
Wir reden derzeit oft über den Zustand der Demokratie in Deutschland. Und doch fehlen uns die Begriffe dafür, was besonders im Osten des Landes passiert – wo die AfD laut jüngsten Umfragen für die nächste Bundestagswahl zur stärksten Kraft geworden ist.
Haben die fünf jüngeren Bundesländer ein strukturelles Problem mit Rassismus? Oder sind es nie verarbeitete Traumata aus der Wendezeit, die Menschen derzeit so viel Wut auf die “Altparteien” und die “Eliten” empfinden lassen?
Und warum tritt der Hass im Osten erst jetzt wieder offen hervor – wo die Abwanderung gestoppt ist, die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Niveau seit der Wiedervereinigung gesunken ist?
Tendenz zur Selbsterniedrigung
Manchmal lohnt ein Blick nach Osteuropa, um auch Ostdeutschland besser zu verstehen.
In Polen – einem Land, dessen Wirtschaft seit 25 Jahren ununterbrochen wächst – stellen Populisten bereits die Regierung. Bei der Parlamentswahl im Jahr 2015 bekamen sie die absolute Mehrheit der Sitze im Sejm. Und seitdem arbeitet die PiS daran, die freiheitliche Grundordnung des Staates zu entkernen.
In Polen diskutieren Experten derzeit über ein Phänomen, das “Autorassismus” genannt wird – also die Diskriminierung der Polen gegen sich selbst.
Wissenschaftler wie zum Beispiel der Philosoph Piotr Stankiewicz beobachten, dass viele Polen sich über Jahrzehnte dem Westen gegenüber minderwertig gefühlt haben.
Gleichzeitig beobachtet er eine Tendenz zur Selbsterniedrigung: Die eigenen, tatsächlich existierenden Erfolge waren nur etwas wert, wenn sie vom Westen gesehen wurden. Und wenn die Menschen aus dem Westen spotteten, war das vielen Polen extrem unangenehm.
Auch in der Europäischen Union hätten viele Bürger stets das Gefühl gehabt, Bürger zweiter Klasse zu sein, die sich – mangels Selbstwertgefühls – immer nur am Vorbild des Westens abarbeiteten.
Debatte rührt am Selbstverständnis eines ganzen Landes
Die PiS bietet diesen Menschen nun einen Lösungsansatz für das Dilemma: Sie verbreitet nicht nur einen aggressiven Nationalismus, sondern entfernt das Land wieder von den demokratischen Werten, die ihnen vom Westen vermeintlich aufgezwungen wurden.
Diese Debatte ist sehr schmerzhaft: Denn sie rührt am Selbstverständnis eines ganzen Landes. Und sie bietet die einfache, naheliegende Lösung: Nämlich mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Dass Ostdeutsche und Polen nach der Wende ähnliche Erfahrungen gemacht haben, hatte bereits zu Beginn dieses Jahres der Politologe Ivan Krastev in einem “Spiegel”-Interview gesagt.
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“Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Ostdeutschen in ihrem politischen Denken und Wahlverhalten den Polen näher sind als den Westdeutschen”, sagte Krastev damals.

“Ostdeutsche sind auch irgendwie Migranten”
Für Ostdeutsche wie Polen ist der Weg in die Demokratie etwas gewesen, was Krastev eine “Migrationsgeschichte” nennt. “Aber wie bei jeder Migration entdeckt erst die zweite Generation die Grenzen: die Glasdecke zum Beispiel, die ihr den Aufstieg verwehrt, man beginnt, einen romantischen Blick zurückzuwerfen und über die eigene Identität nachzudenken.”
Noch etwas weiter ging die Migrationsforscherin Naika Foroutan in einem Interview mit der “Taz“: ″Ostdeutsche sind irgendwie auch Migranten: Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen.”
Sie wirft den Westdeutschen vor, dass sie die Mitbürger im Osten oft mit ähnlich strukturierten Herabsetzungen konfrontiert hätten wie einst die Migranten aus dem Mittelmeerraum, die als “Gastarbeiter” nach Deutschland kamen. Sie schlägt vor, dass benachteiligte Minderheiten “postmigrantische Allianzen” bilden, um für mehr Gleichheit zu kämpfen.
Sachsen und Deutsch-Türken im Bündnis gegen die immer noch westdeutsch dominierten Führungsebenen in diesem Land?
Das erscheint freilich etwas utopisch in einer Zeit, da die dezidiert fremden- und einwanderungsfeindliche AfD im Osten zur neuen Volkspartei aufgestiegen ist. Hier stößt das Konzept der “Identity Politics” an ideologische Grenzen.
Verneinung der eigenen Wurzeln und Errungenschaften
Trotzdem fand das Interview eine große Resonanz – gerade jüngere Ostdeutsche fanden sich in den Worten Foroutans wieder. Sie fühlten sich verstanden in ihrer eigenen Fremdheit mit einem Land, in das sie selbst vermeintlich migriert waren.
Niemand wird bestreiten, dass Ostdeutsche schmerzhafte Erfahrungen nach der Wende machen mussten – die auch durch den Glauben bei vielen Menschen im Westen an den vermeintlichen “Sieg” des Kapitalismus im “Kampf der Systeme” bedingt waren. Doch womöglich ist es ein wenig einfach, den Grund für die negativen Erfahrungen einzig in den Fehlern der Westdeutschen zu suchen.
Autorassismus ist etwas, das auch den Menschen im Osten der Bundesrepublik ein Begriff sein dürfte – die Herabsetzung des Ostdeutschen durch die Ostdeutschen selbst.
Und das fing bereits während der Wendezeit an – als Wechselspiel von erlebter Ungerechtigkeit aber auch bewusster Verneinung der eigenen Wurzeln und Errungenschaften.
Zwei Millionen Menschen verließen den Osten
Ostdeutsche Künstler fanden zum Beispiel nach der Wende keine Jobs und Auftrittsmöglichkeiten mehr, weil ihre Landsleute lieber westdeutsche Filme schauten und westdeutsche Musik hörten. Ost-Superstars wie die Band „Karat“ verschwanden jahrelang in der Bedeutungslosigkeit.
Die Sängerin von “Silly”, Tamara Danz, klagte 1991 darüber, dass sie als „Ossi“ sofort mit dem DDR-Regime identifiziert werde, eine Erfahrung, die damals viele Menschen aus dem Osten machen mussten. Zudem kam die marktbeherrschende Stellung von West-Labels, die ihre eigenen Vorstellungen von vermarktbarer Kunst hatten.
Danz resümierte bitter: “Eigentlich ist alles wie früher. Damals wurden wir aus ideologischen Gründen zensiert, heute aus ökonomischen.”
Nicht anders ging es den Herstellern von ostdeutschen Markenprodukten. Experten schätzen, dass es etwa 700 Industriemarken in der DDR gab – nur wenige davon haben den Sprung ins wiedervereinigte Deutschland geschafft.
Westprodukte wurden oft als qualitativ hochwertiger wahrgenommen. Andererseits sind viele Ostbetriebe auch durch Misswirtschaft und kriminelle Machenschaften im Umfeld der Treuhand vom Markt verschwunden.
Ostdeutsche wenden sich von Freiheit und Demokratie ab
Ein anderes Beispiel ist der Wegzug von über zwei Millionen Menschen aus dem Osten. Er fand in erster Linie aus ökonomischen Gründen statt: Der Zusammenbruch der Industrie war der wichtigste Grund für den Umzug. Aber eben bei weitem nicht der einzige.
Direkt nach der Wende zogen zum Beispiel viele Menschen in den Westen, die das zuvor aufgrund staatlicher Sanktionen nicht riskieren wollten.
Die oft auf Nutzwert angelegte Stadtplanung in der DDR hatte Lebensräume aus Beton geschaffen, die vielen Menschen nach der Wende nicht mehr attraktiv erschienen.
Es gab aber auch Ostdeutsche, die einfach nicht mehr im Osten bleiben wollten. Ganz ohne den Zwang des Arbeitsmarktes.
Ende der 1990er-Jahre entdeckten die Ostdeutschen wieder das Ostdeutsche. Es war die Zeit, als eine zweite Migrationswelle in den Westen ansetzte, bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit. Es war auch die Phase, in der vor allem junge, gebildete Frauen abwanderten und ganze Landstriche mit einem Männerüberschuss zurückließen.
In dieser Zeit war es das DDR-Deutsche, das Identität stiftete. Nicht etwa der Stolz auf die friedliche Revolution von 1989. Dieser genuin ostdeutsche Erfolg wurde vom Westen als solcher ohnehin nicht anerkannt. Dort sah man die Wende von 1989 vor allem als Rettung des Ostens.
20 Jahre später existiert das gebrochene Verhältnis zur DDR noch
Mit zeitlichem Abstand ist die Abkapselungsgeste von den vermeintlichen Errungenschaften aus zehn Jahren in Freiheit und Demokratie nur schwer zu übersehen.
Anfang der 2000er Jahre boomten “Ostalgie”-Sendungen im deutschen Fernsehen. Es war die Zeit, als sich in Polen die Kaczynski-Zwillinge anschickten, zum ersten Mal die Politik ihres Landes zu bestimmen. Lech amtierte damals als Oberbürgermeister von Warschau. Und Jaroslaw war im Januar 2003 Parteivorsitzender der PiS geworden, die er 2005 zum Wahlsieg führte.
Katarina Witt warb damals in FDJ-Bluse für eine RTL-Show über die DDR.
In der erz-bundesrepublikanischen “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” spottete damals Michael Hanfeld über die “Ostalgie”-Show des ZDF: ”Ob sie dereinst in Südkorea, wenn Kim Jong-il und Konsorten hoffentlich bald am Ende sind, auch mal so etwas machen? So lustig war das Hungerleben in Pjöngjang?”
Die PDS mit ihrer kaum versteckten DDR-Nostalgie war in dieser Zeit die erfolgreichste Regionalpartei im Osten. Sie wurde später zur Linkspartei und büßte ab jenem Zeitpunkt an Popularität ein, als sie auch versuchte, für westdeutsche Studenten attraktiv zu werden. Für viele ostdeutsche Wähler war das Verrat.
Hass gegen Merkel und Gauck
Doch auch heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, gibt es dieses gebrochene Verhältnis zur eigenen Identität noch.
In Ostdeutschland gibt es viele wunderschöne, frisch sanierte Altstädte. “Die Ostdeutschen wissen aber, dass ihnen diese Innenstädte nicht gehören”, sagte die Autorin Jana Hensel in einem Gespräch mit dem MDR.
Ganz so, als sei der Wiederaufbau der einst durch die DDR-Führung vernachlässigten Stadtzentren im Osten kein gemeinsames Werk gewesen, sondern ein ungewolltes Geschenk der reichen Verwandten aus dem Westen.
Pegida entstand in Dresden zu einer Zeit, als mit Angela Merkel und Joachim Gauck zwei ehemalige DDR-Bürger die höchsten Staatsämter in der Bundesrepublik bekleideten. Beide Politiker waren von Beginn an Ziel des Hasses der Demonstranten.
Bald schon entwickelten die ostdeutschen Demonstranten wilde Putsch-und-Lynch-Fantasien gehen die beiden ostdeutschen Politiker. Wohl auch, weil beide kaum etwas vermeintlich “Ostdeutsches” an sich hatten. Sie hatten Karriere gemacht, als andere ehemalige DDR-Bürger um ihre Existenz kämpften.

Stolz, dass es im Osten kein Multikulti gibt
Merkel und Gauck taugen nicht als Projektionsflächen für die Ostdeutschen. Das leuchtet wohl auch Außenstehenden ein. Doch Gleichgültigkeit ist im Autorassismus eben keine gültige Kategorie. Die Antwort des Ostdeutschen auf das andere, erfolgreiche Ostdeutschland lautet: Hass.
Mittlerweile ist die AfD die populärste Partei im Osten. Im Gegensatz zur PDS, die im Westen bisweilen unter der Rubrik “Sonstige” abgehakt wurde, feiert die Partei in ganz Deutschland Erfolge. Aber nirgendwo sonst ist die Zustimmung so groß wie in den fünf östlichen Bundesländern.
Das liegt auch daran, weil sie den Ostdeutschen einen Lösungsansatz für das Dilemma anbietet, in dem sie durch den Autorassismus geraten sind. Einerseits der Aufbau einer völkisch geprägten, ostdeutschen Identität: Wenn AfD-Politiker reden, dann klingt auch immer Stolz darüber mit, dass es im Osten eben kein “Multikulti” gibt.
Zum anderen aber auch die Ablehnung vieler Politikkonzepte, die vorrangig als “westdeutsch” identifiziert werden. Zum Beispiel die Russland-Politik der Bundesregierung: In Ostdeutschland genießt Wladimir Putin mehr Ansehen als im Westen.
Fast zwei Drittel der Bürger im Osten sind für eine deutsche Mittlerrolle zwischen Nato und Russland – was faktisch die Aufkündigung des einst von der alten Bundesrepublik geknüpften Bündnissystems bedeuten würde.
Auch dass die AfD für die Abschaffung der GEZ wirbt und gegen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wettert, ist kein Zufall. Nicht nur, dass dieses Rundfunksystem im Westen entwickelt wurde: Es hat auch im Osten die meisten Feinde. 43 Prozent der Ostdeutschen sind für eine komplette Abschaffung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
In der AfD geben die westdeutschen Landesverbände den Ton an
Nicht umsonst wettert die Partei gegen “Genderwahn” und ”Öko-Faschismus”: Der linke Mainstream mit seinen aus Amerika stammenden sozialen Bewegungen wird als etwas Westliches wahrgenommen. Auch die PiS warnte übrigens 2016 vor einer “Welt aus Radfahrern und Vegetariern”.
Die Beispiele ließen sich noch beliebig fortschreiben. Denn die AfD mag zwar in Hessen gegründet worden sein. Doch seit dem Karriereende von Ex-Parteichef Bernd Lucke wird der Kurs der AfD maßgeblich von den ostdeutschen Landesverbänden mitbestimmt.
► Was also tun gegen den Autorassismus?
In Polen hat die Opposition immer noch kein Mittel im Kampf gegen die PiS gefunden. Der in Nationalstolz verwandelte Selbsthass zerfrisst dort die Gesellschaft. Polen ist gespalten wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
In Deutschland mit seinem Föderalismus gäbe es wohl schon noch die Chance, ins Rad der Geschichte zu greifen. Zum Beispiel durch anteilige Repräsentation der Ostdeutschen in Parteien, Wirtschaft und Gesellschaft.
Wir brauchen mehr Ostdeutsche in Führungspositionen
Man braucht dafür nicht gleich eine Quote, sondern womöglich nur etwas mehr Fingerspitzengefühl. Das gilt übrigens besonders für Landesparteien. In Hessen würde niemals jemand auf die Idee kommen, einen Sachsen im Landtag für die Wahl des Ministerpräsidenten aufzustellen.
Im Osten dagegen hat jedes Bundesland – mit Ausnahme Brandenburgs – schon einmal einen West-Ministerpräsidenten gehabt.
Wenn Politiker wie Merkel und Gauck keine Einzelfälle mehr wären, dann könnte das langfristig das Bild jener Erschüttern, die mit Ostdeutschland gemeinhin Misserfolg und mit erfolgreichen Ostdeutschen den “Verrat” verbinden.
Vielleicht muss Politik auch noch stärker darauf hin arbeiten, positive Landesidentitäten herauszuarbeiten. Sachsen etwa hätte Grund genug, auf die Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre stolz zu sein. Stattdessen poltert die regierende CDU gegen Linke, Ausländer und wettert gegen “die Medien”, die im Zuge der ausländerfeindlichen Proteste angeblich das Bild von Chemnitz besudelt haben.
Ostdeutschland ist liebenswert. Doch damit dieser Landstrich nicht in die politische Barbarei abrutscht, müssen die Menschen sich selbst und ihre Geschichte wieder lieben lernen.