Bundespräsident Gauck wird hierzulande als Kämpfer für die Freiheit und Präsident der Herzen aller gefeiert. Seine Kritiker sehen in ihm den obersten Prediger der Nation, der substanzlose Worthülsen von sich gibt. Tahir Chaudhry sprach mit Dr. Diether Dehm, dem Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE, über die bisherige "Arbeitsleistung" des Bundespräsidenten, seinen fehlenden Mut im Gegensatz zu Wulff und Köhler und die Leere in Gaucks Reden.
Chaudhry: Wenn unser Bundespräsident Joachim Gauck durchs Land reist, kommt er bei den Menschen gut an. Kann man deshalb sagen, dass er ein guter Präsident ist?
Dr. Dehm: Ein Bundespräsident soll sich ja nicht nur bei den Menschen beliebt machen und als Grüßaugust durch die Republik tingeln. Ich wünsche mir von einem Bundespräsidenten, dass er auch mal so viel Unabhängigkeit zeigt und unbequeme Positionen gegenüber der Bundesregierung bezieht. So wie das zum Beispiel der vielgescholtene Christian Wulff zum Thema Bankenrettung oder zum Islam getan hat.
Chaudhry: Zwei Jahre ist er ja mittlerweile im Amt. Was empfinden Sie als seine größte Amtshandlung?
Dr. Dehm: Seine Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz - das war 'groß' im Sinne von 'ein starkes Stück'. Ich weiß, dass Ihre Frage natürlich etwas anderes implizierte, doch an meiner Antwort können Sie ersehen, dass ich echte Probleme habe, sie in dem von Ihnen gemeinten Sinn zu beantworten. Mir fällt schlicht nichts ein.
Chaudhry: Beide Bundespräsidenten vor ihm sind aus unterschiedlichen Gründen zurückgetreten. Was schätzen Sie: Wird dieser Bundespräsident bis zum Ende durchhalten?
Dr. Dehm: Ja, davon gehe ich aus. Er hatte ja bei seiner Wahl die Unterstützung aller Bundestagsfraktionen außer der LINKEN. Und da er den Regierenden nicht großartig auf den Schlips tritt, sehe ich keinen vorzeitigen Abtritt des Bundespräsidenten bevorstehen. Außerdem gefällt er sich doch zu gut in seiner Rolle als oberster Prediger der Nation.
Chaudhry: Im Gegensatz zu Gauck haben also Köhler und Wulff den Regierenden auf den Schlips getreten. Wo hätten Sie denn in der letzten Zeit von Gauck deutlichere Positionierung erwartet?
Dr. Dehm: Massive Missstände in Deutschland, wie die soziale Spaltung und der stetige Anstieg der Armut, während einige wenige immer wohlhabender werden, werden von Herrn Gauck weitestgehend ignoriert. Er behält es sich lieber vor, in den Chor der Bundesregierung einzustimmen und etwas von der neuen außenpolitischen Verantwortung Deutschlands - also im Endeffekt auch militärischer Interventionen - zu faseln, anstatt sich den Schwächsten im Lande zuzuwenden und akzeptiert ohne Weiteres zum Beispiel die Fälschung des Armutsberichts.
Aber Herr Gauck will nicht anecken. Und zum anderen vermute ich in der Tat, dass dieser Mann allen Ernstes glaubt (sic!), dass das eigene Fortkommen und der Platz in der Gesellschaft nur an einem Selbst liege. Nach dem schönen neoliberalen Motto: Wer etwas wirklich will, der schafft das mit Einsatz und Fleiß auch selbstredend.
Chaudhry: Hatte seine Nominierung zum Bundespräsidenten eventuell etwas mit der starken Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik zu tun?
Dr. Dehm: Nachdem er von SPD und Grünen bereits nominiert wurde und nach dem Rücktritt Christian Wulffs, war es - meines Erachtens - schlicht die einmalige Gelegenheit der FDP, der Kanzlerin mal eins auszuwischen.
Chaudhry: Welchen Anteil hatten die Massenmedien bei der Erzeugung des Gauck-Hypes vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten?
Dr. Dehm: Es wurde ja unter anderem begrüßt, dass ein Präsident nicht aus dem laufenden Politikgeschäft kommt, sondern ein Quereinsteiger sei, der eher parteipolitisch unbelastet ist. Er wurde von den Massenmedien als Freiheitskämpfer in den Zeiten der DDR dargestellt, als Freiheitsprediger und Konsenspräsident. Tatsächlich zeigt er sich jetzt als Bänkerversteher und proklamiert eine offensive militärische Außenpolitik aus wirtschaftspolitischem Antrieb. (Für die Feststellung des letzten Aspekts musste Horst Köhler noch zurücktreten.)
Chaudhry: Auf der Münchener Sicherheitskonferenz kritisierte Gauck die deutsche Selbstangst und forderte Deutschland dazu auf, außenpolitisch und militärisch mehr Verantwortung zu tragen. Und bei seinem Besuch in der Türkei kritisierte er die türkische Regierung für ihren Umgang mit der Opposition. Ist das nicht mutig?
Dr. Dehm: Nein. Sicherlich nicht. Auf der Sicherheitskonferenz hat er zusammen mit Steinmeier und von der Leyen letztlich nur den neuen Kurs der Bundesregierung vorgestellt. Und unter den Zuhörern saßen die Vertreter der Rüstungslobby, die sich bei diesen Worten wahrscheinlich die Hände gerieben haben. All das gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, die keine Kriegsbeteiligungen oder offensivere Außenpolitik möchte. Was den Türkeibesuch angeht: Nach Demokratie- und Freiheitsverletzungen, wie sie sich Erdogan erlaubt hat, wäre es ja fatal gewesen, dies nicht anzusprechen und ohne eine solche Rede hätte er auch sicher nicht zurückkehren dürfen. Mutig wäre eine solche Rede in Ländern und bei Regierungen, die für Deutschland im allgemeinen als Freunde oder Partner gelten. Dort gibt es auch genug Missstände, die dann aber lieber nicht angesprochen werden.
Chaudhry: Wenn ich mir die Reden des Bundespräsidenten anhöre, dann habe ich oft das Gefühl, als wären viele seiner Sätze sehr abstrakt formuliert und oft inhaltsleer. Auch nutzt er den Begriff 'Freiheit' inflationär. Oder habe ich doch vielleicht einfach die falschen Reden gehört?
Dr. Dehm: 'Freiheit' ist natürlich sein Lieblingsbegriff. Allerdings erklärt er nie, welche Freiheit des einzelnen, 'normalen' Bürgers er meint. Oft dreht es sich nur um freie Wirtschaft. Er hinterfragt nicht, wann die Freiheit des einen zur Unfreiheit eines anderen wird.
Chaudhry: Was vermuten Sie hinter der Überbetonung des Freiheitsbegriffes?
Dr. Dehm: Er ist eher ein Sprecher des Mainstreams als der gesamten Gesellschaft. Den weniger Mächtigen, die nicht gehört werden, verleiht er keine Stimme. Anstatt sich dieser Menschen ernsthaft anzunehmen, stellt er lieber die abstrakte Worthülse 'Freiheit' über alles. So, als würde damit jedem alles möglich sein. Und er erhält damit den Mythos aufrecht, dass so jeder auch seine sozialen und ökonomischen Probleme überwinden könnte. Dabei überlässt man diese Menschen so nur ihrem eben nicht vollständig selbstverschuldeten und selbstverantworteten Schicksal, anstatt aktiv einzugreifen mit einem regulierenden Staat. Aber vielleicht denkt er auch, dass er das gemeine Volk nicht mit 'hochkomplexen Themen' (vgl. Kritik an Direkter Demokratie) überfordern sollte.
Chaudhry: Sokrates hat einmal gesagt: 'Der Hirte sorgt nur dafür, daß es den Schafen gut geht, so wie jeder Fachmann für seinen Gegenstand das Optimum zu erzielen sucht. Würde der Hirte sein Augenmerk darauflegen, mit seiner Herde das meiste Geld zu verdienen, dann wäre er nicht als Fachmann für Schafzucht anzusehen, sondern in erster Linie als Geschäftsmann.'
Kritiker sagen der heutigen Politik nach, dass deren Blick nur auf eine Legislaturperiode beschränkt sei. Es gebe keine Visionäre, die unbequeme Entscheidungen für die Zukunft ihrer Bürgerinnen und Bürger treffen würden. Stimmt das?
Dr. Dehm: Dieser Eindruck täuscht sicher nicht. Der Horizont der meisten Politiker endet bei der nächsten Wahl. Es werden kurzfristige Geschenke an die eigene Klientel gemacht, ohne auf langfristige Auswirkungen zu achten. Siehe die Finanzierung des Rentenpakets aus den Töpfen der Sozialversicherung. Unübersehbar ist dieser kurzfristige Gedanke auch, wenn Reformen oder unbequeme Entscheidungen immer hinter Wahltermine gelegt werden und in Jahren des Wahlkampfs quasi politischer Stillstand herrscht. Da geht den meisten leider Macht und Amt über politische Inhalte und wichtige gesellschaftspolitische Weichenstellungen.
DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Dehm!
Erstveröffentlichung: DAS MILIEU