In dem neuen Sachbuch "Wirtschaftsirrtümer" schildert Wirtschaftsexperte Henrik Müller 50 Un- und Halbwahrheiten, die seiner Meinung nach in den Debatten über Wirtschaftsfragen immer wieder auftauchen.
Die Huffington Post stellt Auszüge aus dem Buch vor, in denen sich Müller mit dem Einfluss von Geld auf unsere Zufriedenheit beschäftigt, mit der Immobilienblase und der Zukunft der Europäischen Union.
Die allgemeine Verunsicherung infolge der großen Krise hat extreme Szenarien in die Köpfe der Menschen gepflanzt: Der Zusammenbruch des Geldsystems, der zivilen Ordnung, des inneren und äußeren Friedens – alles scheint möglich.
Wer nicht an den völligen Zusammenbruch glaubt, aber den Verlust des Papiergeldwerts durch Inflation fürchtet, investiert typischerweise in Immobilien. Es ist ein Trend, der seit der Krise von 2009 gerade in Deutschland zu sehen ist. Geldvermögen, also Bankguthaben, Anleihen, Lebensversicherungen und so weiter, wird umgeschichtet in Häuser und Wohnungen. Immobilien gelten als sicheres Investment. Schließlich sind sie sinnlich sicht- und fassbar, was die psychologische Wirkung der Solidität unterstreicht.
Jeder Boom wird von echten Knappheiten entzündet: Es gibt offensichtlich gute Gründe, warum Immobilien im Preis steigen sollten – vor allem das Wachstum der Städte durch Wegzug aus dem sich leerenden flachen Land und durch Zuwanderung aus dem Ausland.
Auf diesen guten Gründen können sich leicht irrationale Übertreibungen aufbauen. Getrieben werden solche Blasen durch billiges Geld, also niedrige Zinsen, die eine Kreditfinanzierung ermöglichen. Da in Deutschland die Zinsen extrem niedrig sind und wohl auf absehbare Zeit auch auf sehr niedrigem Niveau bleiben werden, sind die Bedingungen für das Aufblähen einer Blase gegeben. Ob strengere Kreditvergabestandards, die von einigen Kreditinstituten inzwischen angewandt werden, genügen, um marktmäßige Übertreibungen durch die extrem niedrigen Zinsen zu dämpfen, ist eine offene Frage.
Dass Immobilien keineswegs sichere Anlagen sind, zeigt die Entwicklung, die viele andere Länder im vergangenen Jahrzehnt durchgemacht haben. So stiegen in der Phase des Kreditbooms, die auf die Gründung der Währungsunion folgte, die Preise über Jahre mit zweistelligen Prozentzahlen. Preisniveaus, die nicht bleiben, sondern sich zurückbilden, wenn der Boom vorbei ist. Wer auf einen laufenden Trend aufspringt und zu überhöhten Preisen kauft, riskiert nennenswerte Vermögensverluste. Aus Angst vor der Inflation der Verbraucherpreise sein Geld in inflationierte Vermögensgüter zu stecken, ist das Gegenteil einer Risikovermeidungsstrategie.
Immerhin, solange Immobilien vermietet sind oder selbst genutzt werden, werfen sie Erträge ab. Ausgewachsene Immobilienbooms haben aber die hässliche Eigenschaft, die Bauaktivität so stark anzuregen, dass ein Überangebot entsteht. Die Folge ist Leerstand und schlimmstenfalls die Insolvenz des Bauherrn.
Versteht man unter materiellem Wohlstand allein die Menge an Waren und Dienstleistungen, die man sich kaufen kann, dann nutzt sich der Wohlfühleffekt des Geldes tatsächlich rasch ab. Obwohl sich das durchschnittliche Einkommen seit Anfang der 1980er Jahre deutlich erhöht hat – real um rund ein Viertel –, ist die durchschnittliche Lebenszufriedenheit in Deutschland weitgehend konstant.
Der „Grenznutzen“ (Ökonomenjargon) des Wohlstands sinkt unweigerlich: Das erste Auto ist eine mobilitätsmäßige Befreiung, das Drittauto stiftet kaum noch zusätzlichen Nutzen. Wenige schicke Kleidungsstücke zu besitzen kann enorme Freude machen, das 50. Kleid ist bedeutungslos. Warum besitzen dann manche Menschen unglaubliche Mengen an Zeug – Zimmer voller Schuhe, Garagen voller Autos, Keller voller Wein? Weil die Erfüllung des Haben-wollen-Wunsches einen kurzen Moment des Glücks auslöst.
Doch der Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Geld geht weit über simplen Konsum hinaus. Wohlstand macht das Leben sicherer, gesünder und interessanter. Das gilt für jeden Einzelnen wie für gesamte Gesellschaften. Einkommen und Besitz haben einen bedeutenden Einfluss auf das subjektive Zufriedenheitsempfinden.
Ein selbstbestimmtes Leben in Gesellschaft führen zu können, ohne Schmerz und Hunger, dank Wissen und Können interessanten Tätigkeiten nachgehen zu können – das sind weitere Zutaten zu einem glücklichen Leben, wie eine Unzahl empirischer Studien zeigen. Und fast alle dieser Einflussfaktoren sind geldbestimmt: Mit dem materiellen Wohlstand verbessern sich im Schnitt der Gesundheitszustand, die Ernährungslage, die Wohnsituation, der Bildungsstand, die öffentliche Sicherheit, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung.
Untersuchungen zeigen, dass Neurotiker besonders anfällig sind für die Verlockungen des Geldes, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Persönlichkeiten, die ausgesprochen sensibel auf Drohungen und Bestrafungen reagieren, erleben durch steigende Einkommen einen besonders ausgeprägten Zugewinn an Wohlbefinden. Sind sie erst zu gewissem Wohlstand gelangt, können gerade in diesem Sinne neurotische Charaktere Geld vergleichsweise wenig abgewinnen. Insofern erschöpft sich der Reiz des Geldes bei angstgetriebenen Persönlichkeiten relativ rasch: Haben sie mehr zur Verfügung, steigt die Lebenszufriedenheit nicht weiter.
Auch Personen, denen materielle Werte nicht übermäßig wichtig sind, sondern die anderen Faktoren größere Bedeutung beimessen – Gerechtigkeit, saubere Umwelt, intakte Familie –, sind mit steigendem individuellem Einkommen nicht zu beglücken. Im Zuge des Wachstumsprozesses steigt die Zahl der Postmaterialisten. Wenn die eigenen materiellen Bedürfnisse gedeckt sind, gewinnen andere Dinge relativ an Wert. Dieser Effekt scheint sogar zyklisch zu verlaufen: Wenn die Wirtschaft gut läuft, gewinnen postmaterielle Werte die Oberhand. In Krisenzeiten hingegen, wenn das Risiko des Jobverlusts und des sozialen und materiellen Abstiegs steigt, ist der Postmaterialismus auf dem Rückzug.
Geld ist umso wichtiger, je weniger man davon hat. Und es muss in umso größeren Dosen verabreicht werden, je mehr davon bereits vorhanden ist, um eine Steigerung des Wohlbefindens auszulösen. Beide Effekte zusammen halten die Wirtschaft in Gang.
Bei 55.000 Euro Jahreseinkommen ist Schluss, haben der Nobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Mitstreiter Angus Deaton ermittelt. Mehr Geld pro Haushalt macht nicht glücklicher (allerdings auch nicht unbedingt unglücklicher). Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass Wirtschaftswachstum, dass das Streben nach immer mehr Wohlstand, emotional irrelevant sei. Ja, womöglich sogar eine Verirrung, eine Fehlleitung des Kapitalismus sei, die den Menschen von seiner eigenen Natur entfremde. Aber das wäre voreilig.
Kahneman und Deaton unterscheiden zwei Dimensionen des Wohlbefindens. Zum einen die „emotionale Qualität des Alltags“, die geprägt ist von Gefühlen wie Glück, Faszination, Angst, Traurigkeit, Wut oder Zuneigung. Zum anderen die vernunftgesteuerte „Evaluation des Lebens“, bei der Probanden eine bewusste Abwägung zwischen guten und schlechten Aspekten vornehmen. Beides zusammen geht dann in die üblichen Indikatoren zur Lebenszufriedenheit ein. Geld spielt auch fürs emotionale Wohlbefinden eine Rolle, so ihre Untersuchung, aber eben nur bis zu einer Höhe von rund 55000 Euro. Niedriges Einkommen bereite „emotionalen Schmerz“. Mehr noch: Wer kein Geld hat, erlebt Unglück bereitende Lebensumstände wie Scheidung, Krankheit und Alleinsein noch schlimmer. Für die rationale Evaluation des Lebens bleibt Geld wichtig, auch wenn man mehr als 55 000 Euro verdient. Im Zweifel ist mehr eben doch besser als weniger.
Im Kern wäre eine Lösung der Eurokrise ganz einfach: Die Währungs union muss nur nachhaltig ihre Schulden abbauen. Denn solange die staatlichen und privaten Verbindlichkeiten hoch sind, bleibt die Lage wacklig, weil sie die Wirtschaft bremsen. Wo verfügbare Mittel für Zins und Tilgung aufgewendet werden müssen, fehlen sie für Investitionen. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen? Der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat dazu Ende 2011 einen Vorschlag gemacht: Die Eurostaaten sollten einen Schuldentilgungsfonds schaffen und sich im Rahmen eines „Schuldentilgungspakts“ auf einen langfristigen Abbau der staatlichen Verbindlichkeiten verpflichten. Es wäre ein neues Instrument, das im Rahmen des Eurozonen-Settings einen Befreiungsschlag schaffen könnte.
Leider hat ein Schuldentilgungspakt bislang keinerlei Realisierungschance. Insbesondere in Deutschland gibt es einen breiten Konsens, dass eine Vergemeinschaftung von Schulden möglichst verhindert werden muss. Denn es gilt die Überzeugung: Die Übernahme von Schulden führt nur dazu, die Eigenverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates für sein finanzpolitisches Gebaren auszuhebeln.
Mal abgesehen davon, dass inzwischen eine verschärfte wirtschaftspolitische Überwachung und Vorabkontrolle der Haushaltspläne („Europäisches Semester“) eingeführt wurde, beantworten die Gegner eines Schuldentilgungspakts eine wichtige Frage nicht: Wie sonst sollen wir aus der Schuldenfalle kommen?
Gemessen an den Alternativen ist die Idee des Tilgungspakts eine einfache und risikoarme Lösung. Es handelt sich um einen Schritt, bei dem einmalig der Schuldenüberhang – also die über dem 60-Prozent- Grenzwert des Maastricht-Vertrags liegenden staatlichen Verbindlichkeiten – in einen gemeinsamen Fonds überführt würden. Bis zur 60-Prozent-Schwelle blieben die Schulden weiterhin in der exklusiven Verantwortung jedes einzelnen Landes.
Geht ein Mitgliedstaat tatsächlich pleite, garantieren die anderen Staaten die Rückzahlung. Folglich sinkt das Risiko drastisch, dass die Forderungen der Schuldner – der Besitzer von Anleihen aus dem Schuldentilgungsfonds – nicht zurückgezahlt werden.
Dieses Vorgehen hätte zwei Folgen: Zum einen sinken die Zinsen für hoch verschuldete Länder. Dadurch eröffnen sich Haushaltsspielräume, die eine Rückkehr zum Wirtschaftswachstum erlauben, was den Schuldenabbau erleichtern wird.
Solange die Eurozone verfasst ist als multistaatliche Währungsunion, in der letztlich die Souveränität bei den Mitgliedstaaten verbleibt, wird ein dauerhaft begehbarer Ausweg aus der Schuldenfalle kaum offenstehen. Letztlich ist die Eurozone damit immer noch mit einer beunruhigenden Alternative konfrontiert: Entweder die Währungsunion löst sich auf, was mit chaotischen Schuldenschnitten und Zahlungsausfällen verbunden wäre. Oder sie entwickelt sich weiter zu einem echten Föderalstaat.
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund und ehemaliger Chefredakteur des "Manager Magazins".
Die Huffington Post stellt Auszüge aus dem Buch vor, in denen sich Müller mit dem Einfluss von Geld auf unsere Zufriedenheit beschäftigt, mit der Immobilienblase und der Zukunft der Europäischen Union.
Irrtum 1: Immobilien sind sichere Anlagen
Die allgemeine Verunsicherung infolge der großen Krise hat extreme Szenarien in die Köpfe der Menschen gepflanzt: Der Zusammenbruch des Geldsystems, der zivilen Ordnung, des inneren und äußeren Friedens – alles scheint möglich.
Wer nicht an den völligen Zusammenbruch glaubt, aber den Verlust des Papiergeldwerts durch Inflation fürchtet, investiert typischerweise in Immobilien. Es ist ein Trend, der seit der Krise von 2009 gerade in Deutschland zu sehen ist. Geldvermögen, also Bankguthaben, Anleihen, Lebensversicherungen und so weiter, wird umgeschichtet in Häuser und Wohnungen. Immobilien gelten als sicheres Investment. Schließlich sind sie sinnlich sicht- und fassbar, was die psychologische Wirkung der Solidität unterstreicht.
Jeder Boom wird von echten Knappheiten entzündet: Es gibt offensichtlich gute Gründe, warum Immobilien im Preis steigen sollten – vor allem das Wachstum der Städte durch Wegzug aus dem sich leerenden flachen Land und durch Zuwanderung aus dem Ausland.
Auf diesen guten Gründen können sich leicht irrationale Übertreibungen aufbauen. Getrieben werden solche Blasen durch billiges Geld, also niedrige Zinsen, die eine Kreditfinanzierung ermöglichen. Da in Deutschland die Zinsen extrem niedrig sind und wohl auf absehbare Zeit auch auf sehr niedrigem Niveau bleiben werden, sind die Bedingungen für das Aufblähen einer Blase gegeben. Ob strengere Kreditvergabestandards, die von einigen Kreditinstituten inzwischen angewandt werden, genügen, um marktmäßige Übertreibungen durch die extrem niedrigen Zinsen zu dämpfen, ist eine offene Frage.
Dass Immobilien keineswegs sichere Anlagen sind, zeigt die Entwicklung, die viele andere Länder im vergangenen Jahrzehnt durchgemacht haben. So stiegen in der Phase des Kreditbooms, die auf die Gründung der Währungsunion folgte, die Preise über Jahre mit zweistelligen Prozentzahlen. Preisniveaus, die nicht bleiben, sondern sich zurückbilden, wenn der Boom vorbei ist. Wer auf einen laufenden Trend aufspringt und zu überhöhten Preisen kauft, riskiert nennenswerte Vermögensverluste. Aus Angst vor der Inflation der Verbraucherpreise sein Geld in inflationierte Vermögensgüter zu stecken, ist das Gegenteil einer Risikovermeidungsstrategie.
Immerhin, solange Immobilien vermietet sind oder selbst genutzt werden, werfen sie Erträge ab. Ausgewachsene Immobilienbooms haben aber die hässliche Eigenschaft, die Bauaktivität so stark anzuregen, dass ein Überangebot entsteht. Die Folge ist Leerstand und schlimmstenfalls die Insolvenz des Bauherrn.
Irrtum 2: Geld macht nicht glücklich
Versteht man unter materiellem Wohlstand allein die Menge an Waren und Dienstleistungen, die man sich kaufen kann, dann nutzt sich der Wohlfühleffekt des Geldes tatsächlich rasch ab. Obwohl sich das durchschnittliche Einkommen seit Anfang der 1980er Jahre deutlich erhöht hat – real um rund ein Viertel –, ist die durchschnittliche Lebenszufriedenheit in Deutschland weitgehend konstant.
Der „Grenznutzen“ (Ökonomenjargon) des Wohlstands sinkt unweigerlich: Das erste Auto ist eine mobilitätsmäßige Befreiung, das Drittauto stiftet kaum noch zusätzlichen Nutzen. Wenige schicke Kleidungsstücke zu besitzen kann enorme Freude machen, das 50. Kleid ist bedeutungslos. Warum besitzen dann manche Menschen unglaubliche Mengen an Zeug – Zimmer voller Schuhe, Garagen voller Autos, Keller voller Wein? Weil die Erfüllung des Haben-wollen-Wunsches einen kurzen Moment des Glücks auslöst.
Doch der Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Geld geht weit über simplen Konsum hinaus. Wohlstand macht das Leben sicherer, gesünder und interessanter. Das gilt für jeden Einzelnen wie für gesamte Gesellschaften. Einkommen und Besitz haben einen bedeutenden Einfluss auf das subjektive Zufriedenheitsempfinden.
Ein selbstbestimmtes Leben in Gesellschaft führen zu können, ohne Schmerz und Hunger, dank Wissen und Können interessanten Tätigkeiten nachgehen zu können – das sind weitere Zutaten zu einem glücklichen Leben, wie eine Unzahl empirischer Studien zeigen. Und fast alle dieser Einflussfaktoren sind geldbestimmt: Mit dem materiellen Wohlstand verbessern sich im Schnitt der Gesundheitszustand, die Ernährungslage, die Wohnsituation, der Bildungsstand, die öffentliche Sicherheit, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung.
Untersuchungen zeigen, dass Neurotiker besonders anfällig sind für die Verlockungen des Geldes, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Persönlichkeiten, die ausgesprochen sensibel auf Drohungen und Bestrafungen reagieren, erleben durch steigende Einkommen einen besonders ausgeprägten Zugewinn an Wohlbefinden. Sind sie erst zu gewissem Wohlstand gelangt, können gerade in diesem Sinne neurotische Charaktere Geld vergleichsweise wenig abgewinnen. Insofern erschöpft sich der Reiz des Geldes bei angstgetriebenen Persönlichkeiten relativ rasch: Haben sie mehr zur Verfügung, steigt die Lebenszufriedenheit nicht weiter.
Auch Personen, denen materielle Werte nicht übermäßig wichtig sind, sondern die anderen Faktoren größere Bedeutung beimessen – Gerechtigkeit, saubere Umwelt, intakte Familie –, sind mit steigendem individuellem Einkommen nicht zu beglücken. Im Zuge des Wachstumsprozesses steigt die Zahl der Postmaterialisten. Wenn die eigenen materiellen Bedürfnisse gedeckt sind, gewinnen andere Dinge relativ an Wert. Dieser Effekt scheint sogar zyklisch zu verlaufen: Wenn die Wirtschaft gut läuft, gewinnen postmaterielle Werte die Oberhand. In Krisenzeiten hingegen, wenn das Risiko des Jobverlusts und des sozialen und materiellen Abstiegs steigt, ist der Postmaterialismus auf dem Rückzug.
Geld ist umso wichtiger, je weniger man davon hat. Und es muss in umso größeren Dosen verabreicht werden, je mehr davon bereits vorhanden ist, um eine Steigerung des Wohlbefindens auszulösen. Beide Effekte zusammen halten die Wirtschaft in Gang.
Bei 55.000 Euro Jahreseinkommen ist Schluss, haben der Nobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Mitstreiter Angus Deaton ermittelt. Mehr Geld pro Haushalt macht nicht glücklicher (allerdings auch nicht unbedingt unglücklicher). Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass Wirtschaftswachstum, dass das Streben nach immer mehr Wohlstand, emotional irrelevant sei. Ja, womöglich sogar eine Verirrung, eine Fehlleitung des Kapitalismus sei, die den Menschen von seiner eigenen Natur entfremde. Aber das wäre voreilig.
Kahneman und Deaton unterscheiden zwei Dimensionen des Wohlbefindens. Zum einen die „emotionale Qualität des Alltags“, die geprägt ist von Gefühlen wie Glück, Faszination, Angst, Traurigkeit, Wut oder Zuneigung. Zum anderen die vernunftgesteuerte „Evaluation des Lebens“, bei der Probanden eine bewusste Abwägung zwischen guten und schlechten Aspekten vornehmen. Beides zusammen geht dann in die üblichen Indikatoren zur Lebenszufriedenheit ein. Geld spielt auch fürs emotionale Wohlbefinden eine Rolle, so ihre Untersuchung, aber eben nur bis zu einer Höhe von rund 55000 Euro. Niedriges Einkommen bereite „emotionalen Schmerz“. Mehr noch: Wer kein Geld hat, erlebt Unglück bereitende Lebensumstände wie Scheidung, Krankheit und Alleinsein noch schlimmer. Für die rationale Evaluation des Lebens bleibt Geld wichtig, auch wenn man mehr als 55 000 Euro verdient. Im Zweifel ist mehr eben doch besser als weniger.
Irrtum 3: Die Vergemeinschaftung von Schulden führt in den Ruin
Im Kern wäre eine Lösung der Eurokrise ganz einfach: Die Währungs union muss nur nachhaltig ihre Schulden abbauen. Denn solange die staatlichen und privaten Verbindlichkeiten hoch sind, bleibt die Lage wacklig, weil sie die Wirtschaft bremsen. Wo verfügbare Mittel für Zins und Tilgung aufgewendet werden müssen, fehlen sie für Investitionen. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen? Der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat dazu Ende 2011 einen Vorschlag gemacht: Die Eurostaaten sollten einen Schuldentilgungsfonds schaffen und sich im Rahmen eines „Schuldentilgungspakts“ auf einen langfristigen Abbau der staatlichen Verbindlichkeiten verpflichten. Es wäre ein neues Instrument, das im Rahmen des Eurozonen-Settings einen Befreiungsschlag schaffen könnte.
Leider hat ein Schuldentilgungspakt bislang keinerlei Realisierungschance. Insbesondere in Deutschland gibt es einen breiten Konsens, dass eine Vergemeinschaftung von Schulden möglichst verhindert werden muss. Denn es gilt die Überzeugung: Die Übernahme von Schulden führt nur dazu, die Eigenverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates für sein finanzpolitisches Gebaren auszuhebeln.
Mal abgesehen davon, dass inzwischen eine verschärfte wirtschaftspolitische Überwachung und Vorabkontrolle der Haushaltspläne („Europäisches Semester“) eingeführt wurde, beantworten die Gegner eines Schuldentilgungspakts eine wichtige Frage nicht: Wie sonst sollen wir aus der Schuldenfalle kommen?
Gemessen an den Alternativen ist die Idee des Tilgungspakts eine einfache und risikoarme Lösung. Es handelt sich um einen Schritt, bei dem einmalig der Schuldenüberhang – also die über dem 60-Prozent- Grenzwert des Maastricht-Vertrags liegenden staatlichen Verbindlichkeiten – in einen gemeinsamen Fonds überführt würden. Bis zur 60-Prozent-Schwelle blieben die Schulden weiterhin in der exklusiven Verantwortung jedes einzelnen Landes.
Geht ein Mitgliedstaat tatsächlich pleite, garantieren die anderen Staaten die Rückzahlung. Folglich sinkt das Risiko drastisch, dass die Forderungen der Schuldner – der Besitzer von Anleihen aus dem Schuldentilgungsfonds – nicht zurückgezahlt werden.
Dieses Vorgehen hätte zwei Folgen: Zum einen sinken die Zinsen für hoch verschuldete Länder. Dadurch eröffnen sich Haushaltsspielräume, die eine Rückkehr zum Wirtschaftswachstum erlauben, was den Schuldenabbau erleichtern wird.
Solange die Eurozone verfasst ist als multistaatliche Währungsunion, in der letztlich die Souveränität bei den Mitgliedstaaten verbleibt, wird ein dauerhaft begehbarer Ausweg aus der Schuldenfalle kaum offenstehen. Letztlich ist die Eurozone damit immer noch mit einer beunruhigenden Alternative konfrontiert: Entweder die Währungsunion löst sich auf, was mit chaotischen Schuldenschnitten und Zahlungsausfällen verbunden wäre. Oder sie entwickelt sich weiter zu einem echten Föderalstaat.
Redaktionell bearbeiteter Auszug aus:
Müller, Henrik: Wirtschaftsirrtümer. 50 Denkfehler, die uns Kopf und Kragen kosten.
2014. 304 S., zahlreiche Abbildungen, Klappenbroschur
EUR 19,99/EUA 20,60/sFr 28,90 ISBN 978-3-593-50131-4
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund und ehemaliger Chefredakteur des "Manager Magazins".
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