Polen, Krakau, das Jahr 1995. Kalte Weihnachtszeit. Kazimierz, die jüdische Stadt, steht noch zu dreiviertel leer, es wird erst Jahre später zu einer Post-Holocaust Hollywood Kulisse ausgebaut. Steven Spielberg drehte hier vor zwei Jahren, 1993, seinen Klassiker „Schindlers Liste".
Das, was später Krakau ausmachen wird, die jüdische Kultur ohne Juden, ist erst im Entstehen. 1-2 Restaurants, 1-2 Souvenirläden. In einem von ihnen kaufen wir, seit knapp zwei Jahren in Deutschland, eine vergleichsweise gut gemachte kitschige Figur aus Holz: ein lustiger und gleichzeitig trauriger traditioneller Jude.
Bringen sie nach Tübingen, in unsere Studentenwohnung. Und hören dann von unseren Freunden (ähnlich wie wir eingewandert aus der UdSSR auf „jüdischem Ticket"): „Na, sind dort nur solche Juden übrig geblieben?" Die Frage konnte damals nur mit einem „ja" beantwortet werden.
Szenenwechsel. 1996, Ferien, ebenso eine bitterkalte winterliche Zeit. Diesmal in Budapest. Wir treffen meine Eltern, die noch kein Visum für Deutschland haben und in der Ukraine leben, auf einem neutralen Territorium, in der wunderschönen post-sozialistischen halb-kaputten ungarischen Hauptstadt, damals noch kein anti-liberaler Schreck Europas.
Eine Ferienwohnung liegt sehr zentral, das berühmte Parlamentsgebäude direkt im Blick. Unser Haus, ein Altbau, der in den 1930er Jahren bestimmt noch schick war. Die Vermieterinnen sind zwei Damen, eine leicht über 50, die andere, ihre Mutter, weit über 80. Es hätte eine Zentralheizung in unserem Haus geben müssen, doch die gibt es kaum. Und draußen liegt Schnee bei -20.
Die ältere Dame erzählt uns bei bestenfalls + 10 im Wohnraum über die Zeit der Okkupation von Budapest durch die Deutschen, über die jüdischen Nachbarn, die aus dem Haus, in dem sie bis heute wohnt, abgeführt wurden. Sie mag Deutschland bis heute nicht, dafür aber Russland und die Ukraine (der heutige Ukraine-Krieg war noch meilenweit entfernt).
Beide Erinnerungen stehen für das, was Historiker Bernard Wasserstein in seinem Klassiker über die Juden in Europa 1996 eine „Vanishing Diaspora" nannte und was in deutscher Übersetzung noch deutlicher „Europa ohne Juden" hieß. Im besagten Ungarn, wo es 1937 noch ca. eine halbe Million Juden gab, gab es zur Zeit unseres Besuchs dort bestenfalls 40.000 Juden.
Die Statistik für Polen, das zur Hauptbühne des Holocaust wurde, war noch viel gravierender und hoffnungsloser: Die weltgrößte jüdische Gemeinschaft von ca. 3.250.000 Jüdinnen und Juden schien zur Jahrtausendwende kaum existent und betraf lediglich max. 5.000 Personen.
Mitten im Land klaffte eine große Lücke - die Juden waren nicht da. Ein Jüdisches Museum, das sich mit dieser aktuellen Leere und der vergangenen Fülle der jüdischen Geschichte befasst, wird dieser Tage in Warschau eröffnet. Dies ist eine Musealisierung nicht nur der jüdischen Geschichte, sondern gewissermaßen eine Musealisierung Polens selbst:
Das Land ist ohne seine Juden, die letzten noch in Pogromen der Nachkriegszeit getötet sowie in den antisemitischen Ausschreitungen der 1960er Jahre vertrieben wurden, heute ein ganz anderes. Und steht zu seiner Geschichte, so wie die anderen Länder ein Bekenntnis zum Holocaust und zum Gedenken seiner Opfer als eine Eintrittskarte nach Europa abgeben müssen.
Die neuen europäischen Länder machen ihre Hausaufgaben eher im Virtuellen: Anstatt fehlender Juden, pflegen sie die politische und kulturelle Erinnerung an sie. Die wenigsten Staaten berücksichtigen dabei die materiellen Faktoren der Entschädigung der beraubten jüdischen Bevölkerung: Die Überlebenden aus sozialistisch gewordenem Osteuropa waren jahrzehntelang von jeglichen Wiedergutmachungszahlungen Deutschlands abgeschnitten.
Die wenigsten, die noch leben, bekommen jetzt kleine Auszahlungen.
Doch das Judentum in Europa bekam nach der Wende auch eine unverhoffte Chance. Kaum Jemand wagte einen Blick hinter den Eisernen Vorhang, dort in der UdSSR, überlebte in der Evakuierung und nicht zuletzt bei den Kämpfen der Roten Armee, ca. 1.900.000 Juden den Krieg und Holocaust.
Sehr viele von ihnen haben das Land zwischen 1973 und 2000 in Richtung Deutschland, USA und vor allem Israel verlassen. Sie bilden mindestens 90 Prozent der gegenwärtigen Judenheit des wiedervereinigten europäischen Deutschlands - das sind andere Juden und Jüdinnen, mit ganz anderen jüdischen Biographien, einem anderen kulturellen Gedächtnis (Sieger, nicht Opfer!) stehen für das heutige europäische Judentum im Land des Holocaust und bilden neben Frankreich und Großbritannien die größte jüdische Gemeinschaft Europas.
Eine zwar immer noch kleine im Vergleich mit der Zeit vor der Shoa, doch eine wachsende. Auch das ist ein europäisches Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts. In den Gemeinden Berlins, Frankfurt, Wiens, zum Teil Roms, wird viel Russisch gesprochen, in den Wohnungen der neuen europäischen Jüdinnen und Juden stehen Werkausgabe Heines, Goethes und Kafkas - auf Russisch. Und inzwischen ist auch Hebräisch eine neue mitteleuropäische Sprache geworden:
Denn auch eine zur Zeit der Entstehung von Spielbergs Film und Wassersteins Buch für unmöglich gehaltene Bewegung der Israelis in Richtung Berlin findet heute statt.
Mehr als 20.000 sind da und entwickeln eine spannende hebräisch- und englischsprachige Subkultur jenseits jeglichen Gemeindelebens - die Ausstellungen, Startups, die hebräische Poesie und politische Äußerungen, die durchaus kritisch gegenüber israelischer Gaza- und Siedlungspolitik ausfallen, machen diese neue Kultur aus.
Europa ist der weltgrößte Treffpunkt der historischen Tragödien und Erinnerungen: Die Zeit der "frozen memory" (der gefrorenen Erinnerung, Terminus von Diana Pinto) an die europäischen Katastrophen, scheint vorbei zu sein. Sowohl die jüdischen Erinnerungen an den Holocaust als auch die palästinensischen Erinnerungen an die Vertreibung nach 1948, der Gründung des Staates Israel, sind im heutigen Europa politisch sehr „heiß".
Die Proteste gegen die Politik des Staates Israel wurden im vergangenen Sommer in Europa zu antisemitischen Ausschreitungen gegen „die Juden", so dass die Gemeindezentren und Schulen zw. Paris und Wuppertal angegriffen und antisemitische Hasstiraden skandiert wurden. Ein Kippa Kaufen in einem Souvenir Laden in Krakau bleibt nach wie vor ungefährlich, ein Kippa Tragen in Berlin oder Paris ist es dagegen bei weitem nicht.
Die europäischen Juden und Jüdinnen assimilieren sich nicht mehr so intensiv wie sie das in der Mitte des Jahrhunderts taten, sie könnten zusammen mit vielen stark am Judentum interessierten Europäerinnen und Europäern einen signifikanten jüdischen kulturellen, politischen und religiösen Raum bilden.
Doch es wurde viel unruhiger um die Juden Europas: Nicht wenige, besonders in Frankreich, denken an die Aliya, eine Auswanderung nach Israel. Viele der ca. 200.000 in der vom Bürgerkrieg zerrissenen Ukraine verbliebenen Juden, würden eventuell wieder nach Deutschland, aber auch nach Israel, auswandern.
Die europäische Situation der Juden ist offen. Hoffnung machen die jungen jüdischen Frauen und Männer, für die Europa längst ein offener Raum ist, die Sprachen beherrschen und zwischen ihren kulturellen Hintergründen gern wechseln, für die ein Schabbat in Brüssel von einer Rosh ha Shana (jüdisches Neujahrsfest) Feier in Petersburg problemlos abgelöst wird, und die einen Dialog mit den jungen Moslems Europas suchen.
Das markiert für mich eine Hoffnung auf ein Europa mit Juden.
Das, was später Krakau ausmachen wird, die jüdische Kultur ohne Juden, ist erst im Entstehen. 1-2 Restaurants, 1-2 Souvenirläden. In einem von ihnen kaufen wir, seit knapp zwei Jahren in Deutschland, eine vergleichsweise gut gemachte kitschige Figur aus Holz: ein lustiger und gleichzeitig trauriger traditioneller Jude.
Bringen sie nach Tübingen, in unsere Studentenwohnung. Und hören dann von unseren Freunden (ähnlich wie wir eingewandert aus der UdSSR auf „jüdischem Ticket"): „Na, sind dort nur solche Juden übrig geblieben?" Die Frage konnte damals nur mit einem „ja" beantwortet werden.
Szenenwechsel. 1996, Ferien, ebenso eine bitterkalte winterliche Zeit. Diesmal in Budapest. Wir treffen meine Eltern, die noch kein Visum für Deutschland haben und in der Ukraine leben, auf einem neutralen Territorium, in der wunderschönen post-sozialistischen halb-kaputten ungarischen Hauptstadt, damals noch kein anti-liberaler Schreck Europas.
Eine Ferienwohnung liegt sehr zentral, das berühmte Parlamentsgebäude direkt im Blick. Unser Haus, ein Altbau, der in den 1930er Jahren bestimmt noch schick war. Die Vermieterinnen sind zwei Damen, eine leicht über 50, die andere, ihre Mutter, weit über 80. Es hätte eine Zentralheizung in unserem Haus geben müssen, doch die gibt es kaum. Und draußen liegt Schnee bei -20.
Die ältere Dame erzählt uns bei bestenfalls + 10 im Wohnraum über die Zeit der Okkupation von Budapest durch die Deutschen, über die jüdischen Nachbarn, die aus dem Haus, in dem sie bis heute wohnt, abgeführt wurden. Sie mag Deutschland bis heute nicht, dafür aber Russland und die Ukraine (der heutige Ukraine-Krieg war noch meilenweit entfernt).
Beide Erinnerungen stehen für das, was Historiker Bernard Wasserstein in seinem Klassiker über die Juden in Europa 1996 eine „Vanishing Diaspora" nannte und was in deutscher Übersetzung noch deutlicher „Europa ohne Juden" hieß. Im besagten Ungarn, wo es 1937 noch ca. eine halbe Million Juden gab, gab es zur Zeit unseres Besuchs dort bestenfalls 40.000 Juden.
Die Statistik für Polen, das zur Hauptbühne des Holocaust wurde, war noch viel gravierender und hoffnungsloser: Die weltgrößte jüdische Gemeinschaft von ca. 3.250.000 Jüdinnen und Juden schien zur Jahrtausendwende kaum existent und betraf lediglich max. 5.000 Personen.
Mitten im Land klaffte eine große Lücke - die Juden waren nicht da. Ein Jüdisches Museum, das sich mit dieser aktuellen Leere und der vergangenen Fülle der jüdischen Geschichte befasst, wird dieser Tage in Warschau eröffnet. Dies ist eine Musealisierung nicht nur der jüdischen Geschichte, sondern gewissermaßen eine Musealisierung Polens selbst:
Das Land ist ohne seine Juden, die letzten noch in Pogromen der Nachkriegszeit getötet sowie in den antisemitischen Ausschreitungen der 1960er Jahre vertrieben wurden, heute ein ganz anderes. Und steht zu seiner Geschichte, so wie die anderen Länder ein Bekenntnis zum Holocaust und zum Gedenken seiner Opfer als eine Eintrittskarte nach Europa abgeben müssen.
Die neuen europäischen Länder machen ihre Hausaufgaben eher im Virtuellen: Anstatt fehlender Juden, pflegen sie die politische und kulturelle Erinnerung an sie. Die wenigsten Staaten berücksichtigen dabei die materiellen Faktoren der Entschädigung der beraubten jüdischen Bevölkerung: Die Überlebenden aus sozialistisch gewordenem Osteuropa waren jahrzehntelang von jeglichen Wiedergutmachungszahlungen Deutschlands abgeschnitten.
Die wenigsten, die noch leben, bekommen jetzt kleine Auszahlungen.
Doch das Judentum in Europa bekam nach der Wende auch eine unverhoffte Chance. Kaum Jemand wagte einen Blick hinter den Eisernen Vorhang, dort in der UdSSR, überlebte in der Evakuierung und nicht zuletzt bei den Kämpfen der Roten Armee, ca. 1.900.000 Juden den Krieg und Holocaust.
Sehr viele von ihnen haben das Land zwischen 1973 und 2000 in Richtung Deutschland, USA und vor allem Israel verlassen. Sie bilden mindestens 90 Prozent der gegenwärtigen Judenheit des wiedervereinigten europäischen Deutschlands - das sind andere Juden und Jüdinnen, mit ganz anderen jüdischen Biographien, einem anderen kulturellen Gedächtnis (Sieger, nicht Opfer!) stehen für das heutige europäische Judentum im Land des Holocaust und bilden neben Frankreich und Großbritannien die größte jüdische Gemeinschaft Europas.
Eine zwar immer noch kleine im Vergleich mit der Zeit vor der Shoa, doch eine wachsende. Auch das ist ein europäisches Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts. In den Gemeinden Berlins, Frankfurt, Wiens, zum Teil Roms, wird viel Russisch gesprochen, in den Wohnungen der neuen europäischen Jüdinnen und Juden stehen Werkausgabe Heines, Goethes und Kafkas - auf Russisch. Und inzwischen ist auch Hebräisch eine neue mitteleuropäische Sprache geworden:
Denn auch eine zur Zeit der Entstehung von Spielbergs Film und Wassersteins Buch für unmöglich gehaltene Bewegung der Israelis in Richtung Berlin findet heute statt.
Mehr als 20.000 sind da und entwickeln eine spannende hebräisch- und englischsprachige Subkultur jenseits jeglichen Gemeindelebens - die Ausstellungen, Startups, die hebräische Poesie und politische Äußerungen, die durchaus kritisch gegenüber israelischer Gaza- und Siedlungspolitik ausfallen, machen diese neue Kultur aus.
Europa ist der weltgrößte Treffpunkt der historischen Tragödien und Erinnerungen: Die Zeit der "frozen memory" (der gefrorenen Erinnerung, Terminus von Diana Pinto) an die europäischen Katastrophen, scheint vorbei zu sein. Sowohl die jüdischen Erinnerungen an den Holocaust als auch die palästinensischen Erinnerungen an die Vertreibung nach 1948, der Gründung des Staates Israel, sind im heutigen Europa politisch sehr „heiß".
Die Proteste gegen die Politik des Staates Israel wurden im vergangenen Sommer in Europa zu antisemitischen Ausschreitungen gegen „die Juden", so dass die Gemeindezentren und Schulen zw. Paris und Wuppertal angegriffen und antisemitische Hasstiraden skandiert wurden. Ein Kippa Kaufen in einem Souvenir Laden in Krakau bleibt nach wie vor ungefährlich, ein Kippa Tragen in Berlin oder Paris ist es dagegen bei weitem nicht.
Die europäischen Juden und Jüdinnen assimilieren sich nicht mehr so intensiv wie sie das in der Mitte des Jahrhunderts taten, sie könnten zusammen mit vielen stark am Judentum interessierten Europäerinnen und Europäern einen signifikanten jüdischen kulturellen, politischen und religiösen Raum bilden.
Doch es wurde viel unruhiger um die Juden Europas: Nicht wenige, besonders in Frankreich, denken an die Aliya, eine Auswanderung nach Israel. Viele der ca. 200.000 in der vom Bürgerkrieg zerrissenen Ukraine verbliebenen Juden, würden eventuell wieder nach Deutschland, aber auch nach Israel, auswandern.
Die europäische Situation der Juden ist offen. Hoffnung machen die jungen jüdischen Frauen und Männer, für die Europa längst ein offener Raum ist, die Sprachen beherrschen und zwischen ihren kulturellen Hintergründen gern wechseln, für die ein Schabbat in Brüssel von einer Rosh ha Shana (jüdisches Neujahrsfest) Feier in Petersburg problemlos abgelöst wird, und die einen Dialog mit den jungen Moslems Europas suchen.
Das markiert für mich eine Hoffnung auf ein Europa mit Juden.