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Der Staat als virtuelle Plattform

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Im Jahre 2000 kam die Trilaterale Kommission, eine geheimnisumwitterte Vereinigung ehemaliger westlicher Politiker und Wissenschaftler, zu dem Ergebnis, dass es mit der westlichen Demokratie nicht zum Besten bestellt ist und konstatierten einen „Verfall der Handlungsfähigkeit der Politik". Die Kommission, die ja eher die Legitimationsprobleme aus der Sicht der Politikerelite beschrieb, erkannte aber damals noch nicht, dass es auch für die Öffentlichkeit ein Problem darstellt, wenn Politik nicht mehr funktionierte und zu einem Beiwagen privatwirtschaftlicher Interessen wird.

Beeinflusst von dieser Diskussion beschrieb der Politologe Colin Crouch einige Zeit später den Zustand des Staates in der westlichen Welt als den einer „Post -Demokratie" - einer Situation, in der Demokratie eher die Form eines Spektakels annimmt, gesteuert von Wahlkampfberatern und Umfrageinstituten, in der aber die Mehrheit der Bürger in einer ungebremsten Ökonomie leben und keine maßgebliche Rolle spielen. Crouch erklärte diese Post-Demokratie mit der zunehmenden Verdrängung der staatlichen Verwaltung aus Politik und Ökonomie durch den privaten Bereich, der durch die neoliberale Ära entfesselt wurde und seither dominiert. Der öffentliche Sektor, so Crouch, hatte in weiterer Folge „kein Selbstvertrauen, irgendetwas ohne den privaten Sektor zu tun". Verwaltung wurde in weiterer Folge zu „einem institutionellen Idioten".

Dieser zunehmend beobachtbare Rückgang öffentlicher Handlungs- und Gestaltungskompetenz hält bis heute an und zeigt sich gerade bei großen Projekten: Nach Jahren der Diskussion gibt es noch immer keinen Plan zur Energiewende. Die amerikanische Gesundheitsreform scheiterte fast, weil die US-Verwaltung es zunächst nicht schaffte, Versorgungsangebote auf eine Webseite zu bringen. Große Entwürfe, wie etwa das brasilianische „Bolsa Familia"-Programm, mit dem es gelang, die Mehrheit der Armen in die Mittelsicht aufsteigen zu lassen, sind nur mehr in Ländern möglich, die einen starken öffentlichen Sektor und Verwaltung haben, allerdings immer zu dem Preis, dass diese dann zur Selbstprivilegierung tendieren.

Selbst in der Krise von 2008, in der der Markt vom Staat gerettet werden musste, gelang es nicht, die öffentliche Handlungsfähigkeit wieder herzustellen und etwa die reale Wirtschaft gegenüber der vom Finanzsektor erzeugten Geldillusion zu stärken: Der Staat wird immer mehr zu einem „nachfolgenden Staat", von dem keine innovativen und richtungsweisenden Impulse mehr ausgehen.

In dieser scheinbar trostlosen Situation betritt eine neue Kraft die politische Arena: Durch die sozialen Medien entstehen neue Möglichkeiten für jeden Einzelnen, mehr für sich und vor allem mit anderen zu tun. Neue Kollaborationsansätze sich an kommunalen Projekten zu beteiligen, scheinen diesen Trend zu bestätigen.

Die Bertelsmann Stiftung stellt eine App zur Verfügung, die bundesweit beeindruckende Beispiele für „offene" Projekte zwischen Verwaltung und Bürgern auflistet inklusive Anweisungen, wie man solche partizipatorischen Projekte selbst aufsetzen kann. Auf der gesetzgebenden Ebene fand mit dem Projekt des „18. (virtuellen) Sachverständigen", der als Platzhalter für digital an der Diskussion beteiligten Interessierten fungierte, immerhin ein veritables Experiment des Bundestages statt, das an die erfolgreiche Partizipation der Crowd, etwa bei der Neuformulierung der isländischen Verfassung, anknüpfte.

Wenn man diese Entwicklungen weiterdenkt, entsteht ein völlig anderes Verständnis von der Rolle des Staates. Dieser, so Protagonisten der internetbasierten Kollaborationsszene, entwickelt sich dann zu einem „Partnerstaat", der nicht notwendigerweise alle Leistungen selbst erstellt, der vielmehr für die sich selbst organisierenden und mit Leistungen versorgenden Bürger virtuelle Plattformen zur Verfügung stellt, die es ermöglichen, schnell und einfach zu kollaborieren. Der Staat wird in diesem Szenario zu einer Art „Meetup"-Plattform, die schon heute in fast allen großen Städten der Welt existiert, und auf der sich Bürger zusammenfinden, um kulturelle, soziale und wirtschaftliche Projekte gemeinsam anzugehen.

Den Staat als eine bloße technische Plattform zu verstehen, würde allerdings zu kurz greifen. Wenig überraschend haben sich ja bereits konservative Politiker unter dem Schlagwort der „Big Society" diesen Gedanken zu Eigen gemacht und wie in Großbritannien versucht, den Wegfall staatlicher Leistungen durch Kollaborationen bzw. Eigenleistungen der Bürger zu kompensieren.

Wie kurz diese Sichtweise greift, zeigen die Pläne Ecuadors, welches sich intensiv mit den Vorrausetzungen für eine solche offene und kollaborative Gesellschaft auseinandersetzt. Selbstbestimmte Zusammenarbeit der Bürger setzt in diesem Szenario voraus, dass Bildung und Wissen für alle digital jederzeit und ohne Kosten zur Verfügung stehen. Wenn Dienstleistungen selbst erstellt werden, müssen zudem Baupläne und Verfügungsrechte für Güter der Zivilisation zugänglich sein.

Technisch ist dies alles kein Problem. Plattformen wie edx.com liefern heute schon weltweit ohne Kosten Lerninhalte und virtuelle „Open Source Agriculture"-Bibliotheken stellen Baupläne für alle wesentliche Geräte zum Nachbauen oder 3D-Drucken kostenlos zur Verfügung. Die Diskussion in Ecuador und anderswo zeigt aber auch, dass eine solche Rolle des Bürgers nicht bedeutet, die soziale Sicherheit abzuschaffen, sondern im Gegenteil, dass diese die Grundvoraussetzung ist, damit eine solche aktive und selbstbestimmte Rolle eingenommen werden kann.

Jenseits einer technisch geleiteten Vision über die Rolle des Staates entsteht nun zeitgleich eine Diskussion über die Finanzierung und Sicherung des Bürgers als „Produzent öffentlicher Leistungen".



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