gesehen oder sehen wollen, dass es sich weder um eine landesweite noch um eine homogene Bewegung handelte. Europäische Politiker erwiesen sich als blind für die innenpolitischen Spannungen zwischen der Ost- und der Westukraine."
Aufarbeitung der Ukrainepolitik
Aufgrund ihrer bisher abweichenden Haltungen wäre von der Hohen Beauftragten Frederica Mogherini eine Aufarbeitung der Russland- und Ukrainepolitik der EU zu erwarten gewesen. Aber nur kurze Zeit. Das hat sich inzwischen erledigt. In der Anhörung vor dem Europäischen Parlament erklärte sie: Russland ist derzeit kein Partner der Europäischen Union, wichtiger sei es, an der Seite der Ukraine zu stehen. Wobei auch eine Verschärfung der Sanktionen in Betracht komme, falls sich Russland nicht an die verabredete Pufferzone in der Ostukraine hält.
Die dringend gebotene Aufarbeitung der Ukrainepolitik der EU wird also ausbleiben. Das hat aber weniger mit der Welt, sondern mehr mit den Ränkespielen in der EU zu tun. Für deren Klima mag das angenehm sein. Für die Außenpolitik der Europäischen Union aber ist es kontraproduktiv.
Hier kommt die Analyse von Herfried Münkler wieder anregend ins Spiel, um über die Analyse nationaler Interessen hinaus auch mit post-imperialistischen Kategorien darüber nachzudenken, wie die Russland- und Ukrainepolitik der EU in Zukunft ausgestaltet werden sollte.