Quantcast
Channel: Huffington Post Germany Athena
Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Salz-Zucker-Fett: Das Geschäft mit der Fettleibigkeit

$
0
0
»Wir sind süchtig nach billigem Essen, genauso wie nach günstigem Strom«, sagte James Behnke, der ehemalige leitende Mitarbeiter von Pillsbury. »Das wahre Problem ist diese Preissensibilität, und leider auch die wachsende Einkommensschere zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Frisches, gesünderes Essen ist teurer. Und daher hat das Fettleibigkeitsproblem auch eine ausgeprägte wirtschaftliche Komponente. Am schlimmsten trifft es die, die die geringsten Mittel haben und am wenigsten verstehen und wissen, was sie tun.«

Dass Branchenveteranen sich so äußerten, gehörte zu den bemerkenswertesten Offenbarungen meiner Recherche für mein Buch. Ich traf in der Tat viele intelligente Menschen mit guten Absichten - frühere und jetzige Brancheninsider -, die daran arbeiten, die Industrie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Auf persönlicher Ebene stellte ich fest, dass viele der Führungskräfte, mit denen ich sprach, einige Umstände in Kauf nahmen, um ihre eigenen Produkte zu meiden. Das führte so weit, dass ich nicht widerstehen konnte, jeden meiner Gesprächspartner nach seinen Essgewohnheiten zu fragen: John Ruff von Kraft, der süße Getränke und fettige Snacks aufgegeben hat, Luis Cantarell von Nestlé, der abends Fisch isst, Bob Lin von Frito-Lay, der Kartoffelchips und fast alle anderen stark industriell verarbeiteten Lebensmittel meidet, Howard Moskowitz, das Limonadenschöpfungsgenie, das keine Limonade trinkt. Geoffrey Bible hatte nicht nur aufgehört, die Zigaretten seines Konzerns zu rauchen; als er Kraft leitete, gab er sich ebenso viel Mühe, alles zu meiden, was seinen Cholesterinspiegel in die Höhe treiben könnte. »Ich war ein kleiner Fitnessfreak«, erzählte er mir. »Ich habe Squash gespielt und bin jede Woche 25 bis 30 Kilometer gejoggt.«

Doch die meisten von uns können nicht einfach damit aufhören, industriell verarbeitete Lebensmittel zu essen. Wir haben immer noch damit zu kämpfen, morgens heil das Haus zu verlassen oder wählerische Esser zufriedenzustellen oder ein vernünftiges Essen auf den Tisch zu bringen, ohne gefeuert zu werden, weil wir zu früh Feierabend gemacht haben. Viele von uns haben Geschmacksknospen, die immer noch an hohe Dosen Salz, Zucker und Fett gewöhnt sind. Aus Genuss oder wegen des Komforts brauchen wir unsere Kellogg's Toppas und unsere Salt-&-Vinegar-Chips, ganz zu schweigen von ein paar Oreos, um den Tag zu überstehen.

Diese Abhängigkeit bereitet in verschiedenerlei Hinsicht Schwierigkeiten, wenn es darum geht, all die Rezeptur- und Vermarktungstricks, mit denen die Unternehmen uns in ihren Bann ziehen, zu erkennen und abzuwehren.

Um mir ein Gefühl für einige der schlimmsten Qualen zu geben, die manche Leute erleiden, lud mich die Marketingmitarbeiterin eines Lebensmittelunternehmens zu einem Treffen ihrer Ortsgruppe der Food Addicts in Recovery Anonymous (Anonyme Esssüchtige auf Entzug) ein. Es war erschütternd zu hören, wie die Teilnehmer über Zucker sprachen, als handle es sich um Heroin. Ihre Autos waren mit Essensverpackungen vermüllt gewesen - schon auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause. Sie waren nicht in der Lage, den gekauften Süßigkeiten zu widerstehen, daher bestand die Überlebenstaktik darin, Zucker ganz zu meiden; ein Ansatz, der mir extrem erschien, bis ich mich mit einer der angesehensten Suchtexpertinnen des Landes, Nora Volkow, zusammensetzte, die das National Institute on Drug Abuse (Nationales Institut für Drogenmissbrauch) leitet.

Als Psychiatrieforscherin und Wissenschaftlerin leistete sie bei der Verwendung bildgebender Verfahren Pionierarbeit, als sie Parallelen zwischen Essen und Drogen aufzeigte. Sie gelangte zu der Überzeugung, dass für manche Leute die Esssucht genauso schwierig zu überwinden ist wie einige Formen der Drogenabhängigkeit. »Der verarbeitete Zucker kann bei manchen Personen offensichtlich zwanghafte Einnahmemuster verursachen«, erklärte sie mir. »Und diesen Leuten würde ich raten, sich einfach davon fernzuhalten. Man sollte nicht versuchen, sich auf zwei Oreo-Kekse am Tag zu beschränken, denn wenn der Belohnungscharakter des Produkts sehr ausgeprägt ist, kann man sein Verhalten nicht kontrollieren, egal, wie gut die Vorsätze sind - und das ist das, was wir auch Drogenabhängigen sagen.«

Eins der vielversprechendsten Experimente, wie man den Verlockungen des übermäßigen Konsums widerstehen könnte, findet in Philadelphia statt. Hier versucht Michael Lowe, Professor für klinische Psychologie an der Drexel University, eine weitere Ursache für Fettleibigkeit zu überwinden. Neben dem Einfluss der Börse und der aggressiven Vermarktung durch die Limonadenkonzerne weist er auch auf einen Riss im sozialen Gefüge hin, der das erste Mal in den frühen 1980er-Jahren zum Vorschein kam, als die Fettleibigkeitszahlen anfingen zu steigen. »Als die meisten von uns groß wurden«, sagte er zu mir, »gab es drei Mahlzeiten am Tag und vielleicht noch eine geplante Kleinigkeit vor dem Zubettgehen, und das war's. Außerhalb dieser Zeiten aß man nichts, weil man sich sonst den Appetit verdarb. Das hat sich verändert. Die Leute fingen an, überall zu essen, bei Besprechungen oder während sie die Straße entlanggingen. Es gibt heute keinen Ort, an dem Essen nicht akzeptiert wird, und die Leute sind so beschäftigt, dass sie sich nicht die Zeit nehmen, sich zum Essen hinzusetzen. Wir müssen uns bemühen, Familien zum gemeinsamen Essen zu ermutigen - das geschah früher automatisch.«


Aus: Michael Moss, "Das Salz-Zucker-Fett-Komplott", Ludwig Verlag, erschienen am 31. März 2014
2014-06-05-CoverMoss.jpg

Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>