In dieser gefährlichen Eurokrise, die auch den europäischen Frieden bedroht: Halten Sie die europäische Integration für gescheitert?
Tja. Kommen wir eines fernen Tages zu den Vereinigten Staaten von Europa oder nicht? Mein Traum ist es. Aber auf welchem Weg? Für meine Generation und für viele Deutsche ist das vereinte Europa ein Ziel, für das es lohnt zu arbeiten.
Das hat wohl mit unserer Vergangenheit zu tun, mit dem Wunsch, Teile unserer Geschichte abzuschütteln. Das kann man negativ sehen. Ich aber sehe es positiv, nämlich als Ergebnis eines schwierigen historischen Erkenntnisprozesses, an dessen Ende wir begriffen haben, dass es allein nicht geht.
In Europa schwärmen heute viele Politiker aus Krisenländern von einer Fiskalunion wie im amerikanischen Bundesstaat, mit einem gemeinsamen Budget für bundesstaatliche Aufgaben, um so ihre Finanzprobleme zu vergemeinschaften.
Ich verstehe ihren Traum, aber man muss ihnen entgegenhalten, dass eine solche Fiskalunion nicht vor, sondern nur nach der Gründung eines europäischen Bundesstaates kommen kann.
Ein Bundesstaat ist eine Versicherung auf Gegenseitigkeit. Nur er kann den heutigen Geberländern die Gewissheit geben, dass sie als Gegenleistung für ihre Hilfen auch ein wenig Schutz für ihre Kinder und Kindeskinder erhalten, sollten diese einmal in Schwierigkeiten geraten.
Sie hängen sehr an Europa...
Ja, in der Tat. Als junger Mensch habe ich an so manchem Ferienlager in Frankreich teilgenommen, die es nur deswegen gab und gibt, weil die deutsch-französische Verständigung gelungen ist. Meine Liebe zu dem Land und den Menschen ist dadurch gewachsen.
Ebenso verbindet mich viel mit einer Reihe anderer Länder in- und außerhalb Europas, so insbesondere mit Kanada, den USA, mit Finnland, Israel und Italien. Ich habe dort und auch in anderen Ländern viele Freunde und Bekannte.
Die Freizügigkeit, das Leben ohne sichtbare Staatsgrenzen, das meiner Generation erstmals in der jüngeren Geschichte ermöglicht wurde, der Ausgleich mit den Nachbarn und der Frieden, die Selbstverständlichkeit im Austausch über die Landesgrenzen hinweg sind unverzichtbare Errungenschaften und bleibende Postulate der deutschen Politik. Und genau darum geht es.
Die Freunde in Europa sollen Freunde bleiben. Ich will nicht mit ihnen über die Rückzahlung von öffentlichen Krediten und die Zinskonditionen für diese Kredite diskutieren müssen, sondern ich will mit ihnen in gutnachbarschaftlicher Beziehung weiterleben, statt als deutscher Steuerzahler ihr Gläubiger zu werden.
Diejenigen, die den Kurs einer Vergemeinschaftung der Schulden fahren, nehmen für sich in Anspruch, die besseren Europäer zu sein. Sie versuchen, diejenigen, die einen anderen Weg nach Europa suchen als den, auf den sich die Politik eingelassen hat, in die antieuropäische oder gar nationalistische Ecke zu drängen.
Das ist eine ziemlich billige Masche, ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver von der eigenen Konzeptions- und Ratlosigkeit.
Ich glaube, niemand erhofft sich das vereinte Europa so sehr wie wir Deutschen. Die Realität sieht aber leider so aus, dass die anderen Länder keine so starke Bindung mit uns suchen wie wir mit ihnen.
Wenn Sie mir eine etwas überzogene, aber in ihrem Kern meines Erachtens zutreffende Karikatur erlauben wollen: Das ist wie bei einem Paar, bei dem der eine liebt und heiraten will, und der andere hauptsächlich an das Geld des Partners heranmöchte, am liebsten noch, bevor der Ehevertrag geschlossen wird.
Was würde die Idee der Vereinigten Staaten von Europa konkret und in der Umsetzung bedeuten?
Sie würde bedeuten, dass man eine neue Ebene des Staates schafft: mit einer echten europäischen Regierung, einem wesentlich höheren Budget, eigenen Steuern, kontrolliert durch ein Parlament mit einer proportionalen Repräsentanz aller Völker Europas - eine Machtzentrale, die keine getrennten Armeen mehr kennt.
Dazu mit einem Zweikammersystem, wie Joschka Fischer es vorgeschlagen hat, mit einem Parlament und einem Senat. Eine schöne Vision, die funktionieren könnte.
Aber: Man muss diesen Staat auch gründen. Und genau hier liegt für mich der entscheidende Punkt.
Ich halte es nicht für vertretbar, riesige Rettungsaktivitäten und Transfersysteme in Gang zu setzen, ohne dass nicht vorher von allen Mitgliedstaaten eine Art Versicherungsvertrag auf Gegenseitigkeit unterschrieben wird, indem sie den Bundesstaat gründen und die Armeen Europas vereinen und der nationalen Kontrolle entziehen. Ich betone: vorher, nicht nachher!
Ein Großteil des Meinungsstreits bezüglich der weiteren Entwicklung der Europäischen Union lässt sich auf die einfache Frage herunterbrechen, ob wir unser Geld vor oder nach der Unterschrift unter den Ehevertrag in die Gemeinschaftskasse geben wollen.
Amerika schuf einen Bundesstaat, in dem es heute sehr viele Transfers zwischen den Einzelstaaten gibt. Aber erst kam der Staat als gemeinsames Verteidigungsbündnis, und dann entstand allmählich im Laufe zweier Jahrhunderte der Zentralstaat mit fiskalischen Aufgaben, die den Einzelstaaten einen gewissen Versicherungsschutz bieten.
Wenn ein Einzelstaat wirtschaftlich absinkt, gibt es bundesstaatliche Ausgaben für die Autobahnen, Bundesbehörden und alle möglichen anderen Dinge. Und auch die Arbeitslosenversicherung bietet einen gewissen Schutz.
Auch für Europa wäre so etwas möglich, aber nur nachdem der gemeinsame Staat wirklich gegründet wurde - und keinen Moment eher.
Um im Bild zu bleiben: Zunächst muss der Ehevertrag unterschrieben werden, mit Leistungen und Gegenleistungen der einzelnen Partnerstaaten und der Zentralgewalt, mit festen Regeln für Hilfen, von denen ich einige wichtige beschrieben habe, auch mit einer klaren Regel für eine mögliche Scheidung, und erst dann kann gerettet und transferiert werden.
Das hört sich schön an, fast romantisch...
Ich mache mir keine Illusionen. Es wird noch sehr viel Wasser den Rhein hinunterfließen, bevor er keine Staatsgrenze mehr ist.
Dennoch braucht Europa das Leitbild eines im Endeffekt gemeinsamen Bundesstaates, damit die Richtung seiner Reformen klar bleibt, und es braucht das klare Verständnis, dass die Transferunion vorher nicht zu haben ist.
Die Welt ist voller Konflikte. Auch Europa wird wieder in solche Konflikte hineingezogen werden. Ich erwähne nur den Konflikt mit dem Iran, der vor zwei Jahren zu eskalieren und in einen Schlagabtausch zwischen dem Iran und Israel auszuarten drohte, der aus verschiedenen Gründen auch Konsequenzen für die deutsche Sicherheitslage gehabt hätte.
Eine atomare Bedrohung Europas aus dem Mittleren Osten oder sonst woher ist für den Rest dieses Jahrhunderts nicht auszuschließen. Gefahrenherde rund um Europa herum gibt es genug.
Man denke nur an die Ukraine, die die Europäische Union auf Druck der USA in einer ziemlich unüberlegten Aktion an sich koppeln und aus der russischen Einflusssphäre herausholen wollte.
Wenn es kritisch wird, wird Europa auch politisch zusammenwachsen, so wie Staatenbündnisse eigentlich immer aus militärischer Bedrohung entstanden sind. Die Vorstellung indes, dass wir in einer Gefahrensituation erst mit Frankreich über die Struktur des neuen Staates verhandeln müssen, bevor es zustimmt, auch uns mit seiner Force de Frappe - also seiner Atomstreitmacht - zu schützen, erfüllt mich mit Sorge.
Solche Verhandlungen sollten wir lieber bald führen und nicht erst, wenn eine militärische Notsituation eingetreten ist.
Die Neudefinition, ja dramatische Kehrtwende der deutschen Position bei europäischen Militäreinsätzen, die Anfang des Jahres 2014 vom deutschen Bundespräsidenten in einer viel beachteten Rede in München, die sicherlich mit der Bundesregierung abgestimmt war, vorgetragen wurde, hatte mich anfangs mit einer gewissen Sorge erfüllt.
Denn ich hielt es immer für ratsam, sich nicht in die französischen oder britischen Eskapaden mit hineinziehen zu lassen.
Die Perspektive eines europäischen Staates freilich, der auch ein gemeinsames Verteidigungsbündnis ist, lässt mich in dieser Neudefinition einen tieferen Sinn erblicken.
Stichwort Frankreich: Wie schätzen Sie dessen zukünftige Entwicklung ein?
Frankreich wird von den Kapitalmärkten immer noch als sicheres Land angesehen. Das liegt aber nicht an der Wirtschaft, sondern das liegt an seiner politischen Macht und der Erwartung, dass Frankreich alle Unterstützungsaktionen, die man sich nur vorstellen kann, wird organisieren können - bis hin zu Eurobonds.
Die französische Wirtschaft ist ziemlich lädiert. Eine Autofabrik nach der anderen macht zu. Die französische Deindustrialisierung hat beängstigende Ausmaße angenommen. Der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung ist im freien Fall begriffen und liegt bei nur noch 10 Prozent, während dieser Anteil in Deutschland stabil bei etwa 22 Prozent liegt.
Frankreich hat die Arbeitsplätze, die in der Industrie verloren gingen, im Staatssektor neu geschaffen. Aber dort wird nichts produziert, das sich für den internationalen Handel eignet und Devisen für den Kauf von Importen verdient.
Also auf dem Weg in griechische Verhältnisse?
Nein, davon kann keine Rede sein. Aber gesund ist die Entwicklung keineswegs. Die Staatsquote ist heute die zweithöchste aller OECD-Länder nach Dänemark. Dänemark leidet unter einer ähnlichen Deindustrialisierung und hat ebenfalls viele Arbeitnehmer in den Staatssektor geschoben.
In Frankreich und Dänemark sind anteilig doppelt so viele Leute im Staatssektor beschäftigt wie in Deutschland. Das wird dann paradoxerweise von einigen noch als Erfolgsmodell angesehen.
Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Weder Dänemark noch Frankreich machen derzeit einen gesunden Eindruck.
Aber während Dänemark im Prinzip die Möglichkeit hat, sich vom Wechselkursverbund mit dem Euro zu lösen, ist Frankreich im Euroverbund gefangen wie die Südländer und kann seine Wettbewerbsfähigkeit allenfalls durch einen mühsamen Prozess der Preis- und Lohnsenkung wieder verbessern.
Frankreich müsste nach einer Schätzung der volkswirtschaftlichen Abteilung von Goldman Sachs um circa 20 Prozent real abwerten, also im Verhältnis zum Durchschnitt der Eurozone um 20 Prozent deflationieren. Wie sollen die Franzosen das jemals hinkriegen? Wenn es gelänge, wäre es das Analogon der fortwährenden Abwertung des Franc in früheren Jahrzehnten.
Frankreich wird das aber nicht schaffen. Das heißt, das Land wird auch weiterhin Hilfe brauchen, nicht notwendigerweise direkt, sondern indirekt wie heute, indem die Kreditkunden der französischen Banken und die Abnehmer der französischen Waren in Südeuropa mit Rettungsgeldern aus der Druckerpresse oder von den Rettungsfonds geschützt werden.
Vielleicht wird das Land aber auch direkte Hilfen verlangen. Die Eurobonds habe ich erwähnt. Auch Transfers könnte Frankreich verlangen. Schon jetzt wird vom französischen Finanzminister gefordert, dass die Lasten aus der Arbeitslosigkeit mithilfe einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung umgelegt werden sollen.
Das wäre ein solcher unmittelbarer Geldtransfer nach Frankreich. Weitere Forderungen dieser Art werden mehr und mehr kommen, das ist meine feste Überzeugung. Das heißt, die Transferunion, die an vielen Orten im Süden Europas gerade vorbereitet wird, wird perspektivisch Frankreich als Empfängerland einschließen.
Aber dann haben wir schon 60 Prozent der Bevölkerung der Eurozone, die in Empfängerländern sitzen. Wie soll das funktionieren? Es kann nicht funktionieren.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:
"Gefangen im Euro" von Hans-Werner Sinn. Redline Verlag. ISBN 978-3-86881-525-2, 200 Seiten, 9,99 Euro.
Tja. Kommen wir eines fernen Tages zu den Vereinigten Staaten von Europa oder nicht? Mein Traum ist es. Aber auf welchem Weg? Für meine Generation und für viele Deutsche ist das vereinte Europa ein Ziel, für das es lohnt zu arbeiten.
Das hat wohl mit unserer Vergangenheit zu tun, mit dem Wunsch, Teile unserer Geschichte abzuschütteln. Das kann man negativ sehen. Ich aber sehe es positiv, nämlich als Ergebnis eines schwierigen historischen Erkenntnisprozesses, an dessen Ende wir begriffen haben, dass es allein nicht geht.
In Europa schwärmen heute viele Politiker aus Krisenländern von einer Fiskalunion wie im amerikanischen Bundesstaat, mit einem gemeinsamen Budget für bundesstaatliche Aufgaben, um so ihre Finanzprobleme zu vergemeinschaften.
Ich verstehe ihren Traum, aber man muss ihnen entgegenhalten, dass eine solche Fiskalunion nicht vor, sondern nur nach der Gründung eines europäischen Bundesstaates kommen kann.
Ein Bundesstaat ist eine Versicherung auf Gegenseitigkeit. Nur er kann den heutigen Geberländern die Gewissheit geben, dass sie als Gegenleistung für ihre Hilfen auch ein wenig Schutz für ihre Kinder und Kindeskinder erhalten, sollten diese einmal in Schwierigkeiten geraten.
Sie hängen sehr an Europa...
Ja, in der Tat. Als junger Mensch habe ich an so manchem Ferienlager in Frankreich teilgenommen, die es nur deswegen gab und gibt, weil die deutsch-französische Verständigung gelungen ist. Meine Liebe zu dem Land und den Menschen ist dadurch gewachsen.
Ebenso verbindet mich viel mit einer Reihe anderer Länder in- und außerhalb Europas, so insbesondere mit Kanada, den USA, mit Finnland, Israel und Italien. Ich habe dort und auch in anderen Ländern viele Freunde und Bekannte.
Die Freizügigkeit, das Leben ohne sichtbare Staatsgrenzen, das meiner Generation erstmals in der jüngeren Geschichte ermöglicht wurde, der Ausgleich mit den Nachbarn und der Frieden, die Selbstverständlichkeit im Austausch über die Landesgrenzen hinweg sind unverzichtbare Errungenschaften und bleibende Postulate der deutschen Politik. Und genau darum geht es.
Die Freunde in Europa sollen Freunde bleiben. Ich will nicht mit ihnen über die Rückzahlung von öffentlichen Krediten und die Zinskonditionen für diese Kredite diskutieren müssen, sondern ich will mit ihnen in gutnachbarschaftlicher Beziehung weiterleben, statt als deutscher Steuerzahler ihr Gläubiger zu werden.
Diejenigen, die den Kurs einer Vergemeinschaftung der Schulden fahren, nehmen für sich in Anspruch, die besseren Europäer zu sein. Sie versuchen, diejenigen, die einen anderen Weg nach Europa suchen als den, auf den sich die Politik eingelassen hat, in die antieuropäische oder gar nationalistische Ecke zu drängen.
Das ist eine ziemlich billige Masche, ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver von der eigenen Konzeptions- und Ratlosigkeit.
Ich glaube, niemand erhofft sich das vereinte Europa so sehr wie wir Deutschen. Die Realität sieht aber leider so aus, dass die anderen Länder keine so starke Bindung mit uns suchen wie wir mit ihnen.
Wenn Sie mir eine etwas überzogene, aber in ihrem Kern meines Erachtens zutreffende Karikatur erlauben wollen: Das ist wie bei einem Paar, bei dem der eine liebt und heiraten will, und der andere hauptsächlich an das Geld des Partners heranmöchte, am liebsten noch, bevor der Ehevertrag geschlossen wird.
Was würde die Idee der Vereinigten Staaten von Europa konkret und in der Umsetzung bedeuten?
Sie würde bedeuten, dass man eine neue Ebene des Staates schafft: mit einer echten europäischen Regierung, einem wesentlich höheren Budget, eigenen Steuern, kontrolliert durch ein Parlament mit einer proportionalen Repräsentanz aller Völker Europas - eine Machtzentrale, die keine getrennten Armeen mehr kennt.
Dazu mit einem Zweikammersystem, wie Joschka Fischer es vorgeschlagen hat, mit einem Parlament und einem Senat. Eine schöne Vision, die funktionieren könnte.
Aber: Man muss diesen Staat auch gründen. Und genau hier liegt für mich der entscheidende Punkt.
Ich halte es nicht für vertretbar, riesige Rettungsaktivitäten und Transfersysteme in Gang zu setzen, ohne dass nicht vorher von allen Mitgliedstaaten eine Art Versicherungsvertrag auf Gegenseitigkeit unterschrieben wird, indem sie den Bundesstaat gründen und die Armeen Europas vereinen und der nationalen Kontrolle entziehen. Ich betone: vorher, nicht nachher!
Ein Großteil des Meinungsstreits bezüglich der weiteren Entwicklung der Europäischen Union lässt sich auf die einfache Frage herunterbrechen, ob wir unser Geld vor oder nach der Unterschrift unter den Ehevertrag in die Gemeinschaftskasse geben wollen.
Amerika schuf einen Bundesstaat, in dem es heute sehr viele Transfers zwischen den Einzelstaaten gibt. Aber erst kam der Staat als gemeinsames Verteidigungsbündnis, und dann entstand allmählich im Laufe zweier Jahrhunderte der Zentralstaat mit fiskalischen Aufgaben, die den Einzelstaaten einen gewissen Versicherungsschutz bieten.
Wenn ein Einzelstaat wirtschaftlich absinkt, gibt es bundesstaatliche Ausgaben für die Autobahnen, Bundesbehörden und alle möglichen anderen Dinge. Und auch die Arbeitslosenversicherung bietet einen gewissen Schutz.
Auch für Europa wäre so etwas möglich, aber nur nachdem der gemeinsame Staat wirklich gegründet wurde - und keinen Moment eher.
Um im Bild zu bleiben: Zunächst muss der Ehevertrag unterschrieben werden, mit Leistungen und Gegenleistungen der einzelnen Partnerstaaten und der Zentralgewalt, mit festen Regeln für Hilfen, von denen ich einige wichtige beschrieben habe, auch mit einer klaren Regel für eine mögliche Scheidung, und erst dann kann gerettet und transferiert werden.
Das hört sich schön an, fast romantisch...
Ich mache mir keine Illusionen. Es wird noch sehr viel Wasser den Rhein hinunterfließen, bevor er keine Staatsgrenze mehr ist.
Dennoch braucht Europa das Leitbild eines im Endeffekt gemeinsamen Bundesstaates, damit die Richtung seiner Reformen klar bleibt, und es braucht das klare Verständnis, dass die Transferunion vorher nicht zu haben ist.
Die Welt ist voller Konflikte. Auch Europa wird wieder in solche Konflikte hineingezogen werden. Ich erwähne nur den Konflikt mit dem Iran, der vor zwei Jahren zu eskalieren und in einen Schlagabtausch zwischen dem Iran und Israel auszuarten drohte, der aus verschiedenen Gründen auch Konsequenzen für die deutsche Sicherheitslage gehabt hätte.
Eine atomare Bedrohung Europas aus dem Mittleren Osten oder sonst woher ist für den Rest dieses Jahrhunderts nicht auszuschließen. Gefahrenherde rund um Europa herum gibt es genug.
Man denke nur an die Ukraine, die die Europäische Union auf Druck der USA in einer ziemlich unüberlegten Aktion an sich koppeln und aus der russischen Einflusssphäre herausholen wollte.
Wenn es kritisch wird, wird Europa auch politisch zusammenwachsen, so wie Staatenbündnisse eigentlich immer aus militärischer Bedrohung entstanden sind. Die Vorstellung indes, dass wir in einer Gefahrensituation erst mit Frankreich über die Struktur des neuen Staates verhandeln müssen, bevor es zustimmt, auch uns mit seiner Force de Frappe - also seiner Atomstreitmacht - zu schützen, erfüllt mich mit Sorge.
Solche Verhandlungen sollten wir lieber bald führen und nicht erst, wenn eine militärische Notsituation eingetreten ist.
Die Neudefinition, ja dramatische Kehrtwende der deutschen Position bei europäischen Militäreinsätzen, die Anfang des Jahres 2014 vom deutschen Bundespräsidenten in einer viel beachteten Rede in München, die sicherlich mit der Bundesregierung abgestimmt war, vorgetragen wurde, hatte mich anfangs mit einer gewissen Sorge erfüllt.
Denn ich hielt es immer für ratsam, sich nicht in die französischen oder britischen Eskapaden mit hineinziehen zu lassen.
Die Perspektive eines europäischen Staates freilich, der auch ein gemeinsames Verteidigungsbündnis ist, lässt mich in dieser Neudefinition einen tieferen Sinn erblicken.
Stichwort Frankreich: Wie schätzen Sie dessen zukünftige Entwicklung ein?
Frankreich wird von den Kapitalmärkten immer noch als sicheres Land angesehen. Das liegt aber nicht an der Wirtschaft, sondern das liegt an seiner politischen Macht und der Erwartung, dass Frankreich alle Unterstützungsaktionen, die man sich nur vorstellen kann, wird organisieren können - bis hin zu Eurobonds.
Die französische Wirtschaft ist ziemlich lädiert. Eine Autofabrik nach der anderen macht zu. Die französische Deindustrialisierung hat beängstigende Ausmaße angenommen. Der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung ist im freien Fall begriffen und liegt bei nur noch 10 Prozent, während dieser Anteil in Deutschland stabil bei etwa 22 Prozent liegt.
Frankreich hat die Arbeitsplätze, die in der Industrie verloren gingen, im Staatssektor neu geschaffen. Aber dort wird nichts produziert, das sich für den internationalen Handel eignet und Devisen für den Kauf von Importen verdient.
Also auf dem Weg in griechische Verhältnisse?
Nein, davon kann keine Rede sein. Aber gesund ist die Entwicklung keineswegs. Die Staatsquote ist heute die zweithöchste aller OECD-Länder nach Dänemark. Dänemark leidet unter einer ähnlichen Deindustrialisierung und hat ebenfalls viele Arbeitnehmer in den Staatssektor geschoben.
In Frankreich und Dänemark sind anteilig doppelt so viele Leute im Staatssektor beschäftigt wie in Deutschland. Das wird dann paradoxerweise von einigen noch als Erfolgsmodell angesehen.
Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Weder Dänemark noch Frankreich machen derzeit einen gesunden Eindruck.
Aber während Dänemark im Prinzip die Möglichkeit hat, sich vom Wechselkursverbund mit dem Euro zu lösen, ist Frankreich im Euroverbund gefangen wie die Südländer und kann seine Wettbewerbsfähigkeit allenfalls durch einen mühsamen Prozess der Preis- und Lohnsenkung wieder verbessern.
Frankreich müsste nach einer Schätzung der volkswirtschaftlichen Abteilung von Goldman Sachs um circa 20 Prozent real abwerten, also im Verhältnis zum Durchschnitt der Eurozone um 20 Prozent deflationieren. Wie sollen die Franzosen das jemals hinkriegen? Wenn es gelänge, wäre es das Analogon der fortwährenden Abwertung des Franc in früheren Jahrzehnten.
Frankreich wird das aber nicht schaffen. Das heißt, das Land wird auch weiterhin Hilfe brauchen, nicht notwendigerweise direkt, sondern indirekt wie heute, indem die Kreditkunden der französischen Banken und die Abnehmer der französischen Waren in Südeuropa mit Rettungsgeldern aus der Druckerpresse oder von den Rettungsfonds geschützt werden.
Vielleicht wird das Land aber auch direkte Hilfen verlangen. Die Eurobonds habe ich erwähnt. Auch Transfers könnte Frankreich verlangen. Schon jetzt wird vom französischen Finanzminister gefordert, dass die Lasten aus der Arbeitslosigkeit mithilfe einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung umgelegt werden sollen.
Das wäre ein solcher unmittelbarer Geldtransfer nach Frankreich. Weitere Forderungen dieser Art werden mehr und mehr kommen, das ist meine feste Überzeugung. Das heißt, die Transferunion, die an vielen Orten im Süden Europas gerade vorbereitet wird, wird perspektivisch Frankreich als Empfängerland einschließen.
Aber dann haben wir schon 60 Prozent der Bevölkerung der Eurozone, die in Empfängerländern sitzen. Wie soll das funktionieren? Es kann nicht funktionieren.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:
"Gefangen im Euro" von Hans-Werner Sinn. Redline Verlag. ISBN 978-3-86881-525-2, 200 Seiten, 9,99 Euro.