Quantcast
Channel: Huffington Post Germany Athena
Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Ich bin ein Mann - und ich habe meine Brüste verkleinern lassen

$
0
0
„Du musst das nicht tun", sagte meine Frau. Unser Strandzeug war schon ausgebreitet. Sienna spielte schon im Sand. Und ich stand daneben und holte tief Luft.

„Ich MUSS es tun", antwortete ich, und konnte dabei weder meine Frau noch meine Tochter ansehen. Ich hatte schließlich nicht zwei Operationen gehabt, um meine Gynäkomastie (Vergrößerung der männlichen Brust) zu korrigieren, um dann im entscheidenden Moment zu kneifen.

Noch ein tiefer Atemzug und ich zog mein Shirt aus. Ich hatte absichtlich mein „Breaking Bad"-T-Shirt angezogen. Ich weiß, Walter White ist nicht gerade der nachahmenswerteste Charakter, aber ich sah es als eine Chance, wieder die Kontrolle zu übernehmen, und den sich selbst hassenden Defätisten, der ich war, hinter mir zu lassen. Einfach nur, indem ich mein T-Shirt auszog.

Früher war ich ein scheinbar normaler, etwas molliger Junge, der allerdings im Alter von elf Jahren eine Brust hatte, die der einer halb aufgeblasenen Sexpuppe ähnelte. Die Brüste mit ihren riesigen Warzenhöfen hingen schlaff herunter, eine war deutlich größer als die andere.

Für die nächsten 18 Jahre trug ich dunkle Klamotten in Übergröße und ließ die Schultern hängen, und hielt den T-Shirt-Saum mit den Daumen nach außen, damit es oben nicht anlag, und benutzte alles (Kissen, Notebook, eingerollte Jacken), um vermeintlich neugierige Blicke abzuhalten. Ich lebte mit ständiger Scham, dachte immer an meine Körper.

„Schaut jemand her?", fragte ich meine Frau verweifelt.

„Nein. Keiner kümmert sich um uns."

„Ich bin immer noch so dick", sagte ich. Ich scannte die anderen Leute am Strand, und mein Hirn blendete routinemäßig und automatisch alle aus - außer jene, die genetisch bedingt dürr waren oder ihr Leben im Fitnessstudio zu verbringen schienen.

„Du bist überhaupt nicht dick. Der Typ da drüben ist zweimal so breit wie du. Es ist okay. Du bist okay. Wir müssen dich jetzt mit Sonnencreme einschmieren."

Mehr als 28 Jahre hatte ich unter Gynäkomastie gelitten; mehr als 28 Jahre Hohn und Gestichel; mehr als 28 Jahre, in denen ich Angst hatte, dass ein Kind jedem auf die Nase binden würde, dass ich roboterhaft den Halsausschnitt meines Shirts nach vorne zog, sobald ich aus dem Haus ging, sodass jeder über mich lachte; mehr als 28 Jahre voller ähnlicher Geschichten und Anlässe, in denen ich meine Makel so gut als möglich versteckte und mich selbst hasste. Physisch war nun nichts mehr da, das ich verstecken musste.

Ich wiederholte immer wieder laut, dass niemand zu mir hersah. Ich versuchte, aufrecht zu stehen, was mir schwerfiel und mich anstrengte, da meine Schultern nun krumm waren nach all den Jahren.

Wir nahmen Sienna bei der Hand und gingen zum Wasser, damit sie zum ersten Mal in ihrem Leben spüren konnte, wie die Wellen um ihre Füße spülten. Für sie war es herrlich!

„Tu es für sie. Tu es für sie. Niemand sieht zu Dir hin. Tu es für sie."

Ich watete zögernd tiefer ins Wasser, während meine Frau bei Sienna blieb. Es war kühl, aber nicht zu kalt. Ich schaute zurück und tauchte dann ins Wasser ein. Ich schwamm ein bisschen und sah zurück.

Siennas Augen waren auf meine gerichtet. Meine Frau sagte ihr, sie solle weiter zu ihrem Papa hinsehen. Ich kehrte zu den beiden zurück und dann gingen wir drei zu unserem Plätzchen am Strand zurück.

Sienna griff sofort nach Eimer und Schaufel. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Meine Frau sagte, ich solle mich einfach hinlegen und entspannen.

„Entspann dich!", befahl ich mir. „Keiner schaut!" Aber so einfach ist das nicht. Ich zwang mich, die Arme nicht über der Brust zu kreuzen. Ich lag in der Sonne. Sienna spielte unter den wachsamen Augen meiner Frau im Sand.

Wir blieben ein paar Stunden am Strand, bevor wir entschieden, dass es nun an der Zeit sei, Sienna was zum Mittagessen zu geben und nach Hause zu gehen, damit sie ein Nickerchen machen konnte. Wir packen zusammen und gingen zur Uferpromenade.

Meine Frau zog Sienna die Schwimmwindel aus und wusch die Kleine unter einer Dusche.

Ich sah zu, und fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, kein Scham zu kennen.

Ich machte mir Sorgen um Sienna. Ich wollte, dass sie dieses ekelhafte Gefühl nie kennenlernte, aber ich weiß, dass ich sie nie ganz davor beschützen kann.

Kinder werden sie necken und schikanieren, aber ich niemals. Ich werde derjenige sein, der sie beruhigt und ihr sagt, dass sie wunderschön ist. Und sollte je etwas Verrücktes passieren (wie bei mir mit der Gynäkomastie), wird ich dafür sorgen, dass es so schnell wie möglich behoben wird.

Wir aßen zu Mittag und fuhren heim. Sienna schlief im Auto ein. Meine Frau sagte mir, sie sei so stolz auf mich. Sie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel.

Ich fühlte mich wackelig, sobald wir zu Hause ankamen.

Meine Frau schickte mich ins Schlafzimmer und legte Sienna zum Schlafen hin. Ich weiß nicht, wie viel Zeit zwischen dem und meinen Zusammenbruch lag - nicht einer einfachen Panikattacke, sondern einem kompletten Zusammenbruch.

Hysterie. Tränen, Zittern, Stottern. Ich klammerte mich an meine Frau, die mich umarmte, mir sagte, dass sie stolz sei, dass ich mutig sei, dass ich etwas Großes geschafft hätte, dass ich vor einem Jahr nicht in der Lage gewesen wäre, zu einem Strand zu fahren, Sienna so einen Tag zu schenken, und dann zurückzufahren, bevor ich die Kontrolle verlor.


Es fühlte sich an, als würde ich von woanders auf meinen bebenden Körper schauen, während ich herauszufinden versuchte, warum ich weinte und zitterte.

Irgendwann fing ich an, immer wieder zu sagen „Mein Vater sagte, ich bin so breit wie ein Haus!", um nur noch mehr zu weinen. Ich weiß nicht, wann genau er das gesagt hatte. Offensichtlich hatte ich meine Erinnerung daran begraben, aber ich weiß noch, dass mein Vater sich extrem intolerant und spöttisch über übergewichtige Leute geäußert hatte. Sowohl ich als auch meine Mutter waren schwergewichtig.

Dieses boshaft Sarkastische, dieses Schikanieren, war nur eine Facette vom Wesen meines Vaters gewesen. Er hatte auch meine Schwester ganz unverhohlen bevorzugt.

Heute ist mein Vater nicht mehr so. Es ist unglaublich wichtig festzuhalten, dass Vater sich komplett geändert hat und er und ich nun eine wirklich gute Beziehung zueinander haben. Ich liebe ihn. Ich finde, er ist ein wundervoller Vater und Großvater. Ich vertraue ihm so wie kaum einem anderen. Ich weiß, er würde mich nie mehr verletzten und es tut ihm leid, was in meiner Kindheit passiert ist.

Also an alle Familienmitglieder da draußen, die das hier vielleicht lesen: Ich habe meinem Vater vor langer Zeit vergeben, aber offensichtlich bleibt das Kind in mir verletzt und die Erinnerungen drängen ins Bewusstsein. Es ist nur ein Grund dafür, warum ich noch immer in Therapie bin und Medikamente nehme. Ich wiederhole: Ich liebe meinen Vater. Er ist NICHT mehr derselbe wie früher.

Es dauerte zehn Jahre, bis ich nach der Gynäkomastie-Operation an den Strand gehen und mein Shirt ausziehen konnte, weil ich diese Phantom-Brüste und das angestarrt Werden immer noch fühlen konnte. Als ich die erste OP im Alter von 29 Jahren hatte (18 Jahre, nachdem ich diese Symptome entwickelt hatte) und meine Brust heilte, wuchs mein Selbstvertrauen langsam, bis ich ein Hoch erreichte, währenddessen in ich mich in eine großartige Frau verliebte, die eines Tages meine Frau sein und meiner wunderbaren Tochter das Leben schenken würde.

Aber meine Zufriedenheit war von kurzer Dauer. 2010 hatte ich einen schweren Nervenzusammenbruch, der in monatelanges Stottern, Zittern, Hyperventilieren, einen Gesichtstic und Weinkrämpfe mündete.

Abgesehen von einer Therapie und der Einnahme von Antidepressiva über Jahre hinweg habe ich mich nie mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt.

Mein Therapeut und ich haben diskutiert, dass Gynäkomastie die größte Rolle in meiner anhaltenden Angst und schweren Depression spielte. Während meine Familie, die Schule und mein Körper mich verraten haben, hat mich letzterer in der Zeit meines Lebens gefangen gehalten, in der ich am verwundbarsten war: in der Jugend, der Zeit, in der man seine Identität ausbildet.

Ich wurde „der Typ mit den Brüsten", und dieses von mir selbst erdachte Label konnte ich nie vergessen. Wenn ich ermessen will, wie sehr es meine Psyche und meine Selbstachtung belastet hat, ist das schwierig, aber nützlich.
Meine Eltern waren ein paar Mal in meinen Therapiesitzungen dabei und erlaubten mir, meinen Ärger über ihre Ignoranz direkt anzusprechen. Meine Mutter sagte, meine Kinderärzte hätten dazu geraten, das Problem zu ignorieren, weil es sich von selbst erledigen würde. Sie sagte, dass sie jahrelang von Schuldgefühlen geplagt worden sei. Mein Vater hatte Tränen in den Augen.

Meine Frau sagte, der Zusammenbruch nach dem Strandausflug habe etwa eine Stunde gedauert. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht bei Siennas Abendessen helfen konnte, aber meine Frau sagte, wir seien ein Team und sie würde sich um alles kümmern.

Total erschöpft schlief ich ein. Eigentlich hatte ich eine Verabredung fürs Kino an diesem Abend, aber meine Begleitung sagte ab. Als ich aufwachte, beschloss ich, trotzdem zu gehen. Ich musste raus.

Noch ein Jahr zuvor hätte ich das nicht gekonnt, ich wäre tagelang im Bett geblieben. Mir sind diese Dinge aufgefallen, aber ich habe nichts gefühlt dabei. Das muss ich noch hinkriegen. Mein Therapeut sagt mir immer, meine Gefühle seien irrational und irrelevant.

Das ist das Trauma der Gynäkomastie. Laut www.kidshealth.org betrifft sie etwa die Hälfte der Jungs in der Pubertät, aber es erledigt sich fast immer von selbst. Aber in ein paar Fällen, in denen es nicht so kommt, wie bei mir, kann es verheerend sein und zu einer schweren Depression führen, zu Angststörungen und sogar zum Suizid.

Ich leide immer noch unter Depressionen und Angst. Gynäkomastie hat viele Ursachen, darunter Fettleibigkeit, Steroidmissbrauch und genetische Defekte wie das Klinefelter-Syndrom. In meinem Fall kam es von einer Hormonstörung in der Pubertät.

Eine Operation ist das beste „Heilmittel" (die Amerikanische Gesellschaft für Ästhetische Plastische Chirurgie meldete einen Anstieg der Gynäkomastie-Operationen von 103,6 Prozent zwischen 1997 und 2012), aber viele können sich die Kosten von 3000 bis 5000 Dollar nicht leisten, die die Krankenkasse prinzipiell nicht zahlt. Andere sind vielleicht zu stolz, um sich Hilfe zu suchen.

Die Eltern junger Buben müssen nach den verräterischen Anzeichen für diese Fehlbildung suchen: gekrümmte Schultern, sackartige Kleidung, die Weigerung, das Shirt auszuziehen oder an Sport oder jeder Art von Bewegung teilzunehmen, ständiges Verstecken der Brust hinter irgendeinem Ding.

Reden Sie mit Ihren Kindern. Denken Sie daran, dass Gynäkomastie für das Wohl Ihrer Kinder korrigiert werden kann und soll. Zeigen Sie ihnen nichts als Liebe und Verständnis, denn wenn das Problem früh erkannt und behoben wird, können Sie Ihre Kinder vielleicht vor Jahren des Mobbings und der Angst bewahren, vor schweren Depressionen und Angststörungen.

Sie können Ihren Kindern vielleicht einfach einen traumatischen Tag am Strand ersparen.

2014-07-16-IMG_2366.jpg

Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>