Am 26. Dezember jährte sich der Geburtstag des Großen Vorsitzenden zum 120. Male. Von den drei mächtigen Diktatoren des 20. Jahrhunderts ist Mao zweifelsohne derjenige, der im eigenen Land heute mit Abstand die größte Verehrung genießt. Das liegt natürlich daran, dass in China immer noch die Kommunistische Partei das Sagen hat, während weder Hitlers Deutschland, noch Stalins Sowjetunion heute noch existieren.
Der Umgang Chinas mit Mao ist jedoch ein interessantes Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient. Die offizielle Linie ist seit Deng Xiaoping klar definiert. Mit der sogenannten 70-30 Regel legt die Regierung fest, dass 70 Prozent von Maos Erbe positiv und 30 Prozent negativ seien. Dabei entfallen die 30 Prozent fast ausschließlich auf die Kulturrevolution, die das Land von 1966 bis 1976 im Chaos versinken ließ.
Auch der amtierende Präsident Xi Jinping reiht sich in diese Logik ein. In seiner Rede anlässlich einer Jubiläumsfeier sparte er nicht mit Lobhudeleien. Mao sei eine wichtige Persönlichkeit in der Geschichte Chinas, die der Nation ein neues Gesicht verliehen und das Volk in eine neue Zukunft geführt habe, sagte er beispielsweise.
Interessanter sind jedoch die Passagen in Xis Rede, die von den 30 negativen Prozent handeln. Diese seien das Ergebnis einer Vielfalt subjektiver, persönlicher Faktoren sowie gesellschaftlicher Umstände, die man nur im geschichtlichen Kontext verstehen dürfe. Man dürfe unsere Vorfahren keinesfalls an heutigen Standards messen und Maos Rolle in der Geschichte müsse von allen möglichen Seiten beleuchtet werden.
Dieser letzte Gedanke ist interessant, da es in China immer mehr Stimmen gibt, die genau eine solch vollständige Analyse von Mao fordern und die immer noch einseitige Darstellung der Regierung anprangern. So beklagt zum Beispiel der liberale Intellektuelle und Volkswirt Mao Yushi in einem Interview mit The Hindu, dass man in Schulbüchern immer noch vergeblich nach Informationen über die dreijährige Hungersnot während des Großen Sprung nach Vorn suche.
Dabei gibt es längst auch chinesische Literatur, die solche Missstände wissenschaftlich fundiert analysieren und präsentieren. Ein Beispiel ist hier Yang Jishengs Mubei, das 2008 in Hong Kong erschien und auf mehreren hundert Seiten minuziös die Opferzahlen des Großen Sprung nach Vorn analysiert, in China jedoch bis heute auf dem Index steht. Hierzulande erschien es 2012 im S. Fischer Verlag. Generell, schließt Mao Yushi, sei die Geschichte eine von der Regierung fabrizierte Geschichte, die das Volk im Dunkeln halten soll über die wahre Natur des Großen Vorsitzenden.
Glaubt man Sidney Rittenberg, US Amerikaner und ehemaliger Weggefährte Maos, ist der Regierung dies gelungen. In einem aktuellen Interview mit The Atlantic sagt er: „Junge Menschen, die heute aufwachsen, auch junge Parteimitglieder, haben keine Ahnung, wer er (Mao) war, was er schrieb und was er tat. Alles, was sie wissen, ist, dass er so eine Art George Washington war. Er war der Gründer der Nation, der Einiger des Volkes und so weiter."
Das kann der Regierung nur recht sein, denn sie ist auf diesen Mythos angewiesen, um ihre eigene Stellung zu legitimieren. In einem Essay betont auch Bao Tong, u.a. ehemaliger Direktor des Büros für politische Reform des Zentralkomitees der KP, dass Chinas heutige Führung den Mythos Mao als Erlöser und Einiger Chinas am Leben hält, um ihn sich selbst und den zukünftigen Führungsgenerationen zu injizieren. Eine objektive Analyse und Verarbeitung der eigenen Geschichte, wie von Xi Jinping in seiner Rede gefordert, wäre wohl eher kontraproduktiv. Man darf also erwarten, dass auch am 121. Geburtstag wieder die gleiche 70-30 Leier zu vernehmen sein wird.