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Warum viele Frauen von sexueller Unterwerfung träumen

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„Warum hast du so große Ohren, so große Arme und einen so großen Mund?", fragt Rotkäppchen den Wolf, der sich in ihrem Bett räkelt, und umkreist so mit ihren Fragen genau den einen Körperteil, dessen Größe sie eigentlich beunruhigt.

Dieses alte Volksmärchen diente ursprünglich zur Abschreckung „geschlechtsreifer" Mädchen (darum die rote Farbe ihrer Kappe) vor den Verführungskünsten des Mannes, der sich klammheimlich ins häusliche Bett schmuggelt.

Gleichzeitig lässt sich Rotkäppchen jedoch als eine archetypische Erzählung lesen, deren Figurenkonstellation vom unbescholtenen Mädchen und dem starken Mann bis heute ungebrochene Faszination ausübt und in unzähligen Variationen die Regale der Buchhandlungen bevölkert.

Entpuppte sich der Wolf im Märchen jedoch noch als archaisch, roh und gefährlich, so bevorzugt die heutige Popliteratur die harmlose und domestizierte Form des Raubtiers - und findet reißenden Absatz.

Bekanntestes Beispiel hierfür dürfte derzeit der 'vegetarische' Vampir Edward aus der Twilight-Reihe sein:

Zwar ist er in seiner Eigenart als Vampir von finstersten animalischen Trieben gepeinigt, aus Rücksicht auf die Menschen weiß er sich jedoch stets zu beherrschen. Sogar als er die unwiderstehliche Bella trifft, die sein Blut gehörig in Wallung bringt, beweist er eiserne Standhaftigkeit, um der unschuldigen Liebe zwischen den beiden eine Chance zu geben.

Nur in dem Verzicht auf sexuellen Genuss - so die Moral von der Geschicht' - findet sich Raum für die Entfaltung wahrer Liebe. Und den Beweis echter Zuneigung erbringt der von Natur aus sexbesessene Mann nur durch den ostentativen Verzicht.

Das freigelegte Begehren des Vampirs

Auf den ersten Blick konträr dazu behandelt der mindestens ebenso erfolgreiche Frauenroman 50 Shades of Grey, der 2011 im Sturm die Welt eroberte, das Thema Sexualität; denn hier gibt sich das Protagonistenpärchen ungebremst allerlei SM-Praktiken hin, die von der Autorin E.L. James in epischer Breite und Detailverliebtheit beschrieben werden.

Ein zweiter Blick enthüllt jedoch die nahe Verwandtschaft zwischen Twilight und Shades of Grey. Nicht nur bloggte James ihre Geschichte anfänglich als Twilight-Fanfiction im Internet; auch die Rollenverteilung in den Büchern könnte kaum ähnlicher sein: Ganz wie in Twilight trifft in Shades die unerfahrene und brave Anastasia auf den weltgewandten und charismatischen Christian Grey, und die beiden verlieben sich unsterblich ineinander.

Der schmucke und steinreiche Unternehmer jedoch hat ein „dunkles Geheimnis", wie das Buch dem Leser schon auf dem Cover verkündet. Auch in Christian Grey steckt also eine vampirisch-animalische Seite, nur äußert sie sich hier in seiner Vorliebe für Sadomasochismus und wird diesmal ausgelebt und nicht unterdrückt.

„Die Autorin E.L. James legt, ganz der amerikanischen Sexualmoral folgend, das mühsam unter Kontrolle gebrachte Begehren des Vampirs frei", schrieb schon der ZEIT-Autor Adam Soboczynski über die nahe Verbindung zwischen Twilight und 50 Shades of Grey.

Dabei überschreitet James jedoch niemals die Grenzen des „guten Geschmacks", wie es Marquis de Sade, von dem sich der Begriff „Sadismus" erst herleitet, mit seiner tragischen und ausgebeuteten Hauptfigur Justine einst tat.

Nein, in Shades soll an keinerlei Abgründe gerührt werden, hier geht es bei aller Wildheit sauber und kontrolliert zu: Sorgfältig ausgesuchte Sicherheitsworte, unentwegtes Duschen und der fast sofort einsetzende Höhepunkt der Protagonistin nehmen den beschriebenen Sexszenen jeden Schmutz und lassen so trotz aller pornographischer Details die letztendlich prüde Sexualmoral immer wieder zum Vorschein kommen.

Vielleicht liegt es ja daran, dass derzeit bei der Verfilmung von Shades of Grey einfach keine knisternde Erotik aufkommen möchte.

Ein Abgesang auf die Emanzipation?


Die eindeutige Rollenaufteilung in beiden Romanen beschränkt sich dabei nicht nur auf den Bereich der Sexualität, die Unterwerfung der Frau dehnt sich vielmehr auf alle Lebensbereiche aus: Bella gibt jegliche Entscheidungsgewalt an den erfahrenen Edward ab und Anastasia lässt sich von Grey sogar vorschreiben, welche Kleidung sie trägt und zu welcher Uhrzeit sie zu essen und zu schlafen hat.

In unserer scheinbar so emanzipierten Gesellschaft drängen sich da zwei Fragen geradezu auf: Was fasziniert so viele moderne Frauen an diesem antiquierten Rollenmodell? Und lässt diese Begeisterung beunruhigende Schlüsse über den aktuellen Zustand der Emanzipation zu?

In einer ersten Reaktion neige ich nach der Lektüre von 50 Shades of Grey zu einem beherzten: „Ja, und wie wir uns Sorgen machen müssen!". Zu sehr strotzt der Roman vor unsäglichen Stereotypen, von sprachlichen Ungenauigkeiten ganz zu schweigen.

Was indes die himmelweite Überlegenheit des Mannes gegenüber seiner Partnerin betrifft, reihen sich Twilight und Shades lediglich in eine lange Liste von Frauenromanen ein, denen das immergleiche Muster zu Grunde liegt.

Frauen träumen von mächtigen Männern

Zu diesem Befund sind die beiden Neurowissenschaftler Ogi Ogas und Sai Gaddam in ihrer Studie A Billion wicked Thoughts gekommen, in der sie die sexuellen Präferenzen von Männern und Frauen erforscht haben:

„Die Helden von Liebesromanen (für Frauen) scheinen häufig einer höheren Spezies zu entstammen. Sie sind die geborenen Anführer, reich, mächtig und gut vernetzt." Typische Alphamännchen also, deren Auserwählte ihnen überall hin folgt.

Wenn es das wäre, was Frauen tatsächlich wollen, so könnte man die Emanzipation getrost für gescheitert erklären. Denn in krasserer Dissonanz zu dem Willen zur weiblichen Macht könnte eine solche Rollenverteilung kaum stehen.

Doch - zum Glück - sind ja bekanntlich Phantasie und Wirklichkeit nicht miteinander gleichzusetzen. „In der Realität würden die meisten Frauen, die sich derartige Bilder ausmalen, eine solche Situation niemals zulassen", so die Psychologin Felicitas Heyne auf Focus Online über die sexuellen Rollenspiele in 50 Shades of Grey.

Gleiches lässt sich auch auf die restlichen Unterwerfungsphantasien, denen sich die lesenden Frauen hingeben, übertragen: Gerade in einer Welt, in der Frauen beständig Verantwortung übernehmen und häufig auf sich allein gestellt sind, mag es bisweilen ungemein wohltuend sein, wenigstens in der Fiktion alle Macht abzugeben und sich einfach fallen zu lassen. So lassen sich die Vorteile von Unterwerfung, die man sich für das eigene Leben niemals wünschen würde, genüsslich auskosten.

Unterwerfung für die wahre Liebe

Noch eine weitere Perspektive auf die Motivation für die Lektüre solcher Pop-Romanzen eröffnet das Buch Warum Liebe weh tut der Soziologin Eva Illouz. In ihren Ausführungen beschreibt sie, wie kapitalistische Strukturen sich des Liebesmarktes bemächtigt haben und „Anerkennung im Rahmen einer ökonomischen Auffassung von Gefühlen organisiert und durch diese beschränkt" wird.

Liebe beruht also auf dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage; bei einem Überangebot an Liebe sinkt demnach automatisch die Nachfrage. So traut sich die verliebte Person heutzutage oft nicht mehr, ihre Liebe zu gestehen, aus Angst, dass das Interesse des Anderen deshalb sinken könnte.

„Dieser Imperativ ist es, der einen Gutteil der mit romantischen Beziehungen verbundenen Unsicherheiten strukturiert", folgert Illouz. Hier scheint ein weiterer großer Reiz der derzeit so populären Romane zu liegen: Bella muss sich zu keiner Zeit rarmachen, um für Edward interessant zu bleiben, genauso wenig wie Anastasia mit ihrer Zuneigung gegenüber Grey hinterm Berg halten muss.

Beide Geschichten entwerfen so ein Bild der absoluten und bedingungslosen Liebe, unabhängig von jeglichen Marktschwankungen.

Mit Blick auf die vielen Unsicherheiten auch und besonders im Bereich der zwischengeschlechtlichen Zuneigung, mit denen sich alle Mitglieder unserer individualisierten Gesellschaft konfrontiert sehen, wird der bahnbrechende Erfolg dieser überromantisierten Geschichten - mögen sie auch noch so plump daherkommen - plötzlich gar nicht mehr so verwunderlich.

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