Als ich die Sirenen zum ersten Mal höre, weiß ich, dass es keine Übung ist. In Sportklamotten sitze ich am frühen Abend alleine am Arbeitsrechner, als ich den nicht besonders lauten aber
dennoch bedrohlichen Alarm vernehme. Unsicher, ob er für das Weizmann-Institut, meinem
Arbeitsplatz südlich von Tel Aviv, oder für eine Nachbarstadt bestimmt ist, stehe ich langsam
auf und laufe zum Ausgang des menschenleeren Raums. Auf dem Campus sehe ich entfernt nur
einen Familienvater, der sich nicht rührt, dafür aber umso heftiger seine Familie anzuschreien
scheint. Angesichts dieser Regungslosigkeit wiege ich mich schon in Sicherheit, ehe die gesamte Familie plötzlich anfängt zu rennen.
In diesem Moment werde ich vom Außenstehenden, der die Ereignisse als externer Zuschauer durch die deutschen Medien verfolgt, zum Betroffenen. Auch ich renne jetzt in meinen Sportklamotten. Ursprünglich hatte ich sie zum Basketballspielen angezogen. Den nächsten Schutzraum erreiche ich in weniger als einer halben Minute.
Heute weiß ich: Zu Beginn des Alarms hat man hier in Rehovot, so heißt die Stadt, etwa eine
Minute Zeit, um Schutz zu suchen - in südlicheren Gebieten teilweise nur wenige Sekunden.
Als ich den Schutzraum betrete, wartet dort schon eine junge Frau. Sie lehnt sich routiniert
gegen eine Schutzwand und tippt scheinbar genervt auf ihrem Smartphone herum. Als ich
sie unerfahren frage, wie lange wir hier warten müssten, antwortet sie sehr gelassen und mit
einem Lächeln: „offiziell zehn Minuten, aber ich denke in spätestens zwei Minuten wissen wir,
ob es ernst war oder nicht!" Ihre Ruhe steckt mich sofort an und mir wird wieder bewusst wie
unwahrscheinlich es doch ist, von einer Rakete getroffen zu werden.
Ich lehne mich auch gegen eine Schutzwand und schaue auf die wissenschaftlichen Poster, die überall im Raum an den Wänden aufgehängt wurden. Ohne es wirklich zu verstehen, lese ich etwas über Algorithmen zur automatischen Mimikerkennung um die Computer-Mensch-Interaktion zu optimieren. Dann plötzlich: eine dumpfe, entfernte Explosion. War eine Rakete auf dem Campus eingeschlagen oder doch vom Iron Dome, dem israelischen Raketenabwehrschild, abgefangen worden? Die routiniertere Schutzraumbewohnerin reagiert überhaupt nicht, sodass ich anfange, an der Explosion zu zweifeln. Nach wenigen Minuten verlässt die junge Frau, ich weiß nicht mal ihren Namen, den Schutzraum als Erste. Ich folge ihr und laufe dann zurück zu meinem Arbeitsplatz.
Vor dem Gebäude wartet schon mein ebenfalls nicht-israelischer Arbeitskollege und fragt mich,
ob ich auch gesehen hätte, wie die Rakete in der Luft abgeschossen wurde. Wir tauschen kurz
unsere Erfahrungen aus, und ich ärgere mich noch in den Schutzraum gerannt zu sein, anstatt
draußen das Spektakel beobachtet und eventuell fotografiert zu haben. Wir machen uns auf den
Weg zum Sportzentrum. Als wir Militärflugzeuge aufsteigen und vorbeifliegen hören, sagt mein
Kollege: „Da kommt die Antwort, das geht aber schnell!" „Ja, ein Teufelskreis", erwidere ich.
Abends nach dem Basketball lese ich eine E-Mail von meinem Chef, an mich und den anderen
nicht-Israeli aus seinem Labor adressiert. Er bietet uns an, ihn zu jeder Tageszeit anzurufen,
sollten wir durch den Alarm und die Ereignisse hier in Panik verfallen. Er hoffe, dass es bald ende und er glaube, dass wir immer noch sicherer seien, als während einer normalen Autofahrt. Ich halte das für eine nette Geste und antworte ihm gelassen, dass ich mir dem geringen Risiko
bewusst sei und ich es eher als eine interessante Erfahrung ansähe, solange die Busse in Tel Aviv nicht hochgejagt würden und ich für alle Beteiligten wünsche, dass es so weit nicht kommt.
Spaßig versuche ich, die Mail zu beenden, indem ich schreibe, wie erleichtert ich sei, dass die
Hamas gestern keine Raketen auf Rehovot schossen, als ich mit einer Migräne im Bett lag. Ich
bekomme keine Antwort. Danach skype ich mit meiner Freundin und erzähle ihr von meinen
Erlebnissen der letzten Tage. Von der unerträglichen Hitze am toten Meer, der wunderschönen
Landschaft der Golanhöhen, der Feier in Tel Aviv, dem Holocaustgedenkmal Yad Vashem und
dem Bus auf dem Weg nach Jerusalem, der voll war mit uniformierten Soldaten und dem einen
jungen israelischen Soldaten, der mit Strandklamotten, Flip Flops und Maschinengewehr
zugestiegen war.
Nur eines erwähne ich mit keinem Wort, den Raketenalarm. Trotz des unheimlichen Drangs, darüber zu sprechen, verheimliche ich es ihr. Schon jetzt war sie sehr nervös wegen des anstehenden Besuchs in Israel und sie hatte auch schon erwägt, die Reise komplett abzusagen, sollte sich die Lage weiter verschlimmern. Somit erzähle ich, aus egoistischen Motiven und mit schlechtem Gewissen, weiter nur von den weniger dramatischen Erfahrungen. Zum Abschied wünscht sie mir eine erholsame Nacht, die hatte mir auch schon die Studentenhausverwaltung in ihrem Rundschreiben zu den Schutzmaßnahmen gewünscht.
Erstaunlicherweise schlafe ich in dieser Nacht wie ein Baby. Am nächsten Morgen kommt ein
israelischer Arbeitskollege, der selbst in Tel Aviv lebt, zu mir und fragt nach den Ereignissen und wie mein „erstes Mal" denn so war. Ich schildere ihm den Moment, als die Familie anfängt zu rennen. Er wirkt verständnisvoll und erklärt mir, dass der erste Alarm immer besonders
bedrohlich sei. „Meinen ersten Alarm habe ich während des ersten Golfkriegs, als SCUDs in
Richtung Tel Aviv geschossen wurden, erlebt. Damals war ich zwölf Jahre alt, das hatte mich
schockiert, aber man gewöhnt sich auch daran sehr schnell. Heute gehen einige Menschen gar
nicht mehr in die Schutzräume", höre ich ihn sagen. Beim Abschied entschuldigte er sich bei mir
für dieses Erlebnis. „Es ist ja nicht deine Schuld", rufe ich ihm hinterher, „vermute ich", füge ich
noch leise an.
Ich bin einer von etwa einem Dutzend Doktoranden der relativ neuen German-Israeli-Helmholtz
Graduiertenschule, jedoch der Einzige, der sich momentan in Israel befindet. Meine
Doktorarbeit mache ich teilweise in Heidelberg am Deutschen Krebsforschungszentrum und am
Weizmann-Institut in Rehovot, etwas südlich von Tel Aviv. Natürlich wusste ich, dass ein
Aufenthalt in Israel mit Risiken verbunden sein könnte, aber für mich haben die positiven
Aspekte sehr schnell dominiert. Meine Freundin und Familie waren natürlich nicht überschwänglich vor Freude, aber jeder hatte Verständnis. Meiner stets besorgten Großmutter
erzählten wir etwas von Auslandssemestern in Spanien. Was für ein Sadist müsste man auch
sein, einer alten Dame, die sich schon fast zu Tode um ihren Enkel sorgt, wenn er nur von
Heidelberg nach Kevelaer mit dem Auto fährt, zu erzählen, dass er für ein Jahr nach Israel ginge.
Später, bei einem kurzen Besuch in Deutschland, erzählte ich ihr dann die Wahrheit. Die
Tatsache, dass ich ihr nichts von meinen Erlebnissen hätte erzählen können sowie die länger
andauernde ruhige Lage hatten mich dazu bewogen. Das war etwa zwei Wochen bevor die drei
Talmudschüler in der Nähe von Hebron entführt wurden. Seitdem habe ich meine Großmutter
nicht mehr persönlich gesprochen. Ich erfuhr von der Entführung durch die deutschen Medien.
Die Berichterstattung von manchen heimischen Zeitungen, aber vor allem Teile der
Kommentare zu den Artikeln störten mich sehr.
Es wurden die im Zuge der Verhaftungen und Durchsuchungen getöteten Palästinenser gegen die drei entführten Israelis aufgewogen. Ich empfand dieses Zählen der Opfer auf beiden Seiten zur Entscheidungsfindung von Gut und Böse, schuldig und unschuldig als zu simplistisch. Auch war die Rede von den Siedlerkindern, die dort waren um zu provozieren und ja wussten, was für ein Risiko sie eingingen. Ich fragte mich, ob ich durch meine Arbeit hier in Israel auch als Teil der Besatzungsmacht gesehen werden konnte und ob meine Fahrt im israelischen Auto vom toten Meer aus durch das Westjordanland als Provokation hätte verstanden werden können? Vielleicht würde man auch so von mir schreiben, wäre ich bei dieser Reise verletzt, entführt oder getötet worden?
Jedenfalls war es mein subjektives Gefühl, dass viele Menschen mit einer starken schwarz-weiß
Brille den Konflikt beobachteten, anstatt die vielen Grautöne und den unzweifelhaft sehr
komplexen historischen Hintergrund zu beachten. Auf dem Weizmann Campus allerdings war die Entführung kein großes Gesprächsthema, obwohl oder vielleicht gerade weil der Großvater von einem der drei Jugendlichen hier als Professor für Mathematik lehrte. Aus Rücksichtnahme wurde sogar ein lange geplantes Familienfest des mathematischen Instituts verschoben.
Am morgen vor dem Fund der Leichen begegnete ich ihm kurz im Treppenhaus. Im Vorübergehen nickte ich ihm leicht mit einem kleinen Lächeln zu, als wollte ich sagen: „Es wird schon wieder!" Ich weiß heute leider nicht mehr, wie er reagierte und ich habe ihn seitdem auch nicht wieder gesehen. Die einzig nennenswerte Diskussion über die Entführung hatten wir bei einem Mittagessen, nachdem ich einige Fragen zu den Ereignissen stellte. Die drei Israelis, alle selbst mit Militärdiensterfahrung, waren sich sofort einig, dass die Jugendlichen schon tot seien und wahrscheinlich direkt im Auto erschossen wurden.
Ich fragte naiv nach, warum man die Jugendlichen denn entführen müsse, nur um sie dann direkt zu erschießen? Ihre Antwort war pragmatisch: „Jedes Jahr werden Siedler getötet, das interessiert niemanden, aber eine Entführung von Jugendlichen, das macht Schlagzeilen. Es ist die Ungewissheit und letztendlich die zerstörte Hoffnung, welche die Menschen bewegt." Sie sollten am Ende Recht behalten. Als sie die Leichen fanden, wurde das laufende WM-Spiel unterbrochen und man konnte die Aufgeregtheit der Bevölkerung und die Besorgnis erregende
Rhetorik von Teilen der Regierung nicht leugnen.
In diesem Zusammenhang hat sich mir eine Szene, die sich vor und während einer Taxifahrt in Tel Aviv ereignete, sehr stark eingeprägt. Ich lief mit einem Freund vom Busbahnhof zum nächsten Taxi, an dem zwei Männer, einer davon der Taxifahrer, lautstark diskutierten. Wir waren etwas angetrunken und ich fragte nach einer Fahrt zu einer bestimmten Bar in der Stadt. Er willigte ein und diskutierte für einige Zeit weiter mit dem Mann. Die Stimmung schien immer weiter anzusteigen und nur nach mehrmaligen Nachfragen meinerseits beendeten die Männer vorläufig ihren Streit und der Fahrer stieg ein. Er entschuldigte sich und erklärte, dass er seinen Freund zur Rede stellen musste. Ein Bekannter hatte gehört, dass dieser Freund, ein arabischer Taxifahrer, gesagt habe, es sei richtig gewesen, was mit den drei Talmudschülern passiert war.
„Ich kenne diesen Mann seit 20 Jahren und er ist einer meiner besten Freunde, aber wenn er das wirklich gesagt hat..!", drohte er sichtlich aufgebracht. „Wenn ein wahrscheinlich dummes Gerücht zwei Freunde so gegeneinander aufhetzen kann, wie soll es dann zwischen zwei sich hassenden Parteien jemals Frieden geben können?", dachte ich. Angetrunken und etwas altklug erzählte ich ihm von den drei Sieben des Sokrates, die darüber entscheiden, ob etwas über einen Freund erzählt werden sollte. Ihm schien es zu gefallen. Danach sprachen wir über Fußball und dass er hoffe, Deutschland würde die WM gewinnen, ich stimmte zu.
Die Woche nach der Taxifahrt saß ich mit meinen Arbeitskollegen wieder beim Essen. Wir sprachen das erste Mal ernsthaft über den jetzigen Konflikt und der Wahrscheinlichkeit
einer dritten Intifada. Wir sprachen über den wahrscheinlichen Rachemord an dem jungen
Araber durch ultra-nationalistische Juden, deren potenzielle Bestrafung und einer drohenden
Bodenoffensive. Ein Kollege erinnerte sich offensichtlich enttäuscht: „Ich und meine ganze
Generation wurden als Kinder von unseren Eltern in dem Glauben aufgezogen, dass in naher
Zukunft Frieden zwischen Israelis und Palästinensern herrschen könnte!" Die anwesenden
Israelis stimmten nickend zu. „Heute", so sagte er weiter, langsam und unaufgeregt, „erzählt das niemand mehr seinen Kindern". Sechs Stunden später ertönen die Sirenen jede Nacht.
dennoch bedrohlichen Alarm vernehme. Unsicher, ob er für das Weizmann-Institut, meinem
Arbeitsplatz südlich von Tel Aviv, oder für eine Nachbarstadt bestimmt ist, stehe ich langsam
auf und laufe zum Ausgang des menschenleeren Raums. Auf dem Campus sehe ich entfernt nur
einen Familienvater, der sich nicht rührt, dafür aber umso heftiger seine Familie anzuschreien
scheint. Angesichts dieser Regungslosigkeit wiege ich mich schon in Sicherheit, ehe die gesamte Familie plötzlich anfängt zu rennen.
In diesem Moment werde ich vom Außenstehenden, der die Ereignisse als externer Zuschauer durch die deutschen Medien verfolgt, zum Betroffenen. Auch ich renne jetzt in meinen Sportklamotten. Ursprünglich hatte ich sie zum Basketballspielen angezogen. Den nächsten Schutzraum erreiche ich in weniger als einer halben Minute.
Heute weiß ich: Zu Beginn des Alarms hat man hier in Rehovot, so heißt die Stadt, etwa eine
Minute Zeit, um Schutz zu suchen - in südlicheren Gebieten teilweise nur wenige Sekunden.
Als ich den Schutzraum betrete, wartet dort schon eine junge Frau. Sie lehnt sich routiniert
gegen eine Schutzwand und tippt scheinbar genervt auf ihrem Smartphone herum. Als ich
sie unerfahren frage, wie lange wir hier warten müssten, antwortet sie sehr gelassen und mit
einem Lächeln: „offiziell zehn Minuten, aber ich denke in spätestens zwei Minuten wissen wir,
ob es ernst war oder nicht!" Ihre Ruhe steckt mich sofort an und mir wird wieder bewusst wie
unwahrscheinlich es doch ist, von einer Rakete getroffen zu werden.
Ich lehne mich auch gegen eine Schutzwand und schaue auf die wissenschaftlichen Poster, die überall im Raum an den Wänden aufgehängt wurden. Ohne es wirklich zu verstehen, lese ich etwas über Algorithmen zur automatischen Mimikerkennung um die Computer-Mensch-Interaktion zu optimieren. Dann plötzlich: eine dumpfe, entfernte Explosion. War eine Rakete auf dem Campus eingeschlagen oder doch vom Iron Dome, dem israelischen Raketenabwehrschild, abgefangen worden? Die routiniertere Schutzraumbewohnerin reagiert überhaupt nicht, sodass ich anfange, an der Explosion zu zweifeln. Nach wenigen Minuten verlässt die junge Frau, ich weiß nicht mal ihren Namen, den Schutzraum als Erste. Ich folge ihr und laufe dann zurück zu meinem Arbeitsplatz.
Vor dem Gebäude wartet schon mein ebenfalls nicht-israelischer Arbeitskollege und fragt mich,
ob ich auch gesehen hätte, wie die Rakete in der Luft abgeschossen wurde. Wir tauschen kurz
unsere Erfahrungen aus, und ich ärgere mich noch in den Schutzraum gerannt zu sein, anstatt
draußen das Spektakel beobachtet und eventuell fotografiert zu haben. Wir machen uns auf den
Weg zum Sportzentrum. Als wir Militärflugzeuge aufsteigen und vorbeifliegen hören, sagt mein
Kollege: „Da kommt die Antwort, das geht aber schnell!" „Ja, ein Teufelskreis", erwidere ich.
Abends nach dem Basketball lese ich eine E-Mail von meinem Chef, an mich und den anderen
nicht-Israeli aus seinem Labor adressiert. Er bietet uns an, ihn zu jeder Tageszeit anzurufen,
sollten wir durch den Alarm und die Ereignisse hier in Panik verfallen. Er hoffe, dass es bald ende und er glaube, dass wir immer noch sicherer seien, als während einer normalen Autofahrt. Ich halte das für eine nette Geste und antworte ihm gelassen, dass ich mir dem geringen Risiko
bewusst sei und ich es eher als eine interessante Erfahrung ansähe, solange die Busse in Tel Aviv nicht hochgejagt würden und ich für alle Beteiligten wünsche, dass es so weit nicht kommt.
Spaßig versuche ich, die Mail zu beenden, indem ich schreibe, wie erleichtert ich sei, dass die
Hamas gestern keine Raketen auf Rehovot schossen, als ich mit einer Migräne im Bett lag. Ich
bekomme keine Antwort. Danach skype ich mit meiner Freundin und erzähle ihr von meinen
Erlebnissen der letzten Tage. Von der unerträglichen Hitze am toten Meer, der wunderschönen
Landschaft der Golanhöhen, der Feier in Tel Aviv, dem Holocaustgedenkmal Yad Vashem und
dem Bus auf dem Weg nach Jerusalem, der voll war mit uniformierten Soldaten und dem einen
jungen israelischen Soldaten, der mit Strandklamotten, Flip Flops und Maschinengewehr
zugestiegen war.
Nur eines erwähne ich mit keinem Wort, den Raketenalarm. Trotz des unheimlichen Drangs, darüber zu sprechen, verheimliche ich es ihr. Schon jetzt war sie sehr nervös wegen des anstehenden Besuchs in Israel und sie hatte auch schon erwägt, die Reise komplett abzusagen, sollte sich die Lage weiter verschlimmern. Somit erzähle ich, aus egoistischen Motiven und mit schlechtem Gewissen, weiter nur von den weniger dramatischen Erfahrungen. Zum Abschied wünscht sie mir eine erholsame Nacht, die hatte mir auch schon die Studentenhausverwaltung in ihrem Rundschreiben zu den Schutzmaßnahmen gewünscht.
Erstaunlicherweise schlafe ich in dieser Nacht wie ein Baby. Am nächsten Morgen kommt ein
israelischer Arbeitskollege, der selbst in Tel Aviv lebt, zu mir und fragt nach den Ereignissen und wie mein „erstes Mal" denn so war. Ich schildere ihm den Moment, als die Familie anfängt zu rennen. Er wirkt verständnisvoll und erklärt mir, dass der erste Alarm immer besonders
bedrohlich sei. „Meinen ersten Alarm habe ich während des ersten Golfkriegs, als SCUDs in
Richtung Tel Aviv geschossen wurden, erlebt. Damals war ich zwölf Jahre alt, das hatte mich
schockiert, aber man gewöhnt sich auch daran sehr schnell. Heute gehen einige Menschen gar
nicht mehr in die Schutzräume", höre ich ihn sagen. Beim Abschied entschuldigte er sich bei mir
für dieses Erlebnis. „Es ist ja nicht deine Schuld", rufe ich ihm hinterher, „vermute ich", füge ich
noch leise an.
Ich bin einer von etwa einem Dutzend Doktoranden der relativ neuen German-Israeli-Helmholtz
Graduiertenschule, jedoch der Einzige, der sich momentan in Israel befindet. Meine
Doktorarbeit mache ich teilweise in Heidelberg am Deutschen Krebsforschungszentrum und am
Weizmann-Institut in Rehovot, etwas südlich von Tel Aviv. Natürlich wusste ich, dass ein
Aufenthalt in Israel mit Risiken verbunden sein könnte, aber für mich haben die positiven
Aspekte sehr schnell dominiert. Meine Freundin und Familie waren natürlich nicht überschwänglich vor Freude, aber jeder hatte Verständnis. Meiner stets besorgten Großmutter
erzählten wir etwas von Auslandssemestern in Spanien. Was für ein Sadist müsste man auch
sein, einer alten Dame, die sich schon fast zu Tode um ihren Enkel sorgt, wenn er nur von
Heidelberg nach Kevelaer mit dem Auto fährt, zu erzählen, dass er für ein Jahr nach Israel ginge.
Später, bei einem kurzen Besuch in Deutschland, erzählte ich ihr dann die Wahrheit. Die
Tatsache, dass ich ihr nichts von meinen Erlebnissen hätte erzählen können sowie die länger
andauernde ruhige Lage hatten mich dazu bewogen. Das war etwa zwei Wochen bevor die drei
Talmudschüler in der Nähe von Hebron entführt wurden. Seitdem habe ich meine Großmutter
nicht mehr persönlich gesprochen. Ich erfuhr von der Entführung durch die deutschen Medien.
Die Berichterstattung von manchen heimischen Zeitungen, aber vor allem Teile der
Kommentare zu den Artikeln störten mich sehr.
Es wurden die im Zuge der Verhaftungen und Durchsuchungen getöteten Palästinenser gegen die drei entführten Israelis aufgewogen. Ich empfand dieses Zählen der Opfer auf beiden Seiten zur Entscheidungsfindung von Gut und Böse, schuldig und unschuldig als zu simplistisch. Auch war die Rede von den Siedlerkindern, die dort waren um zu provozieren und ja wussten, was für ein Risiko sie eingingen. Ich fragte mich, ob ich durch meine Arbeit hier in Israel auch als Teil der Besatzungsmacht gesehen werden konnte und ob meine Fahrt im israelischen Auto vom toten Meer aus durch das Westjordanland als Provokation hätte verstanden werden können? Vielleicht würde man auch so von mir schreiben, wäre ich bei dieser Reise verletzt, entführt oder getötet worden?
Jedenfalls war es mein subjektives Gefühl, dass viele Menschen mit einer starken schwarz-weiß
Brille den Konflikt beobachteten, anstatt die vielen Grautöne und den unzweifelhaft sehr
komplexen historischen Hintergrund zu beachten. Auf dem Weizmann Campus allerdings war die Entführung kein großes Gesprächsthema, obwohl oder vielleicht gerade weil der Großvater von einem der drei Jugendlichen hier als Professor für Mathematik lehrte. Aus Rücksichtnahme wurde sogar ein lange geplantes Familienfest des mathematischen Instituts verschoben.
Am morgen vor dem Fund der Leichen begegnete ich ihm kurz im Treppenhaus. Im Vorübergehen nickte ich ihm leicht mit einem kleinen Lächeln zu, als wollte ich sagen: „Es wird schon wieder!" Ich weiß heute leider nicht mehr, wie er reagierte und ich habe ihn seitdem auch nicht wieder gesehen. Die einzig nennenswerte Diskussion über die Entführung hatten wir bei einem Mittagessen, nachdem ich einige Fragen zu den Ereignissen stellte. Die drei Israelis, alle selbst mit Militärdiensterfahrung, waren sich sofort einig, dass die Jugendlichen schon tot seien und wahrscheinlich direkt im Auto erschossen wurden.
Ich fragte naiv nach, warum man die Jugendlichen denn entführen müsse, nur um sie dann direkt zu erschießen? Ihre Antwort war pragmatisch: „Jedes Jahr werden Siedler getötet, das interessiert niemanden, aber eine Entführung von Jugendlichen, das macht Schlagzeilen. Es ist die Ungewissheit und letztendlich die zerstörte Hoffnung, welche die Menschen bewegt." Sie sollten am Ende Recht behalten. Als sie die Leichen fanden, wurde das laufende WM-Spiel unterbrochen und man konnte die Aufgeregtheit der Bevölkerung und die Besorgnis erregende
Rhetorik von Teilen der Regierung nicht leugnen.
In diesem Zusammenhang hat sich mir eine Szene, die sich vor und während einer Taxifahrt in Tel Aviv ereignete, sehr stark eingeprägt. Ich lief mit einem Freund vom Busbahnhof zum nächsten Taxi, an dem zwei Männer, einer davon der Taxifahrer, lautstark diskutierten. Wir waren etwas angetrunken und ich fragte nach einer Fahrt zu einer bestimmten Bar in der Stadt. Er willigte ein und diskutierte für einige Zeit weiter mit dem Mann. Die Stimmung schien immer weiter anzusteigen und nur nach mehrmaligen Nachfragen meinerseits beendeten die Männer vorläufig ihren Streit und der Fahrer stieg ein. Er entschuldigte sich und erklärte, dass er seinen Freund zur Rede stellen musste. Ein Bekannter hatte gehört, dass dieser Freund, ein arabischer Taxifahrer, gesagt habe, es sei richtig gewesen, was mit den drei Talmudschülern passiert war.
„Ich kenne diesen Mann seit 20 Jahren und er ist einer meiner besten Freunde, aber wenn er das wirklich gesagt hat..!", drohte er sichtlich aufgebracht. „Wenn ein wahrscheinlich dummes Gerücht zwei Freunde so gegeneinander aufhetzen kann, wie soll es dann zwischen zwei sich hassenden Parteien jemals Frieden geben können?", dachte ich. Angetrunken und etwas altklug erzählte ich ihm von den drei Sieben des Sokrates, die darüber entscheiden, ob etwas über einen Freund erzählt werden sollte. Ihm schien es zu gefallen. Danach sprachen wir über Fußball und dass er hoffe, Deutschland würde die WM gewinnen, ich stimmte zu.
Die Woche nach der Taxifahrt saß ich mit meinen Arbeitskollegen wieder beim Essen. Wir sprachen das erste Mal ernsthaft über den jetzigen Konflikt und der Wahrscheinlichkeit
einer dritten Intifada. Wir sprachen über den wahrscheinlichen Rachemord an dem jungen
Araber durch ultra-nationalistische Juden, deren potenzielle Bestrafung und einer drohenden
Bodenoffensive. Ein Kollege erinnerte sich offensichtlich enttäuscht: „Ich und meine ganze
Generation wurden als Kinder von unseren Eltern in dem Glauben aufgezogen, dass in naher
Zukunft Frieden zwischen Israelis und Palästinensern herrschen könnte!" Die anwesenden
Israelis stimmten nickend zu. „Heute", so sagte er weiter, langsam und unaufgeregt, „erzählt das niemand mehr seinen Kindern". Sechs Stunden später ertönen die Sirenen jede Nacht.