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Aus dem Leben eines Grenzsoldaten: Wache an der Berliner Mauer

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Um 13.45 Uhr ist Vergatterung. Ein Ritual noch von Preußen. Man bekommt vereidlicht wie mit einer Gebetsmühle täglich den gleichen Befehl zum Grenzdienst vorgebetet. (Vergatterung ist die Wache vergattern; beim Ablösen die Wache versammeln und zur Einhaltung der Vorschriften verpflichten).

„Sie haben die Aufgabe... die Staatsgrenze der DDR zu sichern und Provokationen und Grenzverletzungen mit „allen Mitteln!" zu verhindern..., Ausführung!"

Dass wir wehrdienstpflichtige Soldaten mit dieser „Vergatterung" einen heute völkerrechtlichen und strafrechtlichem Aspekt bei der Annahme einer Befehlskette in Friedenszeiten zum Töten befolgen sollen, haben damals viele Grenzsoldaten nicht im geringsten geahnt.

Für die Offiziere und Berufsunteroffiziere ist es militärische Befehlsroutine, für uns ist es ein täglich langweiliges Gesülze, das man auch noch voll bepackt mit Waffe und Ausrüstung im Stehen über sich ergehen lassen musste. Dass es wichtig ist, ist uns schon bewusst, und mancher macht sich so seine Gedanken.

Die Haager Landkriegsordnung hat uns niemand gezeigt, wo drin steht, dass man nur im Kriege auf Zivilisten schießen darf, wenn sie offen eine Waffe mitführen. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse belegen, dass schon mal ein Chef des Oberkommandos der Wehrmacht auch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in diesem Sinne am Galgen baumelte. Er wurde als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt.

Dass gar kein Krieg war, war eigentlich wenigen klar. Eventuell Unteroffizier Gustav, der zum Feldwebel befördert werden wollte und sich die entsprechende Dienstvorschrift manchmal leise verinnerlichte.

Ablauf eines Wachtages

Am Tage des Wachantritts erhält die Wache mindestens drei Stunden Zeit zur Wachvorbereitung. Diese umfasst: die Wachbelehrung; das Wachexerzieren; die persönliche Vorbereitung.

Bei der Wachbelehrung werden die Angehörigen der Wache über die zu erfüllenden Gefechtsaufgaben in den Postenbereichen an Hand von Modellen, Schemata, Dias u. Ä.
eingewiesen. Anschließend werden die Kenntnisse überprüft. Beim Wachexerzieren werden insbesondere die Handhabung der Waffen, die Wach- und Postenablösung und die vorläufige Festnahme geübt.

Die persönliche Vorbereitung dient der Körperpflege sowie der Pflege und Instandsetzung der Bekleidung und Ausrüstung. Die Wache tritt 30 Minuten vor dem Abmarsch zur Vergatterung im Kompaniebereich an und wird mit dem Kommando „Wache antreten!„ dem Wachhabenden unterstellt.

Anschließend erfüllt der Wachhabende folgende Aufgaben: Empfang der Wachmunition vom Zutrittsberechtigten für die Waffenkammer; Ausgabe der Munition an die Angehörigen der Wache gegen Unterschrift; Überprüfen des richtigen Füllens der Magazine; Durchsicht der Waffen; Kontrolle der Vollzähligkeit der Wache und des Zustands der Bekleidung
und Ausrüstung; Überprüfen des Wachdokuments; Meldung der Bereitschaft der Wache zur Vergatterung an den Kompaniechef."

Mit dem LKW ins Grenzgebiet

Sofort nach der Vergatterung, die diesmal vom Stabsfeldwebel Huschelchen mit glänzenden Augen absoluter militärischer Wichtigkeit vorgetragen wird, sind wir auf einen mit graugrüner Plane bespannten LKW, Marke W50 geklettert, der wenige Minuten danach in die
Rummelsburger Hauptstrasse in Richtung Ostbahnhof einbiegt und nach 10 Minuten an der Schillingbrücke hält.

Wer hinten, an der Ladefläche sitzt, wird bei Regenwetter von den Wasser- und Dreckspritzern, die der LKW bei seiner flotten Fahrt durch die Berliner Straßen aufwirbelt, leicht bekleckert. Die Plane an der Rückseite des LKWs ist herunter gelassen, damit die Berliner nicht mehrmals tagtäglich sehen, wer da bis an die Zähne bewaffnet durch die Hauptstadt der DDR kutschte.

Da das Absteigen schnell funktioniert, war die Plane nicht festgezurrt und so wurden die, die hinten saßen und als erste absteigen mussten eben nass.

„Genosse Hebstreit und Asbach absteigen!"

Es ist kurz nach 14.00 Uhr, als wir beide leicht vollgekleckert vom Berliner Regenwetter auf der Schillingbrücke zwei total durchnässte und durchgefrorene Soldaten ablösen, die seit dem frühen Morgen vor uns Grenzdienst hatten. Die beiden Helden hatten ihren Regenumhang vergessen und fluchen, weil ihnen ihre Unteroffiziere keinen Regenumhang pumpten, obwohl die im warmen Postenturm keinen Regenumhang benötigten.

Die melden uns was für eine "Lage" ist. „An den Stolperdrähten im Hinterland der Mauer am
Osthafen sind ‚Zwei Sterne Grün' (ein Feuerwerk-Signalgerät mit Drähten dicht am Boden verspannt), hoch gegangen und werden in der nächsten halben Stunde von einer anderen Einheit ausgewechselt".

Nun aber müssen beide noch ungefähr eine halbe Stunde vor dem Hinterlandzaun warten, bis der LKW wieder zurück gekutscht kommt, um sie aufzunehmen.

„Scheiße", denke ich dabei, „bei Dienstende geht es mir genau so!" Gott sei Dank, wir hatten unsere Regenumhänge dabei und wickelten uns in das klamme, stinkende Gummi und sehen nun aus wie marokkanische Bergbewohner in ihrer Jeballah.

Der erste Gedanke dabei ist, die Knarre nicht nass werden lassen, denn das kostet nach dem Dienst eine halbe Stunde mehr Zeit, zum Waffen reinigen. Unter den Regenumhang durfte man aber die Maschinenpistole Kalaschnikow nicht nehmen, weil sonst nach Dienstvorschrift das Schießen nicht so fix wie vorgeschrieben praktiziert werden kann.

Also wird das Schießgerät so unter den Arm geklemmt, dass nur der Lauf mit einer Gummikappe verschlossen und der Gewehrschaft die Regentropfen abbekommt. Doch heute klappt es nicht, die Waffe wird gebadet.

8 Stunden Dienst bei Regen und Kälte

So beginnt unser Grenzdienst. Wir sollen nun acht Stunden ohne Pause auf der Brücke herum im Kreis laufen. Einer sieht acht Stunden in die Richtung von 12 bis 6 Uhr, einer sieht von 6 bis 12 Uhr. Wir tun dann so, als tun wir das! Wir besprechen erst mal unsere letzten außerdienstlichen Erlebnisse, die sich um Fußball und Mädchen drehen.

Auf der Schillingbrücke steht ein aus Hohlblocksteinen gemauerter alter Postenturm aus der Zeit des Mauerbaus von 1961/62. Dieser Postenturm ist ein Leitstand, wo ein Offizier und ein Unteroffizier stündlich die Meldungen der anderen Postenabschnitte telefonisch entgegen
nimmt. Manchmal wird der Postenturm angerufen und manchmal muss die Besatzung auch selber anrufen.

Die Telefonanlage ist einfach und hat oft Wackelkontakt und funktioniert nicht. Man muss in die Sprechmuschel brüllen, damit man was am anderen Ende der Leitung versteht. Durch
das Gebrülle hörte manchmal unser „Feind", unser „Gegner" auf der anderen Seite der Mauer unsere Meldungen mit und konnte schnell die Decknamen den jeweiligen Soldaten und Offizieren zuordnen.

„Hier Welle", war dann eben Unterleutnant Sechstück, der dem Grenzkommando
des Grenzabschnitts meldete, dass die 4. Kompanie den Grenzbereich ordnungsgemäß übernommen hat und es keine besonderen Vorkommnisse gibt.

Dann bimmelt aber das Telefon beim Zugführer und es gibt schon das erste Vorkommnis. Unteroffizier Lebrecht, der sich gerade auf der Stralauer Allee befindet, bittet ausgewechselt zu werden. Unteroffizier Lebrecht hat Brechdurchfall.

Der rührt her von der letzten Feier, welche erst eine Stunde vor dem Beginn des Grenzdienstes endete. Lebrecht hatte die Beförderung vom Stabsgefreiten zum Unteroffizier die Nacht durch mit seinen Kameraden befeiert. Lebrecht hat sich in die Hosen geschissen, ist in wenigen Minuten im kompletten Grenzabschnitt rum.

Kurz danach kommt eine weitere Streife angeschlichen, präziser: einer davon kommt auf einem Bein gehüpft und man hat den nächsten Ausfall. Gefreiter Schulzer ist im Gerümpel des stillgelegten Osthafens in einen Nagel getreten, der glatt durch die Gummisohle der neuen Armeestiefel durch den rechten Armeefuß von Schulzer ging.

Schulzer jammert, dass ihm das mit seinen alten Komißbotten mit der stabilen dicken Ledersohle nicht passiert wäre.

Die erste Stunde ist ereignisreich durch diese kleinen Katastrophen wie im Fluge vorbei gegangen. Asbach und ich beginnen nun auf der Schillingbrücke unsere Kreise weiter zu ziehen. Was den Grenzdienst und unsere Aufgabe, die Mauer zu bewachen anbetrifft, brauchen wir praktisch nichts zu tun.

Bellende Hunde, Zäune und die Berliner Mauer

Hier und an dieser Stelle, wenige Meter vom Ostbahnhof ist auch für jeden, der vorhat, die Mauer zu überwinden offensichtlich klar „Hier ist alles dicht!". Postentürme, der Fluss die Spree, bellende Hunde, Signalzäune, Hinterlandszäune, mehrere Reihen von Stacheldraht, Panzersperren und der krönenende Abschluß die „Berliner Mauer" (damals noch aus Hohlblocksteinen) sind hier besonders verdichtet.

Hier schlüpft keine Maus mehr durch und die wenigen Meter bis zu Kreuzberger-, der Westberliner Seite sind 1966 schon fast perfekt abgedichtet. Man kann es täglich von der S-Bahn aus sehen. Es sieht nur unordentlicher aus, wie zum Ende der Mauer 1989.

Wir wissen auch als Grenzsoldaten, dass die Mauer hier ziemlich dicht ist und schauen nach allem Möglichen, nur nicht nach irgendwelchen potenziellen Grenzverletzern. Für uns besonders peinlich und mies ist es, direkt unter den Augen unseres Zugführers und seines Stellvertreters acht Stunden nach unserer Meinung nach nutzlos auf der Schillingbrücke herumzuwandern.

Die glotzen neben ihren bisschen Telefonieren sowieso die ganze Schicht zum Fenster raus. Wir stehen praktisch auf deren Präsentierteller und haben keine Gelegenheit zum Gammeln, zum Ausruhen, zum Sitzen geschweige denn zum Liegen.

Nirgendwo ist eine Unterstellmöglichkeit, kein trockenes Plätzchen. Nur das Brückengeländer, das Brückenpflaster, ein paar Möwen, die Spree und die triste nasse kalte Umgebung der Grenzanlagen. Stacheldraht, Panzersperren, Sperrmauern, Signalzäune, Sperrgräben und rundherum Ruinen noch aus dem Zweiten Weltkrieg, Warnschilder,
Fernmeldesteckdosen, Kabel, Rohre, Bretter- und Drahtzäune.

Das alles muss man sich nun noch vorstellen, sah trotzdem aus wie frisch gefegt. Das sah nicht nur so aus wie frisch gefegt - in unmittelbarer Nähe der letzten Mauer nach Westberlin auf dem Kontrollstreifen wuchs nicht mal Unkraut. Es wurde fast täglich frisch geharkt, um kontrollieren zu können, ob da jemand in Richtung Mauer über das frisch geharkte gelatscht ist.

Hass auf unser Dasein als Grenzsoldaten

Alleine schon, weil unser Zugführer und sein Stellvertreter auf dem einzigen beheizten Wachturm des Abschnitts nach unserer Meinung ganz gemütlich ungestraft herumhockt, lässt bei uns Hass aufkommen. Hass und Neid auf unsere Vorgesetzten, die schön fein im Warmen sitzen.

Hass auf unser Dasein als Grenzsoldaten, die wir bei diesem Sauwetter an den Füßen frieren, an den Händen, an dem Arsch. Wir schleppen unsere Knarre und Munition mit uns herum, die von Stunde zu Stunde schwerer wird und es uns noch nicht einmal gestattet ist, die Waffe auf
der anderen Schulter zu tragen. Gut, nach einigen Monaten gewöhnt sich mancher daran - ich habe mich nie daran gewöhnt.

„Wissen die das, denken die das?", denken und reden wir beim Laufen. In unseren Gesprächen entwickeln sich die wildesten Theorien. "Alles nur Schikane das alles; dass wir hier und heute stehen müssen". „Die Ärsche haben uns bei diesem Wetter besonders schurigeln wollen!"

Soldaten, die unserem Zugführer besonders genehm sind, sitzen irgendwo im Trockenen und Warmen und schaukeln sich die Eier. "Hass auf den Klassenfeind" sollten wir haben - der Klassenfeind geht uns am Arsch vorbei!

Unsere Klassenfeinde sind mehr oder weniger die Offiziers- und Unteroffizierskaste, die Partei, die Funktionäre, die Armee und eigentlich die komplette DDR, als real existierende sozialistische Staatsform, die uns in diese Scheißlage tagtäglich bringt!

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:
"Grenzsoldat"
Hier gibt es eine weitere Leseprobe.

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