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Kein Planet B: Ein Weckruf vom größten Klimamarsch der Geschichte

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Um 12.58 Uhr wird es ganz ruhig. 400 000 Menschen schweigen. Mitten in New York direkt am Central Park von der Upper West Side an der 86. Straße bis runter ins Garment District zur 34. Straße. 400 000 Menschen schweigen inmitten der lauten, aufregenden und aufgeregten Metropole New York.

Sie halten inne für eine Schweigeminute und heben ihre Arme. Alle wissen: das hier ist ein besonderer Moment. Es ist eine Mahnung, ein Gedenken, ein Ausdruck von Hoffnung. Es sollen die vielen Opfer des Klimawandels, die es heute überall auf der Welt schon gibt und kaum beachtet werden, ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit rufen.

Alle wissen, dass die letzten Jahrzehnte für die außermenschliche Natur nicht besser waren als die Jahrhunderte davor. Alle wissen, dass seit Ausbruch der Finanzkrise das Thema Klimawandel nirgends in den Industrieländern ein massenwirksames Thema in den Medien war. Alle wissen, dass die globale Erderwärmung kaum jemanden wirklich interessiert und dass auch die Nachrichten zum Klimagipfel diese Woche nicht das Sensationspotential der Bombardierung des Irak, der Sanktionen gegen Russland oder der Gewalt in Syrien haben.

Und trotzdem - oder gerade deshalb - sind mehrere hundert tausend Menschen in New York zusammengekommen, um dem Bewusstsein Ausdruck zu verleihen, in dem sie dieser Tage leben: Dass wir Menschen gerade dabei sind, unsere Lebensgrundlage zu vernichten und davon so unbeeindruckt sind, dass man den Eindruck gewinnen könnte, die Moderne hat uns vollends suizidal gemacht. Und doch haben die Demonstranten Hoffnung. Sonst wären sie nicht hier.

Sie glauben daran, dass wir das Ruder herumreißen können und wollen ihren Beitrag dazu leisten, indem sie der Klimaschutzbewegung endlich zu der Aufmerksamkeit verhelfen, die sie braucht, um wirklich Einfluss auszuüben.

Innehalten mit 400 000 Gleichgesinnten

Die Schweigeminute - für eine Klimaschutzdemonstration eine ungewöhnliche Maßnahme. Wir kennen Schweigeminuten für die Opfer des 11. September 2001, für die Opfer des Nationalsozialismus, wir kennen die Fürbitten im Gottesdienst. Schweigeminuten für das Klima kennen wir nicht. Und doch ergibt sie Sinn, die Schweigeminute.

Nicht nur vernichtet, die Umweltzerstörung durch den Menschen nicht-menschliches Leben überall auf der Erde: Pflanzen, Tiere, ganze Ökosysteme. Auch Menschen sind direkt von der Erderwärmung und dem Klimawandel insgesamt betroffen. Inseln wie die Malediven versinken. "Wir müssen jetzt etwas tun... wir haben nur eine Atmosphäre und wir auf den Marshall-Inseln haben nur ein Land, das wir Heimat nennen", sagt Kathy vor der Demonstration.

"Wir wollen nicht umziehen und wir sollten nicht umziehen müssen." Wie den Marshall-Inseln sind viele Teile der Erde vom Klimawandel betroffen, wenn auch nur bedingt die Metropolen wie New York, Washington, DC, Berlin, London oder Paris. Doch der Klimawandel ist präsent: Stürme zerstören ganze Dörfer und Städte. Dürren zerstören die Existenzen von Subsistenz-Bauern, die auf den Ertrag ihres Bodens fürs Überleben angewiesen sind.

Der Klimawandel tötet. Und deswegen ist das einzig Logische, das einzig Angemessene, für die Organisatoren des People's Climate March eine Schweigeminute.

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Das Lauffeuer des Jubels

"Der Moment des Schweigens war wirklich bewegend", wird die Haverford-Studentin Anna später sagen. Und tatsächlich halten die Demonstranten für einen Moment inne. Für diesen einen Moment vergessen sie ihre Plakate, ihre Pamphlete, ihre Schilder, die Trommeln und die Pfeifen. Für einen Moment gehen sie in sich und sind achtsam, behutsam, nachdenklich.

Sie versuchen zu fassen, zu verstehen, was wir Menschen uns und unserer Umwelt zur Zeit antun. Ohne Moralismus, ohne Fingerzeigen, nur ein Moment mit den eigenen Gedanken und dem eigenen Gewissen. Und dann brandet Jubel auf. Wie ein Lauffeuer fegt er durch die Straßen von Manhattan. So oder so ähnlich stellt man sich Pfingsten vor.

Von Penn Station auf der 34. Straße über das Busterminal auf der 42. Straße die 6th Avenue entlang vorbei an Time Square und dem Rockefeller Center bis hoch zum Central Park; den Park entlang bis Columbus Circle, rechts um die Ecke in den Norden am Naturkundemuseum vorbei hoch zur 86. Straße. Es ist ein Gänsehautmoment. Der Jubel rollt durch die von Wolkenkratzern gesäumten Straßen einmal über die ganze Insel bis hoch nach Harlem.

Fordham-Student Wayne beschreibt sein Erlebnis so: „Es gab einen Moment der Stille. Und dann ist eine Welle der Begeisterung durch die Straßen gebraust von ganz vorne bis ganz hinten. Völlig unvergleichlich; anders als alles, was ich je erlebt habe."

Wie Wayne geht es vielen in den Reihen der Demonstranten. Es ist ein kleiner Triumph für die geplagte Bewegung. Ein kleiner Sieg. Für einen kurzen Moment haben die Demonstranten auf den Straßen der Finanzmetropole New York den Ton angegeben, ein Zeichen gesetzt. Für einen kurze Minute hat der kleine Mann und die kleine Frau von der Straße seine und ihre Ohnmacht überwunden und die Macht der Straße demonstriert. Es ist Balsam für die geschundene Aktivistenseele. Und Ausdruck der Hoffnung, dass es nicht zu spät ist.

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Das Egalitäre des Klimawandels

Alle wissenschaftlichen Untersuchungen sagen, der Klimawandel ist in vollem Gange. Noch nie wurde so viel CO2 in die Atmosphäre ausgestoßen wie letztes Jahr. Und auch für den Laien ist es kaum zu übersehen. Was früher Jahrhunderthochwasser hieß, kommt heute alle paar Jahre.

Was früher wie eine unfassbare, göttliche Plage erschien, scheint heute Normalität zu sein. Die Nachrichten sind voll davon, und zwar nicht nur die in spezifischen Teilen der Welt, in spezifischen Kulturen oder Kontexten, sondern alle Nachrichten in allen Teilen der Welt, quer über alle Grenzen hinweg. Der Klimawandel ist total egalitär.

Er macht vor nichts und niemandem halt. Er schert sich nicht um nationalstaatliche Grenzziehungen. Ihm ist es egal, ob dieser oder jener Staat ein Visum für die Einreise verlangt. Er interessiert sich nicht für die Religion der Bewohner, für den Atheismus der Bewohner, für die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung, das Amt, den Status, die Vorgeschichte eines Menschen, eines Tiers, einer Pflanze oder Gesteinsformation. Es ist ihm schlicht wurscht.

Ein Plakat kommentiert sarkastisch: "I'm sure the dinosaurs thought they had time, too." Ich bin sicher, die Dinosaurier dachten auch, sie hätten noch Zeit. Dass der Klimawandel existiert, ist nicht zu bestreiten. Dass daraus politische Konsequenzen gezogen werden, kann nicht wirklich behauptet werden.

In der September-Ausgabe des wissenschaftlichen Journals Nature geben zwei Autoren Vorschlage, was die Wissenschaft beitragen kann, um die Debatte um den Klimawandel aus ihrem Untätigkeit und Konsequenzenlosigkeit zurück in die Relevanz und politische Arena zu führen. Ein weiteres Autorenkollektiv plädiert in derselben Ausgabe für die Veränderung des intellektuellen Klimas der Debatte.

Was in jedem Fall zur Konfrontation der Konsequenzen des Klimawandels notwendig ist, ist eine tatsächlich globalisierte Bewegung und eine tatsächliche globalisierte Debatte. Und von der traditionell globalisierungskritischen Einstellung der Öko-Hippies vergangener Tage, kann bei der neuen Generation von Klimaschutz-Aktivisten keine Rede sein.

Die Globalisierung der Bewegung

Weil dem Klimawandel jedes spezifisches Charakteristikum egal ist, ist auch die Bewegung so bunt wie man sich eine Bewegung vorstellen könnte, wobei das politische Spektrum trotz allem zur Linken tendiert.

Dabei sind der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki Moon, Bänker von Wall Street, Anarchisten aus der Occupy-Bewegung, Hipster aus Brooklyn, religiöse Linke aus Vermont, Migranten von den Fidschi-Inseln, Sänger Sting, Aktivist und ehemaliger Vizepräsident Al Gore, Schauspieler Leonardo DiCaprio, der Bürgermeister von New York Bill de Blasio, sowie zahlreiche Familien, Singles, Touristen, Pärchen und Obdachlose. Die wohl größte Gruppe unter den Demonstranten stellen allerdings die Studierenden. Über 50 000 sind gekommen.

Die Universitäten Harvard, Princeton, Yale und viele andere haben Shuttles organisiert. Die Studenten von Columbia University, NYU, und der New School in Manhatten sind natürlich auch vor Ort. Grace ist 18 Stunden Bus gefahren, um von Minnesota nach New York zu kommen. Rachel und Maggie sind aus Pennsylvania gekommen. Laura aus Arkansas verbindet den Klimamarsch mit einem Besuch bei ihrer Jugendfreundin Megan auf der Heimreise einer Europa-Tour.

Erika, Austauschstudentin aus Südafrika, ist von der Universität Fordham in der Bronx in die Stadt gekommen, um mit zu marschieren, Fotos zu machen, Eindrücke zu sammeln. Es ist die gebildete, international orientierte Jugend, denen der Jubel und die Schweigeminute besonders unter die Haut geht. Der Großteil der Volkswirtschaften ist global vernetzt und international ausgerichtet. Die Non-Profit-Welt hat jetzt aufgeholt.

Die Jugend hat jetzt aufgeholt. Und per Twitter, Instragram und Facebook gehen die Bilder, Videos und Nachrichten direkt von Central Park West raus in alle Welt. Über 2 800 Partnerveranstaltungen in 166 Ländern melden die Organisatoren. In Melbourne sind es 30 000 Demonstranten, in London 40 000, in Paris 25 000, in Berlin immerhin 10 000 (obwohl man sich hier direkt fragt, was eigentlich in den letzten Jahren aus den Vorzeige-Deutschen beim Klimaschutz geworden ist).

Eines ist klar: Es ist der mit Abstand größte Aktionstag für den Klimaschutz in der Geschichte unserer Welt.

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Die Jugend der Bewegung

Schon seit Jahrzehnten ist die Jugend jeder Generation unter den Klimaschützern überdurchschnittlich gut vertreten. Der Grund liegt auf der Hand: Ihre Zukunft ist viel deutlicher geprägt von den Konsequenzen des Klimawandels als die derjenigen, die zur Zeit an der Macht sind. Wenn die Obamas, die Merkels und Hollandes dieser Welt, die diese Woche zum Klimagipfel im Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York zusammen kommen, längst tot sind, werden die Abiturienten von heute erst so richtig durchstarten, die Frage ist nur womit.

Mit Schadensbegrenzung? Mit Technologien und Innovationen, um die Zerstörung des 19., 20. und frühen 21. Jahrhunderts rückgängig zu machen? Was werden unsere Lebensbedingungen sein? Mit welcher Schuld werden wir umgehen müssen? Vermutlich werden uns unsere Kinder und Enkelkinder die Frage stellen, die unsere Eltern unseren Großeltern gestellt haben: Wo warst du? Wie konntest du einfach zusehen? Wie hast du das zulassen können?

Und wir werden vermutlich ähnliche Phasen durchlaufen wie unsere Großeltern: Wir werden verstehen, was wir getan haben, und deswegen schweigen. Oder wir werden ahnen, was wir durch Untätigkeit getan haben, es verdrängen und so tun, als hätten wir getan, was wir nicht getan haben, nämlich nicht untätig sein. Wir werden große Probleme haben, unsere Schuld einzugestehen.

Wir werden uns schämen. Wir werden diese Scham an die nächste Generation weitergeben, die dann ihrerseits mit den Konsequenzen leben wird müssen. Wir werden irgendwie versuchen ein neues Leben anzufangen. Und wir werden dabei mit unserer Gebrochenheit und Selbstgeißelung klarkommen müssen. So oder so ähnlich könnte die heutige Jugend mit ihren Enkelkindern diskutieren.

Und immer mehr Jugendliche werden sich dessen bewusst. Und immer mehr Jugendlichen wollen das so nicht vonstatten gehen lassen. Und eins können wir alle definitiv nicht mehr: Sagen, wir hätten von nichts gewusst. Wir wissen alle ganz genau, was passiert.

Die Macht der Straße

Einfache Lösungen hat keiner parat. Gerade die Jugend, die sich in diese Demonstration einreiht, jettet selbst um die Welt für die gute Sache. Ein gewisser logischer Konflikt ist nicht zu verhehlen. Und doch gibt es wohl keine Alternative. Die Aktivisten müssen mit der logischen Schizophrenie ihrer Arbeit leben, um das Thema auf die globale Agenda zu bringen.

Denn nur wenige wirklich mächtige Wirtschaftsbosse scheren sich ihrerseits um ihre CO2-Bilanz und werden von Briefen, Online-Petitionen oder Flaschenpost beeindruckt sein. Am Ende zählt die Macht der Bilder, der Druck von der Straße, die Zahlen und Gesichter der Demonstrationen. Nur dann haben die Staatschefs einen Grund bzw. gute Argumente, um tatsächlich für einen nachhaltigen Kurswechsel in der Klimapolitik zu arbeiten. Und nur so hat die Non-Profit-Welt eine Chance gegen die For-Profit-Welt, die in den USA zum Teil siebenstellige Summen einsetzen, um den Klimawandel als "unbewiesene Propaganda" darzustellen oder als "linksliberales Gerücht" zu brandmarken.

Die Koch-Brüder, die ihr ganzes finanzielles Gewicht hinter das stellen, was sie als die konservative Sache verstehen. Sie haben seit 1997 knapp 67 Millionen Dollar verwendet, um den Klimawandel zu leugnen. Die Koch-Brüder sind auch prominente Geldgeber der Tea Party und zahlreicher republikanischer Anliegen und Wahlkämpfe. Die Koch-Brüder tauchen überall auf den Plakaten auf. Ein Plakat kommentiert: "I couldn't afford to buy a politician, so I brought this sign." Ich konnte mir keinen Politiker leisten, also habe ich dieses Schild mitgebracht.

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Jobs. Justice. Clean Energy.

Um gegen diese konzentrierte Macht einiger reicher Individuen, die man in Russland oder der Ukraine wohl Oligarchen nennen würde, ein Gegengewicht zu setzen haben sich diesen Sonntag für den People's Climate March über 1500 Gruppen aus Wissenschaft und Gesellschaft zusammengefunden. Interessant ist, dass anders als zwischenzeitlich die Debatte um die Bewahrung der Natur heute wieder als Debatte um die Bewahrung der Schöpfung, also sowohl der menschlichen, als auch der außermenschlichen Natur geführt wird.

Dementsprechend ist der Protest der Demonstration in New York nicht nur ein Weckruf für CO2-Ausstoß an sich, sondern ein Hinweis auf die Verschränktheit mit anderen sozialen Fragen dieser Zeit. Das Banner, das die Organisatoren an alle Bannerlosen unter den ankommenden Demonstranten verteilt, liest: "Jobs. Justice. Clean Energy."

Die Demonstranten fordern eine ökologische Transformation der Wirtschaft. Sie nutzen keine alten Parolen der Globalisierungsgegner. Salopp gesagt: Die neu formierte Bewegung ist für Wachstum, für Jobs, für Entwicklung. All das soll nur mit sauberer Energie und im Modus sozialer Gerechtigkeit vonstatten gehen.

Eines ist für die Demonstranten mittlerweile klar: "The debate is over." Die Diskussion ist vorbei. Die Fakten sind auf dem Tisch. Die Frage, ob es einen Klimawandel gibt, ist eine Debatte von vorgestern. Dass die Debatte von gestern die Welt nicht sonderlich weit gebracht hat, ist auch klar. Wie sieht die Debatte von morgen aus? Der UN-Klimagipfel am Dienstag wird es zeigen.

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