Heinle: Herr Unzicker, ich bin weder ein gelehrter Wissenschaftsautor, noch studierter Physiker. Sie werden heute von einem frischen Abiturienten interviewt. Ich betone dies, weil ich Ihnen natürlich kritische und nachhakende Fragen stellen werde, diese in Ihren Ohren aber vielleicht vollkommen doof klingen könnten. Sehen Sie unser Gespräch vielleicht weniger als intellektuell herausfordernde Gegenargumente eines ebenbürtigen Diskussionspartners und mehr als die Fragen eines interessierten Laien an.
Unzicker: Es gibt keine dummen Fragen. Wir haben heute gerade das Problem, dass sich die Wissenschaft in Teilbereichen verlaufen hat. Dazu ist es ungemein hilfreich, Fragen zu stellen, die unvoreingenommen sind und sich nicht mit Scheinerklärungen abspeisen lassen. Also nur zu!
Heinle: Sie kritisieren, dass die moderne Physik das Prinzip der Einfachheit mit Füßen trete. Eine Stringtheorie, die sieben Zusatzdimensionen braucht, für deren Existenz aus der Empirie heraus nichts spricht, sei nicht glaubwürdig. Und es stimmt, dass Forschungen und Hypothesen um die Stringtheorie oder am LHC furchtbar kompliziert geworden sind.
Aber auch die Molekularbiologie durchlebt eine Mathematisierung und Verkomplizierung sondergleichen. Und die von Ihnen kritisierten Forschungsbereiche wollen fundamentale Geheimnisse der Physik, wie etwa das des Urknalls, erklären.
Hier dürfte es doch nicht sehr verwunderlich sein, wenn man mit Schulmathematik oder Physik-Hausbastelkästen nicht weit kommt? Vielleicht ist die Welt einfach so kompliziert und somit auch unsere Theorien, die diese immer besser beschreiben wollen?
Unzicker: Ich versuche eine Antwort in zwei Teilen.
Erstens: Es gibt einen großen Unterschied zwischen „schwer" und „kompliziert", und der wird oft nicht wahrgenommen. Ich kritisiere, wenn ein Modell kompliziert ist, wie zum Beispiel das Standardmodell der Elementarteilchenphysik mit seinen Dutzenden willkürlichen Zahlen.
Das heißt aber nicht dass es wirklich schwierig wäre. Elementare Mathematik und Statistik reichen hier vollkommen aus, in ähnlicher Weise wie in einem Bausparvertrag vielleicht nur die vier Grundrechenarten vorkommen. Nur: der kann auch so kompliziert sein, dass Sie nicht mehr durchblicken. Nicht weil Ihnen die intellektuellen Kapazitäten fehlen, sondern weil Sie schlicht keine Lust haben, sich in ein Zahlengestrüpp einzuarbeiten, wenn der Output so unglaubwürdig ist.
Demgegenüber kann die für Physik relevante Mathematik durchaus schwer sein: Nehmen Sie zum Beispiel die allgemeine differentialgeometrische Formulierung des Stokesschen Satzes, der zwei wichtige Gesetze der Elektrodynamik zusammenfasst. Es handelt sich aber um eine Vereinfachung!
Einstein beschäftigte sich später intensiv mit der Differentialgeometrie, und es fiel ihm auch nicht leicht. Für fundamentale Naturgesetze benötigt man sicher nichttriviale Mathematik, diese kann gleichzeitig von einfacher Struktur und doch schwer zu verstehen sein. Und da sind die Physiker keineswegs immer bewandert.
Lassen Sie sich doch einmal von einem Elementarteilchenphysiker den Unterschied zwischen dem Riemannschen und dem Riemann-Christoffelschen Krümmungstensor erklären...
Zusammengefasst: Aussagen wie „Wir im CERN machen so schlaue Sachen, die nur wir verstehen, aber erklären können wir sie leider nicht" - den Schuh würde ich mir nicht anziehen.
Nun endlich zum zweiten Teil: Da teile ich die Überzeugung Einsteins, dass Naturgesetze, wenn sie glaubwürdig sein sollen, einfach sein müssen. Das hat sich in der Wissenschaftsgeschichte auch immer wieder herausgestellt. Die Standardmodelle enthalten aber so viel unerklärte Zahlen, die den Messungen angepasst werden. Das kann es nicht sein. Zugespitzt gesprochen, sucht man aber als Wissenschaftler Erklärungen, will etwas verstehen, berechnen, vorhersagen. Die fundamentale Physik hat da wenig erreicht in den letzten 80 Jahren.
Heinle: Aber der Erkenntnisgewinn in der Physik wurde immer dadurch erzielt, dass aus Beobachtungen Theorien abgeleitet wurden, aus diesen Theorien Hypothesen, aus den Hypothesen Ideen für neue Experimente oder Beobachtungen. Aber zum Zeitpunkt der Theoriebildung enthielten diese immer metaphysische Elemente, weil manchmal nicht klar war, wie der Test der Theorien erfolgen kann und weil eine Theorie ein Abbild ist und nicht die Realität selbst. Ob eine Theorie eine sinnvolle Beschreibung der Wirklichkeit werden würde, stellte sich erst später heraus. Bei heutigen Theorien liegen mögliche Experimente derzeit außerhalb unserer technischen Möglichkeiten. Ist das ein Stück weit nicht ganz normal?
Unzicker: Sie sprechen jetzt von den theoretischen Phantasien wie der Stringtheorie. Diese verschanzen sich dahinter, eines Tages könnte vielleicht in irgendeinem Experiment irgendetwas entdeckt werden, und nennen das Vorhersage. Ich kann da nur sagen: Wenn man nicht den Ehrgeiz verspürt, zu Lebzeiten seine Theorie bestätigt zu bekommen, soll man es bleiben lassen. Und zum ersten Teil ihrer Frage: ich kann da nur empfehlen, sich mit Wissenschaftsgeschichte zu beschäftigen.
Natürlich gab es etwas - ich würde es Visionen nennen - was der eigentlichen Entdeckung vorausging: Die Idee Newtons, irdische und himmlische Gravitation hingen zusammen; die Vermutung, Magnetismus und Gravitation könnten zusammenhängen usw. Einen ähnlichen Stellenwert messe ich der Vermutung Ernst Machs zu, die Größe des Universums sei für die Stärke der Gravitation verantwortlich. Thomas Kuhn hat diese Wissenschaftsentwicklung sehr aufschlussreich beschrieben. Heute fehlen auch solche Visionen.
Heinle: Hat die Physik seit Bohr überhaupt etwas richtig gemacht?
Unzicker: Das ist eine sehr verkürzte Frage... aber wenn Sie wieder Wissenschaftsgeschichte näher betrachten, sehen Sie um 1930 einen Bruch der Traditionen. Man ging dazu über, neue Teilchen zu postulieren, die man vorher für absurd gehalten hätte. Generell suchte man nicht mehr nach Erklärungen, sondern gab sich mit Beschreibungen zufrieden. Ich halte das letztlich für den falschen Weg, auch wenn das schwer zu rechtfertigen scheint, wenn sich so viele Leute bemüht haben. Bedenken Sie aber, dass Einstein, Dirac und Schrödinger mit ihren Ansichten zur Einfachheit und Ihren Forderungen nach Erklärungen als Außenseiter starben...
Heinle: Weiterhin kritisieren Sie das Standardmodell der Kosmologie, das der Elementarteilchenphysik usw. Auch diese seien zu kompliziert. Wenn ich mir aber das alle bekannten Teilchen beinhaltende SM ansehe, so ist es doch eigentlich noch viel überschaubarer als das etablierte und vielfach für seine Einfachheit gerühmte Periodensystem der chemischen Elemente. Oder liegt hier die Kompliziertheit woanders?
Unzicker: Da sitzen Sie einer etwas oberflächlichen Propaganda auf. Die Einfachheit des Periodensystems liegt ja keineswegs bei seinen 92 Elementen, sondern darin, dass generell Materie im atomistischen Modell verstanden werden konnte. Das war eine großartige Leistung nicht nur von Mendelejew, sondern auch von Dalton, Proust, Lavoisier und vielen anderen, bis hin zu Boltzmann und Bohr. Und sie gipfelte darin, dass man die Phänomene der Materie weitgehend mit zwei Teilchen - Elektron und Proton - erklären konnte. So eine Einfachheit hat die Physik seitdem nicht mehr erreicht. Das heutige Standardmodell mit seinen endlos vielen Teilchen und metaphysischen Konzepten damit zu vergleichen, ist lächerlich, um nicht zu sagen unredlich.
Heinle: Sie bezweifeln öffentlich, dass das Higgs-Teilchen tatsächlich im CERN gemessen worden sei. Sind Sie wirklich schlauer, als über 3.000 Mitarbeiter und mehr als 10.000 Gastwissenschaftler?
Unzicker: Darum geht es doch nicht. Leider zeigt uns die Geschichte, dass sich auch hochintelligente Menschen sehr verlaufen können, gerade wenn es in der Meinungsbildung eine Gruppendynamik gibt. Nehmen Sie das geozentrische Weltbild im Mittelalter oder die Elite der Geologen, die ein halbes Jahrhundert nicht an die Kontinentaldrift glaubte, die Alfred Wegener bereits 1912 vorgeschlagen hatte.
Aber Sie können sogar in der Gegenwart bleiben: Entgegen der einhelligen Überzeugung der Experten in der Wirtschaftswissenschaft haben einige gesehen, dass eine Blase wie 2007 zu einem Crash führen musste. Um das vorherzusehen, musste man bestimmt kein Genie sein. Aber es benötigt Unabhängigkeit. Ich bin in der privilegierten Situation, dass ich Dinge ansprechen kann, die andere Physiker lieber hinter vorgehaltener Hand sagen.
Inhaltlich ist diese Geschichte des Higgs-Teilchens ziemlich lächerlich. Man musste einfach irgendetwas finden, um den Aufwand zu rechtfertigen, der sich längst verselbstständigt hat. Und die Beteiligten haben zu viel Ihrer wissenschaftlichen Karriere investiert, um sich selbst eingestehen zu können, dass die Higgs-Jagd aus der Perspektive fundamentaler Physik absurd war. Herausgefunden wurde dabei gar nichts.
Heinle: Sie kritisieren auch höchst praktische Aspekte der heutigen Physik. Dann reden Sie von einer Art „String-Lobby" und fehlender Transparenz bei Großexperimenten wie etwa denen beim CERN. Was hat man sich darunter jeweils vorzustellen? Was muss geschehen, damit die Physik wieder freier und offener wird?
Unzicker: Das Problem ist doch heute, dass die Folgerungen der Experten heute niemand mehr nachprüfen kann, eine zutiefst unwissenschaftliche Situation. Deshalb lautet meine Forderung, dass die Rohdaten und alle Auswertungsschritte grundsätzlich veröffentlicht und dokumentiert werden müssen. In Zeiten des Internets bin ich da prinzipiell Optimist, aber es wird noch ein langer, mit vielen Ausreden gepflasterter Weg dorthin sein...
Heinle: Wie sieht die Zukunft der Physik aus? Was kann und was wird sie leisten?
Unzicker: Irgendwann werden sich die Standardmodelle der Physik sicherlich als Sackgasse herausstellen, aber es ist praktisch unmöglich, vorherzusagen, wann. Noch schwerer ist es zu sagen, wie eine wirklich gute Theorie aussehen könnte. Ich habe in meinen Büchern ja über die Ideen von Einstein, Dirac und Dicke geschrieben, die ich für verfolgenswert halte.
Heinle: Welche Theorie ist der aussichtsreichste Kandidat für eine Synthese aus Relativitätstheorie und Quantentheorie? Wenn es derzeit überhaupt keinen aktuellen Kandidaten gibt, wie steht es mit dem Anspruch der Physik, eine universelle Antwort auf das Wesen der Realität zu geben? Muss dieser dann nicht aufgegeben werden?
Unzicker: Da muss ich doch ein wenig ironisch werden: Wenn sie irgendwo etwas von einem „aussichtsreichsten Kandidaten" hören, vergessen Sie es. Da wird nur Wind gemacht, um Mittel einzuwerben.
Ich bin mir sicher, dass es sehr schwer wird, Relativitätstheorie und Quantentheorie zu vereinigen, weil das Problem wahrscheinlich falsch formuliert ist. Letztlich hat man keine Chance es zu verstehen, solange es nicht eine Erklärung gibt, warum die Natur überhaupt die Fundamentalkonstanten Lichtgeschwindigkeit c (für die Relativitätstheorie) und h (für die Quantentheorie) erfunden hat. Letztlich rührt dies an den Begriffen von Raum und Zeit selbst. Es könnte sein, dass sich diese als inadäquate Begriffe herausstellen, die Realität zu beschreiben, obwohl sie so anschaulich sind.
Dann wird es ziemlich schwer. Darüber denke ich eine Menge nach. Aber aufgeben würde ich nicht.
Heinle: Menschen möchten, dass ihr Leben einen Sinn hat. Denken Sie, dass Religionen weiterhin einen Platz haben, wenn die Physik keine metaphysischen Ansprüche erheben, sondern sich strikt an experimentell überprüfbare Tatsachen halten soll? Und was denken Sie? Hat das Leben einen Sinn?
Unzicker: Hier auch wieder zwei Teile. Als Naturwissenschaftler kann ich mit Religionen und Mythen wenig anfangen. Eine Ironie der Geschichte ist natürlich, dass es heute Wissenschaftsbereiche gibt, die so in Autoritätsgläubigkeit, Nichtüberprüfbarkeit und Nachplappern verfallen sind, dass sie sich kaum mehr von der Kirche des Mittelalters unterscheiden - die ja damals durchaus die konzentrierte Intelligenz war.
Sinn des Lebens ist für mich, die Welt zu verstehen und die menschliche Zivilisation zu bewahren. Das funktioniert nur evidenzbasiert, wenn Sie so wollen, mit einer naturwissenschaftlichen Lebenseinstellung. Ich finde das auch so interessant, dass für andere Dinge einfach wenig Zeit verbleibt. Und ich bin dankbar, dass ich an diesem Abenteuer der Menschheit auf diesem Planeten teilnehmen kann.
Heinle: Sie sind Mitglied bei Mensa, einem Verein für Hochbegabte. Was hat man persönlich davon dort einzutreten und sind Sie dort noch aktiv?
Unzicker: Ich bin nach einiger Zeit wieder ausgetreten. Ganz allgemein denke ich, man sollte Gruppenzugehörigkeiten jeglicher Art nicht überschätzen. Die Menschen sind Individuen.
Heinle: Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben!
Alexander Unzicker ist 1965 in München geboren. Er unterrichtet Physik und ist Autor des Buches "Vom Urknall zum Durchknall - die absurde Jagd nach der Weltformel", das 2010 den Wissenschafts-Buch-des-Jahres-Preis gewonnen hat.
Unzicker: Es gibt keine dummen Fragen. Wir haben heute gerade das Problem, dass sich die Wissenschaft in Teilbereichen verlaufen hat. Dazu ist es ungemein hilfreich, Fragen zu stellen, die unvoreingenommen sind und sich nicht mit Scheinerklärungen abspeisen lassen. Also nur zu!
Heinle: Sie kritisieren, dass die moderne Physik das Prinzip der Einfachheit mit Füßen trete. Eine Stringtheorie, die sieben Zusatzdimensionen braucht, für deren Existenz aus der Empirie heraus nichts spricht, sei nicht glaubwürdig. Und es stimmt, dass Forschungen und Hypothesen um die Stringtheorie oder am LHC furchtbar kompliziert geworden sind.
Aber auch die Molekularbiologie durchlebt eine Mathematisierung und Verkomplizierung sondergleichen. Und die von Ihnen kritisierten Forschungsbereiche wollen fundamentale Geheimnisse der Physik, wie etwa das des Urknalls, erklären.
Hier dürfte es doch nicht sehr verwunderlich sein, wenn man mit Schulmathematik oder Physik-Hausbastelkästen nicht weit kommt? Vielleicht ist die Welt einfach so kompliziert und somit auch unsere Theorien, die diese immer besser beschreiben wollen?
Unzicker: Ich versuche eine Antwort in zwei Teilen.
Erstens: Es gibt einen großen Unterschied zwischen „schwer" und „kompliziert", und der wird oft nicht wahrgenommen. Ich kritisiere, wenn ein Modell kompliziert ist, wie zum Beispiel das Standardmodell der Elementarteilchenphysik mit seinen Dutzenden willkürlichen Zahlen.
Das heißt aber nicht dass es wirklich schwierig wäre. Elementare Mathematik und Statistik reichen hier vollkommen aus, in ähnlicher Weise wie in einem Bausparvertrag vielleicht nur die vier Grundrechenarten vorkommen. Nur: der kann auch so kompliziert sein, dass Sie nicht mehr durchblicken. Nicht weil Ihnen die intellektuellen Kapazitäten fehlen, sondern weil Sie schlicht keine Lust haben, sich in ein Zahlengestrüpp einzuarbeiten, wenn der Output so unglaubwürdig ist.
Demgegenüber kann die für Physik relevante Mathematik durchaus schwer sein: Nehmen Sie zum Beispiel die allgemeine differentialgeometrische Formulierung des Stokesschen Satzes, der zwei wichtige Gesetze der Elektrodynamik zusammenfasst. Es handelt sich aber um eine Vereinfachung!
Einstein beschäftigte sich später intensiv mit der Differentialgeometrie, und es fiel ihm auch nicht leicht. Für fundamentale Naturgesetze benötigt man sicher nichttriviale Mathematik, diese kann gleichzeitig von einfacher Struktur und doch schwer zu verstehen sein. Und da sind die Physiker keineswegs immer bewandert.
Lassen Sie sich doch einmal von einem Elementarteilchenphysiker den Unterschied zwischen dem Riemannschen und dem Riemann-Christoffelschen Krümmungstensor erklären...
Zusammengefasst: Aussagen wie „Wir im CERN machen so schlaue Sachen, die nur wir verstehen, aber erklären können wir sie leider nicht" - den Schuh würde ich mir nicht anziehen.
Nun endlich zum zweiten Teil: Da teile ich die Überzeugung Einsteins, dass Naturgesetze, wenn sie glaubwürdig sein sollen, einfach sein müssen. Das hat sich in der Wissenschaftsgeschichte auch immer wieder herausgestellt. Die Standardmodelle enthalten aber so viel unerklärte Zahlen, die den Messungen angepasst werden. Das kann es nicht sein. Zugespitzt gesprochen, sucht man aber als Wissenschaftler Erklärungen, will etwas verstehen, berechnen, vorhersagen. Die fundamentale Physik hat da wenig erreicht in den letzten 80 Jahren.
Heinle: Aber der Erkenntnisgewinn in der Physik wurde immer dadurch erzielt, dass aus Beobachtungen Theorien abgeleitet wurden, aus diesen Theorien Hypothesen, aus den Hypothesen Ideen für neue Experimente oder Beobachtungen. Aber zum Zeitpunkt der Theoriebildung enthielten diese immer metaphysische Elemente, weil manchmal nicht klar war, wie der Test der Theorien erfolgen kann und weil eine Theorie ein Abbild ist und nicht die Realität selbst. Ob eine Theorie eine sinnvolle Beschreibung der Wirklichkeit werden würde, stellte sich erst später heraus. Bei heutigen Theorien liegen mögliche Experimente derzeit außerhalb unserer technischen Möglichkeiten. Ist das ein Stück weit nicht ganz normal?
Unzicker: Sie sprechen jetzt von den theoretischen Phantasien wie der Stringtheorie. Diese verschanzen sich dahinter, eines Tages könnte vielleicht in irgendeinem Experiment irgendetwas entdeckt werden, und nennen das Vorhersage. Ich kann da nur sagen: Wenn man nicht den Ehrgeiz verspürt, zu Lebzeiten seine Theorie bestätigt zu bekommen, soll man es bleiben lassen. Und zum ersten Teil ihrer Frage: ich kann da nur empfehlen, sich mit Wissenschaftsgeschichte zu beschäftigen.
Natürlich gab es etwas - ich würde es Visionen nennen - was der eigentlichen Entdeckung vorausging: Die Idee Newtons, irdische und himmlische Gravitation hingen zusammen; die Vermutung, Magnetismus und Gravitation könnten zusammenhängen usw. Einen ähnlichen Stellenwert messe ich der Vermutung Ernst Machs zu, die Größe des Universums sei für die Stärke der Gravitation verantwortlich. Thomas Kuhn hat diese Wissenschaftsentwicklung sehr aufschlussreich beschrieben. Heute fehlen auch solche Visionen.
Heinle: Hat die Physik seit Bohr überhaupt etwas richtig gemacht?
Unzicker: Das ist eine sehr verkürzte Frage... aber wenn Sie wieder Wissenschaftsgeschichte näher betrachten, sehen Sie um 1930 einen Bruch der Traditionen. Man ging dazu über, neue Teilchen zu postulieren, die man vorher für absurd gehalten hätte. Generell suchte man nicht mehr nach Erklärungen, sondern gab sich mit Beschreibungen zufrieden. Ich halte das letztlich für den falschen Weg, auch wenn das schwer zu rechtfertigen scheint, wenn sich so viele Leute bemüht haben. Bedenken Sie aber, dass Einstein, Dirac und Schrödinger mit ihren Ansichten zur Einfachheit und Ihren Forderungen nach Erklärungen als Außenseiter starben...
Heinle: Weiterhin kritisieren Sie das Standardmodell der Kosmologie, das der Elementarteilchenphysik usw. Auch diese seien zu kompliziert. Wenn ich mir aber das alle bekannten Teilchen beinhaltende SM ansehe, so ist es doch eigentlich noch viel überschaubarer als das etablierte und vielfach für seine Einfachheit gerühmte Periodensystem der chemischen Elemente. Oder liegt hier die Kompliziertheit woanders?
Unzicker: Da sitzen Sie einer etwas oberflächlichen Propaganda auf. Die Einfachheit des Periodensystems liegt ja keineswegs bei seinen 92 Elementen, sondern darin, dass generell Materie im atomistischen Modell verstanden werden konnte. Das war eine großartige Leistung nicht nur von Mendelejew, sondern auch von Dalton, Proust, Lavoisier und vielen anderen, bis hin zu Boltzmann und Bohr. Und sie gipfelte darin, dass man die Phänomene der Materie weitgehend mit zwei Teilchen - Elektron und Proton - erklären konnte. So eine Einfachheit hat die Physik seitdem nicht mehr erreicht. Das heutige Standardmodell mit seinen endlos vielen Teilchen und metaphysischen Konzepten damit zu vergleichen, ist lächerlich, um nicht zu sagen unredlich.
Heinle: Sie bezweifeln öffentlich, dass das Higgs-Teilchen tatsächlich im CERN gemessen worden sei. Sind Sie wirklich schlauer, als über 3.000 Mitarbeiter und mehr als 10.000 Gastwissenschaftler?
Unzicker: Darum geht es doch nicht. Leider zeigt uns die Geschichte, dass sich auch hochintelligente Menschen sehr verlaufen können, gerade wenn es in der Meinungsbildung eine Gruppendynamik gibt. Nehmen Sie das geozentrische Weltbild im Mittelalter oder die Elite der Geologen, die ein halbes Jahrhundert nicht an die Kontinentaldrift glaubte, die Alfred Wegener bereits 1912 vorgeschlagen hatte.
Aber Sie können sogar in der Gegenwart bleiben: Entgegen der einhelligen Überzeugung der Experten in der Wirtschaftswissenschaft haben einige gesehen, dass eine Blase wie 2007 zu einem Crash führen musste. Um das vorherzusehen, musste man bestimmt kein Genie sein. Aber es benötigt Unabhängigkeit. Ich bin in der privilegierten Situation, dass ich Dinge ansprechen kann, die andere Physiker lieber hinter vorgehaltener Hand sagen.
Inhaltlich ist diese Geschichte des Higgs-Teilchens ziemlich lächerlich. Man musste einfach irgendetwas finden, um den Aufwand zu rechtfertigen, der sich längst verselbstständigt hat. Und die Beteiligten haben zu viel Ihrer wissenschaftlichen Karriere investiert, um sich selbst eingestehen zu können, dass die Higgs-Jagd aus der Perspektive fundamentaler Physik absurd war. Herausgefunden wurde dabei gar nichts.
Heinle: Sie kritisieren auch höchst praktische Aspekte der heutigen Physik. Dann reden Sie von einer Art „String-Lobby" und fehlender Transparenz bei Großexperimenten wie etwa denen beim CERN. Was hat man sich darunter jeweils vorzustellen? Was muss geschehen, damit die Physik wieder freier und offener wird?
Unzicker: Das Problem ist doch heute, dass die Folgerungen der Experten heute niemand mehr nachprüfen kann, eine zutiefst unwissenschaftliche Situation. Deshalb lautet meine Forderung, dass die Rohdaten und alle Auswertungsschritte grundsätzlich veröffentlicht und dokumentiert werden müssen. In Zeiten des Internets bin ich da prinzipiell Optimist, aber es wird noch ein langer, mit vielen Ausreden gepflasterter Weg dorthin sein...
Heinle: Wie sieht die Zukunft der Physik aus? Was kann und was wird sie leisten?
Unzicker: Irgendwann werden sich die Standardmodelle der Physik sicherlich als Sackgasse herausstellen, aber es ist praktisch unmöglich, vorherzusagen, wann. Noch schwerer ist es zu sagen, wie eine wirklich gute Theorie aussehen könnte. Ich habe in meinen Büchern ja über die Ideen von Einstein, Dirac und Dicke geschrieben, die ich für verfolgenswert halte.
Heinle: Welche Theorie ist der aussichtsreichste Kandidat für eine Synthese aus Relativitätstheorie und Quantentheorie? Wenn es derzeit überhaupt keinen aktuellen Kandidaten gibt, wie steht es mit dem Anspruch der Physik, eine universelle Antwort auf das Wesen der Realität zu geben? Muss dieser dann nicht aufgegeben werden?
Unzicker: Da muss ich doch ein wenig ironisch werden: Wenn sie irgendwo etwas von einem „aussichtsreichsten Kandidaten" hören, vergessen Sie es. Da wird nur Wind gemacht, um Mittel einzuwerben.
Ich bin mir sicher, dass es sehr schwer wird, Relativitätstheorie und Quantentheorie zu vereinigen, weil das Problem wahrscheinlich falsch formuliert ist. Letztlich hat man keine Chance es zu verstehen, solange es nicht eine Erklärung gibt, warum die Natur überhaupt die Fundamentalkonstanten Lichtgeschwindigkeit c (für die Relativitätstheorie) und h (für die Quantentheorie) erfunden hat. Letztlich rührt dies an den Begriffen von Raum und Zeit selbst. Es könnte sein, dass sich diese als inadäquate Begriffe herausstellen, die Realität zu beschreiben, obwohl sie so anschaulich sind.
Dann wird es ziemlich schwer. Darüber denke ich eine Menge nach. Aber aufgeben würde ich nicht.
Heinle: Menschen möchten, dass ihr Leben einen Sinn hat. Denken Sie, dass Religionen weiterhin einen Platz haben, wenn die Physik keine metaphysischen Ansprüche erheben, sondern sich strikt an experimentell überprüfbare Tatsachen halten soll? Und was denken Sie? Hat das Leben einen Sinn?
Unzicker: Hier auch wieder zwei Teile. Als Naturwissenschaftler kann ich mit Religionen und Mythen wenig anfangen. Eine Ironie der Geschichte ist natürlich, dass es heute Wissenschaftsbereiche gibt, die so in Autoritätsgläubigkeit, Nichtüberprüfbarkeit und Nachplappern verfallen sind, dass sie sich kaum mehr von der Kirche des Mittelalters unterscheiden - die ja damals durchaus die konzentrierte Intelligenz war.
Sinn des Lebens ist für mich, die Welt zu verstehen und die menschliche Zivilisation zu bewahren. Das funktioniert nur evidenzbasiert, wenn Sie so wollen, mit einer naturwissenschaftlichen Lebenseinstellung. Ich finde das auch so interessant, dass für andere Dinge einfach wenig Zeit verbleibt. Und ich bin dankbar, dass ich an diesem Abenteuer der Menschheit auf diesem Planeten teilnehmen kann.
Heinle: Sie sind Mitglied bei Mensa, einem Verein für Hochbegabte. Was hat man persönlich davon dort einzutreten und sind Sie dort noch aktiv?
Unzicker: Ich bin nach einiger Zeit wieder ausgetreten. Ganz allgemein denke ich, man sollte Gruppenzugehörigkeiten jeglicher Art nicht überschätzen. Die Menschen sind Individuen.
Heinle: Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben!
Alexander Unzicker ist 1965 in München geboren. Er unterrichtet Physik und ist Autor des Buches "Vom Urknall zum Durchknall - die absurde Jagd nach der Weltformel", das 2010 den Wissenschafts-Buch-des-Jahres-Preis gewonnen hat.