Wo sich auch deutsche Chefs Allüren abgewöhnen
Nur in der Arbeitswelt haben sich in Europa und Amerika oft noch strikte Hierarchien erhalten, die in manchen Firmen an feudale Strukturen erinnern: Vorgesetzte schaffen an, Untergebene befolgen Anweisungen, und als Höchststrafe schwebt über jedem und jeder ein möglicher Verlust des Arbeitsplatzes.
Es sollte nicht überraschen, dass auch die Schweizer Arbeitswelt sich unterscheidet. Man nennt es nicht Egalitarismus, sondern flache Hierarchien, was auf dasselbe hinausläuft. Natürlich gibt es auch in der Schweiz Chefs, aber wenn sie klug sind, hängen sie diesen Umstand im Umgang mit ihren Mitarbeitenden nicht an die große Glocke. Die meisten sind klug.
Vor allem deutsche Gastarbeiter haben bei der Begegnung mit dem schweizerischen Arbeitsklima anfangs Schwierigkeiten - egal, ob sie als Vorgesetzter oder als Angestellter tätig sind. Als befremdend empfinden viele das vertraute Du im Kollegenkreis. Die oft als förmlich verschrienen Schweizer lassen nämlich ziemlich schnell und unverkrampft das »Sie« fallen. Als Grundregel gilt: Schweizer, die etwas gemeinsam unternehmen, und sei es nur für ein paar Stunden, gehen automatisch zum Du über. Das gilt erst recht für Arbeitskollegen, und häufig schließt es die höheren Kader gleich mit ein.
Wer deutsche Chefallüren in eine Schweizer Firma mitbringt, kracht schnell gegen eine Wand. Im Gegenzug erwarten Vorgesetzte von den Angestellten auch ein größeres Maß an Engagement für die Firma - meist über die im Arbeitsvertrag festgeschriebenen Leistungen hinaus: Anregungen, Ideen und Entscheidungen. Ein wenig ähneln ein Büro, eine Werkstatt, eine Montagehalle einer kleinen Eidgenossenschaft, wo jeder das Recht - und die Pflicht - hat, mitzumachen und mitzubestimmen.
Nicht jedes Unternehmen geht so weit wie der mittelständische Türen-Produzent Schlatter im Thurgau, aber seine Firmen- Philosophie erregt in der Schweiz kaum Aufsehen. Schlatter überträgt möglichst viel Verantwortung vom Management auf die Arbeitenden. Sie organisieren und stimmen alle Teilschritte der Herstellung aufeinander ab. Die Folge: Die Qualität steigt parallel zum Wohlbefinden der Arbeitenden. Sie fühlen sich geschätzt, motiviert und produktiv.
Zugleich schafft die Firma ein familiäres Umfeld. Alle Mitarbeitenden duzen sich. Da Firmenchef Roger Herzig zudem überzeugt ist, dass »ein Mitarbeiter ohne Sorgen der beste Mitarbeiter ist«, kann es vorkommen, dass die Firma beispielsweise einen Überbrückungskredit zuschießt, wenn ein Angestellter Schulden angehäuft hat. Als Grundmotto hat Herzig ausgegeben: »Wer Vertrauen sät, erntet Vertrauen.«
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf ist nicht zu vergleichen mit einem Türen-Schreiner im Thurgau. Aber vieles ist im Prinzip ähnlich. Lise Boudreault ist Kanadierin und hat lange für das IKRK gearbeitet. Auch ihr sind hier die Partnerschaft, die Gleichheit und das Vertrauen am Arbeitsplatz aufgefallen: »Schweizer sind weniger kompetitiv«, erklärt sie. »Das soziale Gewebe ist eng geknüpft. Es existiert eine Art von Vertrauen, ja von Solidarität. Ich habe gehört wie Kollegen gesagt haben: ›Wir können ihn nicht entlassen, er hat drei Kinder‹. Die Schweizer Gesellschaft ist humaner, auch wenn sich das zu ändern beginnt. Sie hat auch ein anderes Verhältnis zu Autorität. In der Schweiz wollen Leute zu einer Gruppe gehören. Leadership ist nicht unbedingt etwas, das man anstrebt. In Quebec, wo der amerikanische Einfluss stark ist, ist es mehr die Einstellung: Der Beste gewinnt.«
Ausschnitt aus dem Buch Wolfgang Koydl: Die Besserkönner
Orell Füssli Verlag, 224 Seiten. Erschienen im März 2014
© 2014 Orell Füssli Verlag AG, Zürich
Rechte vorbehalten
Nur in der Arbeitswelt haben sich in Europa und Amerika oft noch strikte Hierarchien erhalten, die in manchen Firmen an feudale Strukturen erinnern: Vorgesetzte schaffen an, Untergebene befolgen Anweisungen, und als Höchststrafe schwebt über jedem und jeder ein möglicher Verlust des Arbeitsplatzes.
Es sollte nicht überraschen, dass auch die Schweizer Arbeitswelt sich unterscheidet. Man nennt es nicht Egalitarismus, sondern flache Hierarchien, was auf dasselbe hinausläuft. Natürlich gibt es auch in der Schweiz Chefs, aber wenn sie klug sind, hängen sie diesen Umstand im Umgang mit ihren Mitarbeitenden nicht an die große Glocke. Die meisten sind klug.
Vor allem deutsche Gastarbeiter haben bei der Begegnung mit dem schweizerischen Arbeitsklima anfangs Schwierigkeiten - egal, ob sie als Vorgesetzter oder als Angestellter tätig sind. Als befremdend empfinden viele das vertraute Du im Kollegenkreis. Die oft als förmlich verschrienen Schweizer lassen nämlich ziemlich schnell und unverkrampft das »Sie« fallen. Als Grundregel gilt: Schweizer, die etwas gemeinsam unternehmen, und sei es nur für ein paar Stunden, gehen automatisch zum Du über. Das gilt erst recht für Arbeitskollegen, und häufig schließt es die höheren Kader gleich mit ein.
Wer deutsche Chefallüren in eine Schweizer Firma mitbringt, kracht schnell gegen eine Wand. Im Gegenzug erwarten Vorgesetzte von den Angestellten auch ein größeres Maß an Engagement für die Firma - meist über die im Arbeitsvertrag festgeschriebenen Leistungen hinaus: Anregungen, Ideen und Entscheidungen. Ein wenig ähneln ein Büro, eine Werkstatt, eine Montagehalle einer kleinen Eidgenossenschaft, wo jeder das Recht - und die Pflicht - hat, mitzumachen und mitzubestimmen.
Nicht jedes Unternehmen geht so weit wie der mittelständische Türen-Produzent Schlatter im Thurgau, aber seine Firmen- Philosophie erregt in der Schweiz kaum Aufsehen. Schlatter überträgt möglichst viel Verantwortung vom Management auf die Arbeitenden. Sie organisieren und stimmen alle Teilschritte der Herstellung aufeinander ab. Die Folge: Die Qualität steigt parallel zum Wohlbefinden der Arbeitenden. Sie fühlen sich geschätzt, motiviert und produktiv.
Zugleich schafft die Firma ein familiäres Umfeld. Alle Mitarbeitenden duzen sich. Da Firmenchef Roger Herzig zudem überzeugt ist, dass »ein Mitarbeiter ohne Sorgen der beste Mitarbeiter ist«, kann es vorkommen, dass die Firma beispielsweise einen Überbrückungskredit zuschießt, wenn ein Angestellter Schulden angehäuft hat. Als Grundmotto hat Herzig ausgegeben: »Wer Vertrauen sät, erntet Vertrauen.«
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf ist nicht zu vergleichen mit einem Türen-Schreiner im Thurgau. Aber vieles ist im Prinzip ähnlich. Lise Boudreault ist Kanadierin und hat lange für das IKRK gearbeitet. Auch ihr sind hier die Partnerschaft, die Gleichheit und das Vertrauen am Arbeitsplatz aufgefallen: »Schweizer sind weniger kompetitiv«, erklärt sie. »Das soziale Gewebe ist eng geknüpft. Es existiert eine Art von Vertrauen, ja von Solidarität. Ich habe gehört wie Kollegen gesagt haben: ›Wir können ihn nicht entlassen, er hat drei Kinder‹. Die Schweizer Gesellschaft ist humaner, auch wenn sich das zu ändern beginnt. Sie hat auch ein anderes Verhältnis zu Autorität. In der Schweiz wollen Leute zu einer Gruppe gehören. Leadership ist nicht unbedingt etwas, das man anstrebt. In Quebec, wo der amerikanische Einfluss stark ist, ist es mehr die Einstellung: Der Beste gewinnt.«
Ausschnitt aus dem Buch Wolfgang Koydl: Die Besserkönner
Orell Füssli Verlag, 224 Seiten. Erschienen im März 2014
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