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Sex im Kopf: Das letzte Tabu unserer sexualisierten Gesellschaft

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Es gab eine Zeit, da haben die Richter des Bundesgerichtshofes in sperrigem Amtsdeutsch festgelegt, wie in diesem Lande die «moralische Ordnung» in Bezug auf die «körperlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern» zu verstehen ist. Die «monogame Ehe» wurde als Ideal proklamiert, homosexuelle Paarungen wurden kriminalisiert und mit Gefängnisstrafen bedroht, wie überhaupt jegliche sexuellen Praktiken, die nicht dem Zwecke der Vermehrung dienten, als «pervers» stigmatisiert wurden.

Der Kuppeleiparagraph schickte all jene in die Haft anstalten, die einem unverheirateten Liebespaar eine nächtliche Bleibe boten - egal, ob es sich dabei um ein Hotel oder eine Privatunterkunft handelte. Schülerinnen, die schwanger wurden, mussten vielerorts die Schule verlassen, wie deren ledige Lehrerinnen, denen dasselbe «Malheur» passiert war. (Es versteht sich von selbst, dass minderjährige Väter die Schulausbildung fortsetzen durften.)

Die Prostitution war mit dem Makel der «Sittenwidrigkeit» behaftet, was bürgerliche Herren nicht davon
abhielt, sich ihrer zu bedienen, und weniger bürgerliche, sich als Beschützer der Huren aufzuspielen. Das ist gerade mal zwei Generationen her. Und dass heute fast alles anders ist, wird von den einen als Sieg der Freiheit gelobt und von den anderen als Verfall der Sitten beklagt.

Der Sieg der Freiheit beziehungsweise der Sittenverfall nahm seinen Anfang ziemlich genau im «summer of love» von 1967. Die Generationen jener, die ein Jahrzehnt zuvor mit dem Rock 'n' Roll eine Kulturrevolution gegen das Elternhaus versuchten, mögen es verzeihen, aber bei allem hüftschwingenden «Rock Around the Clock» führten sich die meisten von ihnen in sexuellen Dingen noch sittsam im Geiste der Bundesrichter auf.

Ende der 1960er Jahre aber rieb sich das gesellschaftliche Establishment zwischen Hamburg-Harvestehude und Starnberger See dann erschrocken und verwundert die Augen, was da aus dem Reich «unserer amerikanischen Freunde» über den Ozean schwappte.

Gerade hatte man nicht nur den Rock 'n' Roll, sondern auch den Minirock der Britin Mary Quant verdaut (der damals noch kurz über dem Knie aufhörte), da fingen junge Leute an, in Woodstock-Manier knutschend in Parks herumzuliegen.

Und weil es dabei nicht blieb (und die Pille nur für verheiratete Frauen zu haben war), gab es 1967/68 einen Anstieg an Teenager-Schwangerschaften. Das in San Francisco entstandene schwule Selbstbewusstsein nahm vorsichtig auch hierzulande Fahrt auf, heterosexuelle Männer tauschten verschämt Pornoheftchen, und so manche sich emanzipierende Frau war entsetzt, wie dort die weibliche Rolle bildhaft definiert wurde.

Diese Heftchen kamen übrigens meist nicht von den «amerikanischen Freunden», sondern aus dem sinnenfreudigen Schweden.

Als der neue Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969 versprach, «mehr Demokratie» zu wagen, ging bei vielen in diesem prüden Lande die Hoffnung um, dass damit auch eine sexuell freizügigere Gesetzgebung verbunden sein würde.

Eine Hoffnung, die - wenngleich schleichend - auch in Erfüllung ging. Erstaunlicherweise war im ostdeutschen Staat, der sich ansonsten nicht gerade des Liberalismus verdächtig machte, bereits
Ende der 1950er Jahre der § 175 gestrichen worden (zumindest für homosexuelle Beziehungen unter Erwachsenen), und das Verbot der «Kuppelei» fiel im Jahr 1968 einer Strafrechtsreform zum Opfer.

Zumindest auf dem Papier hatte die DDR die Nase vorn. Die Realität sah freilich anders aus. Unverheiratete Paare bekamen fast nie eine Wohnung und wurden meist auch an Hotelrezeptionen abgewiesen. Als der bekennende Homosexuelle Andreas Huwe im Jahr 1982 die Familienzusammenführung mit seinem Westberliner Freund beantragte, wurde die Stasi aktiv, und Huwe verschwand erst in diversen Haftanstalten und dann im Arbeitslager Rüdersdorf.

In einem Dresdner Betrieb wurde einer lesbischen Frau wegen ihrer «krankhaften Abartigkeit» die Beförderung verweigert, und der Kollektivleiter empfahl, sich «wenigstens einer Behandlung zu unterziehen».

Als am 3. Oktober 1990 schließlich «zusammenwächst, was zusammengehört» (Willy Brandt), ahnte kaum jemand, wie das vereinte Deutschland ein Vierteljahrhundert später in sittlicher Hinsicht
aussehen würde.

Doch dann fielen nach und nach die Tabus, und die schwarz-rot-geile Republik entstand.

Deutschland im Jahre 25 nach der Wiedervereinigung: Von vielen Heterosexuellen werden Standesämter gemieden, wie es der Satan mit dem Weihwasser tut, homosexuelle Paare geben an selbigen Orten so was Ähnliches ab wie ein Ehegelübde, alleinerziehende Mütter sind schon lange keine singuläre Erscheinung mehr und außereheliche Kinder werden nicht mal mehr von der katholischen Kirche gemobbt.

Und wie steht es um die sexuelle Moral? Die Schmuddelheftchen leiden längst unter Bedeutungslosigkeit, man holt sich die Hardcore-Pornographie direkt auf den heimischen Rechner oder das Smartphone. Schon Zehnjährige betrachten auf den Schulhöfen die kopulierenden Paarungen, und in Hunderttausenden Haushalten und Büros dienen sie Männern (und zunehmend auch
Frauen) der physischen und seelischen Entspannung.

Natürlich bleibt es meist nicht bei den kopulierenden Paarungen, denn inzwischen gibt es keine Sexualpraktiken, die nicht online in Bild und Ton zu empfangen wären.

Wer da länger als 3 Minuten bei einem Clip hängenbleibt, hat in der Regel mehr als nur ein feuilletonistisches Interesse. Der Porno wird zum Stimulus, und nicht selten werden sexuelle Neigungen, die früher unentdeckt blieben, vom Mantel der Latenz befreit.

Wer sich traut, für die neu entdeckten Vorlieben Partner zu suchen, wird in Internetforen fündig. Da kann man anonym bleiben und sich doch begegnen - virtuell über Skype oder live auf Autobahnrastplätzen oder Hotels, die auf Anmeldescheine verzichten.

Es gibt bundesweit Stammtische für nahezu alles und jeden. Da treffen sich die Fans sadomasochistischer Freuden auf einem thüringischen Bauernhof, die Petplayer (was das ist, wird im Kapitel «Fetisch-Reize» beschrieben) in einem Berliner Kaffeehaus, und auf den diversen Gay Prides und schwul-lesbischen Straßenfesten bekennt man sich zur gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung.

Längst hat auch die Werbung das Thema «Sex» entdeckt und promotet Eiscreme und Automobile mit
lasziven Girls und maskulinen Beautys. Auf dem Laufsteg der TV-Sendung «Germany's Next Topmodel»
präsentieren sich 16-jährige Teenies im Bikini und werden zu Vorbildern für Zehntausende anderer Teenies, die eine Mode spazieren tragen, die zu deren Großelterns Jugendzeiten zum Ornat von Prostituierten gehörte.

Leben also die Deutschen des Jahres 2014 in einer sexuell tabulosen Gesellschaft? Ja und nein.

Täglich besuchen 1,2 Millionen Männer die Puffs zwischen Flensburg und Konstanz. Hier suchen sie das, was ihnen von professionellen Porno-Darstellern im Internet vorgeturnt wird und was sie der eigenen Partnerin (so sie denn eine haben) nicht abverlangen wollen.

Der Gesetzgeber hat die Prostitution vom Makel der Sittenwidrigkeit befreit, aber wird der Bordellbesuch seither ebenso selbstverständlich mit Freunden, Arbeitskollegen oder gar den eigenen Ehepartnern kommuniziert wie etwa der Gang zum Friseur?

Natürlich nicht! Und warum nicht? Weil der Gang zur Hure, auch ohne vom Gesetz als sittenwidrig stigmatisiert zu sein, von der Gesellschaft als unmoralisch gewertet wird. Den Freiern ist das auch ganz lieb so. Gerade das Verruchte der Unternehmung wird als erregend empfunden. Und bei den meist heimlichen, oft durch Pornographiekonsum freigesetzten Phantasien ist es ebenso.

Man spricht nicht darüber. Nicht über den Inhalt der Phantasien, was ja noch zu verstehen wäre - deren bloße Existenz ist vielfach ein Tabu. Dabei wird in deutschen Haushalten masturbiert, was das Zeug hält. Schon 12-Jährige sind damit beschäftigt, und das hört im Alter von 70 Jahren keineswegs auf.

Und das, was man sich dabei so vor sich hin phantasiert, ist bei den 1445 anonym vorgetragenen Bekenntnissen, die diesem Buch zugrunde liegen, nur in Ausnahmefällen mit softer Kuschelei oder romantischem Girlfriend-Sex verbunden.

Peitschenhiebe, Fesselungen und Nippelklammern liegen ebenso im Trend wie verbale Erniedrigungen, und nicht weniger als 127 der männlichen Befragten gaben an, Sex mit mindestens zwei Frauen gleichzeitig geil zu finden.

Eine Phantasie übrigens, die nur vier Frauen zum Besten gaben. Das weibliche Geschlecht lässt sich in
der Traumwelt (und gelegentlich auch real) entweder mit einem Mann ein oder mit fünfen aufwärts beim fröhlichen Gangbang.

So mancher mag sich bei der Lektüre der folgenden Seiten die Frage stellen, ob dies alles noch normal ist. Normal?

Das ist eine Vokabel, von der man sich schnell verabschieden sollte, wie der renommierte Berliner Sexualpsychologe Dr. Christoph J. Ahlers rät, der sein Wissen und seine Erfahrung dem Autor dieses Buchs zur Verfügung stellte:

«Den Begriff der Normalität gibt es in der Sexualwissenschaft deswegen nicht, weil Sexualität einem stetigen zeitlichen und kulturellen Wandel unterworfen ist. Er ist damit für die Sexualforschung unbrauchbar. Es ist ein Begriff aus der Soziologie, der Mehrheitsverhalten zu beschreiben versucht.»

Und damit ist er für den Bereich der Sexualität schon deshalb nicht zu gebrauchen, da es sich um stereotype Vorstellungen handelt, was die Mehrheit tut oder die Minderheit. Das sähe bei Lichte betrachtet alles ein bisschen anders aus.

Aber es wird eben mehrheitlich nicht bei Lichte betrachtet. Im Internet tauchen Schätzungen auf, dass nur etwa 20 Prozent aller erwachsenen Deutschen den Versuch unternehmen, ihre erotischen Phantasien in Swingerclubs, Bordellen, mittels Internetforen oder auch mit dem eigenen Partner in die Realität umzusetzen.

Nun ja, vielleicht sind es auch mehr, auf jeden Fall müsse man unbedingt zwischen dem «inneren Erleben» und dem «äußeren Verhalten» unterscheiden, sagt Dr. Ahlers.

Und wenn wir von Sexualpräferenzen sprechen, ist immer nur vom inneren Erleben die Rede. Erotische Phantasien - und die sind damit gemeint - sind kaum einem erwachsenen Menschen fremd, aber es wird nicht darüber gesprochen.

Prominente Politiker, Künstler und vereinzelt mittlerweile auch Fußballspieler können sich inzwischen zu ihrer homosexuellen Orientierung bekennen, ohne nennenswerten Schaden zu nehmen. Das wäre völlig anders, wenn sie oder deren heterosexuelle Kollegen und Kolleginnen in aller Öffentlichkeit ausbreiten würden, was in ihrem erotischen Kopfkino auf dem Spielplan steht.

Die erotischen Phantasien sind das vielleicht letzte Tabu in einer ansonsten durch und durch sexualisierten Gesellschaft.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:

"Sex im Kopf. Die erotischen Phantasien der Deutschen" von Gerhard Haase-Hindenberg, Rowohlt Verlag, 368 Seiten, ISBN 978-3-499-62903-7, 14,99 Euro.
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