Quantcast
Channel: Huffington Post Germany Athena
Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Reizdarm-Syndrom: Wie ich mit einer Tabu-Krankheit lebe

$
0
0
Manchmal kommen die Krämpfe aus dem Nichts. Sie werden immer schlimmer - bis ich das Gefühl habe, dass mein Unterleib zerreißt. Ich krümme mich, versuche meinen aufgebrachten Bauch mit kreisenden Bewegungen meiner Hände zu beruhigen. Doch nichts hilft. Ich brauche ein Klo. Sofort.

Seit etwa 14 Jahren leide ich am sogenannten Reizdarm-Syndrom. Es fing in meiner Jugend an. Was genau mit mir los war, erfuhr ich aber erst später. Ich bekam Schmerzen. Krämpfe. Mein Bauch blähte sich. Mir war schlecht. Und ja: Ich hatte Durchfall. Immer und immer wieder.

Reizdarm-Syndrom: Tabletten machen alles schlimmer

Beim Abiball stand ich hinter der Bühne und wartete, bis ich mit meiner Rede dran war. Ich schwitzte im Scheinwerferlicht und wäre vor Schmerzen fast ohnmächtig geworden. Aber verschwinden, jetzt? Nein, das ging nicht. Also stand ich die Qualen durch, bis ich die Rede hinter mir hatte und zur nächsten Toilette stürmen konnte.

Ich fing an, vorbeugend Tabletten zu schlucken. Dass sie alles nur schlimmer machen, lernte ich erst später.

Einmal erwischte es mich auf einem Bahnsteig, mitten in der mecklenburgischen Provinz. Ich war unterwegs zu einem wichtigen beruflichen Termin und musste umsteigen. In Ludwigslust, diesen Ortsnamen werde ich wohl nie vergessen. Dort hing ich eine halbe Stunde auf einer dunklen, schmutzigen Bahnhofstoilette fest. Und verpasste meinen Anschluss.

Nachts liege ich zitternd auf dem Badezimmer-Boden

Eine Lebensmittelvergiftung ist für mich wie ein kleiner Weltuntergang. Oft verbringe ich Nächte auf der Toilette. Ich liege zitternd auf dem Badezimmerboden und wünschte, ich wäre tot.

Vor acht Jahren ging ich endlich zum Arzt. Er untersuchte mich gründlich: Ultraschall, Blutprobe, Laktose-Test, Magenspiegelung, Darmspiegelung. Das alles blieb ergebnislos. "Reizdarm"-Syndrom, sagte mir der Arzt schließlich.

Die Betroffenen haben Schmerzen und Krämpfe. Manche leiden an Durchfall, manche an Verstopfung. Die Nerven im Darm sind bei diesen Menschen besonders empfindlich. Deshalb fühlt sich ein "Anfall" manchmal so ähnlich an wie die Schmetterlinge im Bauch bei Verliebten. Denn auch die sind nur eine Reaktion des Nervensystems im Darm.

Volkskrankheit Reizdarm-Syndrom

Bis zu zehn Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen. Das Reizdarm-Syndrom ist eine Volkskrankheit, aber niemand spricht darüber. Ich hätte eigentlich kein Problem damit, anderen Menschen davon zu erzählen. "Freut mich, Sie kennenzulernen. Jeden zweiten Tag scheiße ich mir übrigens die Seele aus dem Leib. Was machen Sie so in Ihrer Freizeit?"

Mein Darm gehört zu meinem Körper. Er ist da, damit ich Energie aus meinem Essen ziehen kann. Damit ich Kraft habe zu laufen, zu denken, zu lieben. Warum finden wir es eklig, dass unser Körper unsere Nahrung verwertet? Warum saß ich so oft in einer öffentlichen Toilette und habe große Schmerzen ertragen - nur damit die Frau in der Nachbarkabine nicht hört, was mit mir los ist? Wir müssen endlich aufhören, unsere eigene Körperlichkeit zu verteufeln.

Trotzdem möchte ich meinen Namen hier nicht lesen. Ich möchte nicht, dass mein jetziger Arbeitgeber (oder künftige) von meinem privaten Leid lesen. Zwar ist ein Reizdarm ungefährlich. Er löst keine anderen Krankheiten aus und man lernt, mit ihm zu leben. Doch in unserer Hochleistungsgesellschaft ist jede Art von Krankheit eine Schwäche. Leider.

Im Wald zelten? Für Menschen mit Reizdarm-Syndrom der Horror

Ich komme inzwischen gut mit meinem Bauch zurecht. Das Klo ist für mich wie ein bester Freund. Ich habe gelernt, dass ich die Krämpfe nicht ignorieren darf. Wenn ich sofort eine Toilette suche, ist so ein Anfall ziemlich schnell wieder vorbei.

Allein die Vorstellung, im Wald zu zelten, ist für mich der Horror. Ohne Klo? Ohne mich. Keiner weiß eine saubere Toilette besser zu schätzen als ein Reizdarm-Patient.

Wenn ich streng auf meinen Lebensstil achten würde, könnte ich die Krankheit beeinflussen. Ich habe aber keine Lust, mir alles zu verbieten. Denn die Liste der Auslöser ist lang: Fettes Essen, würziges Essen, Essen in großen Mengen, kalte Getränke, Getränke mit Kohlensäure, Eis, Joggen, Alkohol, besonders Rotwein, Stress, Angst. Freude. Aufregung. Und Sex. Eigentlich alles, was das Leben schön macht.

Ich akzeptiere mich wie ich bin - mit Reizdarm-Syndrom

Heute amüsiere ich mich über das angespannte Gesicht, das ich bei meiner Abiball-Rede gemacht habe. Ich habe es auf Video. Seit diesem Tag bin ich weit gekommen. Heute würde ich nie wieder panisch meine Eltern anrufen, damit sie mir Tabletten mitbringen. Wieso etwas unterdrücken, das zu mir gehört? Inzwischen akzeptiere ich mich so wie ich bin. Nicht nur in Bezug auf meine Krankheit.

Schließlich hilft mir mein Bauch, zu erkennen, wenn mich eine Situation belastet. Er ist wie meine persönliche Alarm-Anlage. Mein Druckventil.

Heute weiß ich: Alles ist gut. Solange ein Klo in der Nähe ist.

Auch auf HuffingtonPost.de: Top 5 - Das sind die 5 ekelhaftesten Zusätze in Lebensmitteln


Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>