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"Eine gute Mutter würde ihr schreiendes Baby auf den Arm nehmen"

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Das Schreien des Babys war entsetzlich.

Das Baby (ich weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war), weinte schon zehn Minuten lang. Jeder einzelne in der Schlange in der Apotheke verwünschte das Kind samt seiner Mutter. Die Mutter schaukelte ständig den Kinderwagen und versuchte verzweifelt, das Kind ruhig zu bekommen - ohne jeden Erfolg.

Dann sprach es ein Mann, der kein Shirt trug und offenbar zu viele Tage in der Sonne von Venice verbracht hatte, LAUT aus, sodass jeder es hören konnte:

"Eine gute Mutter würde ihr schreiendes Kind auf den Arm nehmen."

Die junge Mutter ignorierte ihn und lächelte ein den Verkäufer an, wahrscheinlich in der Hoffnung, ihrem Urteil und dem der Jury so schnell wie möglich zu entkommen. Ein anderer Mann hinter mir in der Schlange, drehte sich um und sagte: „Für uns alle wird es besser werden, wenn sie weg ist." Ich nickte.

Dann sah ich den Einkaufskorb der Frau: drei Diät-Kräuterlimonaden. Das war's. Ziemlich komisch. Warum tut man sich das an, ein fünf oder sechs Monate altes Baby um 14 Uhr zur Filiale einer großen Apothekenkette zu schleppen, um drei Flaschen Diätlimo zu kaufen?

Und warum nahm die Frau nicht ihr Kind aus dem Wagen? Merkte sie denn nicht, dass das Kind weinte und wir alle darunter litten? Warum, verdammt noch mal, war sie eine schlechte Mutter?

Vielleicht war sie keine.

Im Schauspielunterricht wollten die Lehrer immer, dass ich an den „Moment davor" denke. Da Filmszenen meist mitten in einer Konversation starten - zum Beispiel werden all diese „Hallo, wie geht's?" und „Danke, und dir? Floskeln ausgelassen - müssen Schauspieler sich Gedanken darüber machen, was die Person dachte oder fühlte, bevor die Szene begann.

Stand sie im Stau? War sie nervös? Ist ihre Mutter eben gestorben? Wie ist die Gemütslage der Person?

Als ich die arme zerrupfte Mutter ansah, die öffentlich dafür gescholten wurde, dass sie ihr Baby nicht dazu brachte, still zu sein, dachte ich an den „Moment davor".

Vielleicht war sie die ganze Zeit nur zu Hause mit dem neuen Baby und wollte einfach mal frische Luft, also ging sie zur Apotheke, und weil sie nicht wirklich etwas brauchte, kaufte sie eben ein bisschen Diätlimo.

Vielleicht macht ihr das Freude? Vielleicht mag ihr Freund oder Mann die Limo? Vielleicht kann sie sich nicht mehr leisten?

Oder vielleicht hat ihr Baby schon die ganze Nacht und den ganzen Tag geschrien und sie versuchte, ihm beizubringen, ohne einen Anfall zu kriegen, im Kinderwagen zu liegen, und die Apotheke war ein Test?

Vielleicht versuchte sie, ihr Kind daran zu gewöhnen, dass sie es nicht ständig hochnehmen kann? Ich habe kein Baby. Ich weiß nicht, wie so etwas läuft.

Vielleicht hatte das Baby richtig Hunger und sie wusste das und versuchte, endlich aus dem Laden zu kommen, aber die verdammte Schlange war zehn Minuten lang. Vielleicht wollte sie nie so lange bleiben (schließlich kaufte sie nur ein wenig Limo) und wusste, dass sie für Stillen in der Öffentlichkeit auch eins drauf gekriegt hätte. Vielleicht war das hier einfach die einzige Möglichkeit, die sie hatte.

Es gibt tausend Gründe, die die Diät-Kräuterlimo-kaufende Mutter dazu bewogen haben können, ihr Baby nicht auf den Arm zu nehmen, aber keiner von uns dachte daran. Wir haben über sie gerichtet, sie verurteilt und sie mit ihrer Strafe gehen lassen: öffentliche Demütigung.

Ich fühlte mich schrecklich. Keiner von uns war nett gewesen. Oder hatte sie verteidigt, als sie angeschrien wurde.

Solche Momente wie diesen gibt es jeden Tag. Jemand schneidet dich im Verkehr, schreit dich im Büro an, bürstet dich an der Bar ab. Was für ein Arschloch, nicht wahr?

Falsch. Vielleicht sollten wir mal aufhören, darüber nachzudenken, was die anderen uns antun und mehr darüber nachdenken, was die anderen dazu gebracht hat, so zu handeln, was ihr „Moment davor" war. Wir wären gezwungen, ein wenig mehr Mitgefühl zu zeigen, und die Welt wäre viel besser.

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