Aus gegebenem Anlass - der diesjährige Medizin-Nobelpreis geht nämlich an drei Neurowissenschaftler, die zum räumlichen Gedächtnis forschen. Diese Auszeichnung betont die Wichtigkeit des räumlichen Gedächtnisses für uns Menschen.
Oftmals stellen wir uns diese oder ähnliche Fragen im Alltag:
Wo ist eigentlich mein Auto? Wo ist der verdammte Schlüssel? Nehme ich heute die Bahn, das Fahrrad, das Auto oder den Bus zur Arbeit? Wo muss denn noch mal diese dumme Schraube rein, wieso sind manche Regale immer so kompliziert aufzubauen?
Gemeinsam ist ihnen dabei allen, dass unser räumliches Gedächtnis bei der Beantwortung dieser Fragen involviert ist. Jedoch umfasst das räumliche Gedächtnis noch weitaus mehr Fragestellungen und gehört nicht umsonst zu einem der größten neurowissenschaftlichen Forschungsgebiete.
Kognitive Karten
Schon seit den 1930er Jahren wird intensiv dazu geforscht. Tolman gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet des räumlichen Gedächtnisses. Er wurde vor allem durch seine Experimente mit Ratten im Labyrinth bekannt. Dabei mussten Ratten den Weg zu einem bestimmten Ziel - meistens Futter - durch ein Labyrinth finden. Nach mehreren Durchgängen, fanden die Ratten den Weg zum Ziel durch das Labyrinth immer schneller und machten dabei immer weniger Fehler, indem sie z.B. nicht mehr falsch abbogen.
Tolman schlussfolgerte daraus, dass die Ratten durch die vielen Durchgänge eine Art innere Karte vom Labyrinth gebildet haben müssen. Während die Ratten also im Labyrinth den richtigen Weg zum Ziel suchen, laufen sie in ihrem Gehirn eine bestimmte Route auf ihrer geistigen Karte, die sie bei vorherigen Versuchen vom Labyrinth gebildet haben, ab. Auch Kevin A. Lynch, ein bekannter US-amerikanischer Stadtplaner, kam durch seine Studien in Boston und Los Angeles zu der Annahme, dass Menschen eine innere Karte ihrer Umgebung bilden.
Dass Menschen kognitive Karten ihrer Umgebung bilden, lässt sich auch ganz einfach überprüfen. Wenn wir jemanden bitten würden den Weg von einer nahe liegenden Bushaltestelle zu seinem zu Hause zu zeichnen, wird es den Meisten wohl relativ leicht fallen eine grobe Skizze anzufertigen. Dabei würde jedoch auffallen, dass die Skizze die Umgebung natürlich nicht ganz so exakt abbildet, wie es eine Karte von beispielsweise Google Maps täte.
Wir tendieren also dazu, unsere Umgebung vereinfacht darzustellen und gewisse Verzerrungsfehler zu begehen. Kreuzungen werden rechtwinkliger, Formen symmetrischer, Linien horizontaler oder vertikaler und bekannte Orte detailreicher dargestellt.
Ein weiterer Hinweis ist auch, dass wir uns generell besser in rechtwinkligen Wegenetzen zurecht finden als in schiefwinkligen. Wer also einmal verstanden hat, wie das Straßennetz in New York aufgebaut ist, wird weniger Probleme haben ein gesuchtes Ziel zu finden. Ein Tourist in Paris oder London, wo die Wegenetze nicht rechtwinklig aufgebaut sind, braucht dagegen deutlich länger, sich zu orientieren.
Bienen und Tänze
Jedoch sind Tolman und Lynch nicht die Einzigen, die zum räumlichen Gedächtnis geforscht haben. Karl von Frisch hat in den 1960er Jahren das Verhalten von Bienen beobachtet und einen anderen Aspekt des räumlichen Gedächtnisses hervorgebracht. Sobald Bienen eine neue Nahrungsquelle gefunden haben, fliegen sie zurück zum Bienenstock und teilen die Neuigkeiten mit ihren Bienenkolleginnen.
Dabei stellen sie die Entfernung zur neu gefundenen Nahrungsquelle über Tänze dar. Ein runder Tanz bedeutet, dass die Nahrungsquelle weniger als 100m entfernt ist. Beträgt die Entfernung mehr als 100m, wird eine Acht getanzt. Somit geht die neu gewonnene (räumliche) Information nicht verloren und die anderen Bienen erhalten ebenfalls die Chance die Nahrungsquelle zu finden.
Orientierung im Raum
Menschen verwenden zwar keine Tänze, um räumliche Informationen mit Mitmenschen zu teilen, nutzen aber andere Wissensarten, um sich im Raum zu orientieren. Zu diesen Wissensarten nach Thorndike & Hayes-Roth (1982) gehören
1. das Landmarkenwissen (landmark knowledge), dabei werden Informationen über bestimmte Eigenschaften der Orte gespeichert, also beispielsweise Sehenswürdigkeiten oder sonstige markante Orientierungspunkte,
2. das Routenkartenwissen (route-road knowledge), welches das Wissen über bestimmte Wege, die von einem Ort zum anderen führen, beschreibt und last but not least
3. das Übersichtswissen (survey knowledge), welches uns ermöglicht Distanzen zwischen Orten im zweidimensionalen Raum zu schätzen. Werden Personen gefragt, ob bestimmte Orte auf einer Karte vorhanden waren, dann ist die Antwortzeit kürzer für Städte, die eine geringere Routendistanz zueinander haben, als für solche mit einer kürzeren Euklidischen Distanz (Übersichtswissen).
Zudem wird das Routenwissen auch höher gewichtet, wenn Personen angeben sollen, welcher Ort näher an einem anderen liegt. Oftmals wird dann der Ort angegeben, der eine geringere Routendistanz hat, das Übersichtswissen wird dabei vernachlässigt. Das zeigt, dass wir die Distanz zwischen Orten eher über die Wegdistanz als über die direkte Fluglinie schätzen.
Wie können wir uns Wege merken und wo liegt eigentlich unser räumliches Gedächtnis?
Dazu machte Maviel (2004) ein interessantes Experiment. Der Versuchsaufbau besteht aus einem Wasserbecken, in dessen Mitte sich eine kleine Plattform befindet, die jedoch durch die trübe Flüssigkeit im Becken nicht sichtbar ist. In dieses Wasserbecken setzte Maviel Ratten, die erst einmal ziellos durch das Becken geschwommen sind bis sie durch Zufall die „rettende" Plattform gefunden haben. Nach wenigen Versuchsdurchgängen haben sich die Ratten gemerkt, wo sich die Plattform befindet und schwimmen bei jedem neuen Durchgang direkt dorthin.
Jedoch wurde nach dem ersten Übungstag der Hippocampus der Ratten durch das lokale Anästhetikum Lidocain deaktiviert. Es zeigte sich, dass die Ratten mit dem deaktivierten Hippocampus den Weg zur Plattform nicht mehr erinnerten und umher schwammen, als seien sie zum ersten Mal ins Becken gesetzt worden. Das Ergebnis lässt darauf schließen, dass der Hippocampus mit der räumlichen Orientierung zu tun haben muss.
Was ist denn überhaupt der Hippocampus?
Der Hippocampus ist eine der evolutionär ältesten Gehirnstrukturen und hauptsächlich dafür bekannt, Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis zu überführen, dieser Prozess wird auch als Konsolidierung bezeichnet. Der Hippocampus hat zudem die Form eines Seepferdchens und befindet sich in den beiden Temporallappen des Gehirns.
Der Name Hippocampus kommt ursprünglich aus dem Griechischen ἱππόκαμπος (=hippocampos) und besteht aus den beiden Wortteilen ἵππος (=hippos) für „Pferd" und κάμπος (=kampos) für „Monster". John O'Keefe hat viel zum Hippocampus geforscht - auch unter anderem im Zusammenhang mit der Alzheimer-Krankheit.
Taxifahrer in London
Ausgerechnet diese Gehirnstruktur ist bei Taxifahrern besonders ausgeprägt. Forscher vom University College London - dort arbeitet auch unter anderem John O'Keefe - konnten zeigen, dass Taxifahrer in London im Vergleich zu anderen Versuchspersonen (also Nicht-Taxifahrer) einen deutlich größeren Hippocampus haben. Doch wieso ausgerechnet Taxifahrer in London?
Dazu sollte man wissen, dass angehende Taxifahrer in London sehr hohen Anforderungen ausgesetzt sind, um überhaupt die Taxifahrerlizenz erwerben zu können. Angehende Taxifahrer in London haben ein weltweit einmaliges Auswahlverfahren zu durchlaufen, welches ein intensives Training von zwei bis vier Jahren erfordert.
In diesem Zeitraum erwerben die Bewerber das sogenannte „the Knowledge", welches einen zu erlernenden Kartenausschnitt von 6 Meilen (ca. 9,6 km) Radius um den Charing Cross Bahnhof in London umfasst. Dieses Gebiet beinhaltet circa 25.000 Straßen und Tausende „Places of Interest". Die anschließende Prüfung besteht aus verschiedenen, zu durchlaufenden Assessment Centern durch das Public Carriage Office.
In mehreren verschiedenen Studien zu Londoner Taxifahrern konnte die Londoner Forschergruppe um Eleanor Maguire zeigen, dass es Menschen generell möglich ist ein großes und komplexes Stadtgebiet zu erlernen und sich darin zurecht zu finden.
Beim Erinnern und Ausführen von Orientierungsaufgaben ist vor allem der rechte Hippocampus aktiv. Dies konnte Maguire mit ihren Kollegen (1997) in einer Studie bestätigen, bei der sie Londoner Taxifahrer die Route von einem Ort zum anderen in London beschreiben ließ, während ihre Gehirnaktivität über eine funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) gemessen wurde.
Dabei zeigte sich erhöhte Aktivität im rechten Hippocampus. Eine andere Studie von Maguire und Kollegen (2000) zeigte, dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Londoner Taxifahrern größer im Vergleich zu Kontrollpersonen (= Nicht-Taxifahrer) ist, das Volumen wird größer mit steigender Fahrerfahrung.
Dies bedeutet, je länger Taxifahrer in London ihren Beruf ausüben, desto größer ist der posteriore Hippocampus ausgeprägt. Sechs Jahre später wurde eine weitere Studie von Maguire, Woollett & Spiers (2006) veröffentlicht, in der sie Taxifahrer in London mit Busfahrern in London bei verschiedenen Aufgaben, die das räumliche Gedächtnis betreffen, verglichen. Das ist daher interessant, da Busfahrer wie Taxifahrer in London gewisse Ähnlichkeiten bezüglich des Stresserlebens aufweisen.
Die teilnehmenden Bus- und Taxifahrer unterschieden sich zudem nicht hinsichtlich ihrer Fahrerfahrung, ihres Alters, ihrer Händigkeit (rechts- oder linkshändig), ihres Alters, mit dem sie die Schule verlassen haben und ihrer Intelligenz. Sowohl die Bus- als auch Taxifahrer mussten verschiedene Tests durchlaufen während ein fMRT ihrer Gehirne gemacht wurde.
Die Ergebnisse zeigen, dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Taxifahrer verglichen mit Busfahrern größer ist. Jedoch ist das Volumen des anterioren Hippocampus bei Taxifahrern geringer als bei Busfahrern.
Zusammengefasst bedeutet dies Ergebnis, dass Londoner Taxifahrer besser als ihre Busfahrerkollegen waren Londoner Sehenswürdigkeiten zu erkennen und Distanzen richtig einzuschätzen, jedoch schlechter darin neue räumliche Informationen aufzunehmen.
Um die Ergebnisse überspitzt auszudrücken, sind Londoner Taxifahrer gut darin, alles was mit Londons Sehenswürdigkeiten und Straßen zu tun hat, schnell und richtig zu erkennen. Ginge es jedoch darum, sich in einer neuen Stadt zu orientieren, wären Londoner Taxifahrer schlechter als Londoner Busfahrer. Daher wäre es als Londoner Taxifahrer wohl nicht empfehlenswert in einer anderen Stadt außer London als Taxifahrer tätig zu werden.
Interessant ist zudem, dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Taxifahrern mit steigender Anzahl an Berufsjahren zwar wächst, bei Busfahrern jedoch das Volumen sowohl des anterioren als auch des posterioren Hippocampus gleich bleibt. Dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Londoner Taxifahrern ansteigt, kann auch mit dem Phänomen der neuronalen Plastizität erklärt werden.
Dadurch, dass Taxifahrer dieses spezifische Hirnareal intensiver und häufiger nutzen als andere Menschen, werden die Verbindungen zu und von diesem Areal verstärkt und das Volumen steigt an. Eleanor Maguire schlussfolgerte daraus, dass der Hippocampus seine Struktur verändert, um die enorme Navigationserfahrung aufnehmen und verarbeiten zu können.
Eine andere Erklärung dazu lautet, dass diejenigen, die sich dazu entschließen Taxifahrer zu werden, bereits ein sehr guten Orientierungssinn besitzen und das Gehirn dementsprechend vorher schon so aussah. Jedoch spricht eine Menge dafür, dass die Strukturveränderungen erfahrungs- und funktionsbedingt sind und nicht vorher vorhanden waren.
Indirekt konnte diese Annahme auch durch ein Forscherteam um Bogdan Draganski von der Universität Regensburg bestätigt werden. Diese scannten für eine Studie Gehirne von Medizinstudenten einmal vor der „heißen" Lernphase fürs Physikum und einmal nach der Prüfung. Der Vergleich der Gehirnscans zeigt, dass sich verschiedene Gehirnstrukturen (auch der Hippocampus) sich während des monatelangen Lernens verändert bzw. vergrößert hatten.
Vergesslichkeit und der Hippocampus
So wie das Volumen des Hippocampus anwachsen kann, so kann es auch kleiner werden. Bekannt ist, dass der Hippocampus bei Patienten mit bestimmten psychischen Erkrankungen kleiner ist als im Vergleich zu gesunden Personen. Zu diesen Erkrankungen gehören unter anderem Depression, Posttraumatische Belastungsstörung und Angststörungen, also vor allem Störungen, in denen das subjektive Stresserleben besonders erhöht ist. Chronischer Stress führt also auch zu einer Verkleinerung des Hippocampus' und somit zu Vergesslichkeit.
Vergessen hat viele Gründe. Es kann einerseits eine Art Selbstschutz bei traumatischen Erlebnissen sein. Andererseits kann es durch die Speicherung neuer Informationen im Gedächtnis, die alte und ähnliche Gedächtnisinhalte „überschreiben" bedingt sein.
Doch auch geistige Vernachlässigung könnte ein möglicher Grund für die Verkleinerung des Hippocampus' und Vergesslichkeit sein. Heutzutage verwenden wir immer mehr technische Errungenschaften, um uns Dinge zu merken oder an Orte zu gelangen. Früher konnte ich z.B. sämtliche Telefonnummern und Adressen meiner Freunde auswendig. Wenn ich den Weg zu einem Ort nicht kannte, habe ich mir den Stadtplan genommen und mich damit orientiert.
Heute speichere ich alle Nummern und Adressen im Handy ab und wenn ich mal den Weg nicht weiß, nutze ich das Navigationssystem oder die App auf meinem Handy. Diese technischen Funktionen sind einerseits sehr hilfreich und erleichtern uns den Alltag, andererseits habe ich oft das Gefühl, dass wir in bestimmten Bereichen „verdummen". Ich kann mir heute Nummern schlechter merken, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich das Auswendiglernen von Zahlen nicht mehr übe.
Sobald bestimmte Strukturen und Verknüpfungen im Gehirn nicht mehr regelmäßig genutzt werden, nehmen die damit verbundenen Funktionen ab. Konnte ich mir also früher Zahlen gut merken, weil ich immer die Telefonnummern meiner Freunde auswendig gelernt habe, kann ich dies heute nicht mehr so gut, weil die neuronalen Verknüpfungen für das Auswendiglernen von Zahlen mit der Zeit vernachlässigt wurden.
Doch keine Angst diese Fähigkeiten sind durch Üben wieder lernbar.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das räumliche Gedächtnis ein spannendes Forschungsgebiet mit sehr vielen unterschiedlichen Aspekten ist. Die wichtigste Gehirnstruktur für unser räumliches Gedächtnis ist dabei der Hippocampus. Menschen (z.B. Taxifahrer) mit einem besonders gut ausgeprägten räumlichen Wissen und einer sehr guten Orientierung, haben dabei oftmals im Schnitt einen größeren Hippocampus als andere.
Dies lässt darauf schließen, dass das Gehirn sich den Bedürfnissen unseres Alltags anpasst.
Menschen und Tiere orientieren sich, indem sie sich von unbekannten Orten eine geistige Karte bilden. Orte, an denen wir schon einmal waren, erkennen wir normalerweise wieder und finden uns dort größtenteils zurecht. Auch Gefahren werden mit bestimmten Orten assoziiert und wiedererkannt, dadurch können wir bestimmte Orte vermeiden, um den Gefahren zu entgehen.
Gehirntraining möglich? - Ja!
Noch eine gute Nachricht zum Schluss: Wir können unser räumliches Gedächtnis trainieren! Das Center for Talentes Youth der Johns Hopkins Universität hat passend zu diesem Thema eine Testbatterie entwickelt, mit der sich räumliche Fähigkeiten erfassen und trainieren lassen.
Zudem hilft es, öfter mal das Navigationsgerät oder die Navi-App auf dem Handy ausgeschaltet lassen. Eine Hilfe könnte sein, sich den Weg bevor man losgeht auf der Karte anzuschauen und einzuprägen, während man jedoch auf dem Weg zum Ziel ist, nicht mehr die alltäglichen Navigationshilfen zu nutzen.
Ein weiterer Vorteil an dieser Methode ist, dass wir die Umgebung um uns herum ganz anders wahrnehmen werden
Oftmals stellen wir uns diese oder ähnliche Fragen im Alltag:
Wo ist eigentlich mein Auto? Wo ist der verdammte Schlüssel? Nehme ich heute die Bahn, das Fahrrad, das Auto oder den Bus zur Arbeit? Wo muss denn noch mal diese dumme Schraube rein, wieso sind manche Regale immer so kompliziert aufzubauen?
Gemeinsam ist ihnen dabei allen, dass unser räumliches Gedächtnis bei der Beantwortung dieser Fragen involviert ist. Jedoch umfasst das räumliche Gedächtnis noch weitaus mehr Fragestellungen und gehört nicht umsonst zu einem der größten neurowissenschaftlichen Forschungsgebiete.
Kognitive Karten
Schon seit den 1930er Jahren wird intensiv dazu geforscht. Tolman gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet des räumlichen Gedächtnisses. Er wurde vor allem durch seine Experimente mit Ratten im Labyrinth bekannt. Dabei mussten Ratten den Weg zu einem bestimmten Ziel - meistens Futter - durch ein Labyrinth finden. Nach mehreren Durchgängen, fanden die Ratten den Weg zum Ziel durch das Labyrinth immer schneller und machten dabei immer weniger Fehler, indem sie z.B. nicht mehr falsch abbogen.
Tolman schlussfolgerte daraus, dass die Ratten durch die vielen Durchgänge eine Art innere Karte vom Labyrinth gebildet haben müssen. Während die Ratten also im Labyrinth den richtigen Weg zum Ziel suchen, laufen sie in ihrem Gehirn eine bestimmte Route auf ihrer geistigen Karte, die sie bei vorherigen Versuchen vom Labyrinth gebildet haben, ab. Auch Kevin A. Lynch, ein bekannter US-amerikanischer Stadtplaner, kam durch seine Studien in Boston und Los Angeles zu der Annahme, dass Menschen eine innere Karte ihrer Umgebung bilden.
Dass Menschen kognitive Karten ihrer Umgebung bilden, lässt sich auch ganz einfach überprüfen. Wenn wir jemanden bitten würden den Weg von einer nahe liegenden Bushaltestelle zu seinem zu Hause zu zeichnen, wird es den Meisten wohl relativ leicht fallen eine grobe Skizze anzufertigen. Dabei würde jedoch auffallen, dass die Skizze die Umgebung natürlich nicht ganz so exakt abbildet, wie es eine Karte von beispielsweise Google Maps täte.
Wir tendieren also dazu, unsere Umgebung vereinfacht darzustellen und gewisse Verzerrungsfehler zu begehen. Kreuzungen werden rechtwinkliger, Formen symmetrischer, Linien horizontaler oder vertikaler und bekannte Orte detailreicher dargestellt.
Ein weiterer Hinweis ist auch, dass wir uns generell besser in rechtwinkligen Wegenetzen zurecht finden als in schiefwinkligen. Wer also einmal verstanden hat, wie das Straßennetz in New York aufgebaut ist, wird weniger Probleme haben ein gesuchtes Ziel zu finden. Ein Tourist in Paris oder London, wo die Wegenetze nicht rechtwinklig aufgebaut sind, braucht dagegen deutlich länger, sich zu orientieren.
Bienen und Tänze
Jedoch sind Tolman und Lynch nicht die Einzigen, die zum räumlichen Gedächtnis geforscht haben. Karl von Frisch hat in den 1960er Jahren das Verhalten von Bienen beobachtet und einen anderen Aspekt des räumlichen Gedächtnisses hervorgebracht. Sobald Bienen eine neue Nahrungsquelle gefunden haben, fliegen sie zurück zum Bienenstock und teilen die Neuigkeiten mit ihren Bienenkolleginnen.
Dabei stellen sie die Entfernung zur neu gefundenen Nahrungsquelle über Tänze dar. Ein runder Tanz bedeutet, dass die Nahrungsquelle weniger als 100m entfernt ist. Beträgt die Entfernung mehr als 100m, wird eine Acht getanzt. Somit geht die neu gewonnene (räumliche) Information nicht verloren und die anderen Bienen erhalten ebenfalls die Chance die Nahrungsquelle zu finden.
Orientierung im Raum
Menschen verwenden zwar keine Tänze, um räumliche Informationen mit Mitmenschen zu teilen, nutzen aber andere Wissensarten, um sich im Raum zu orientieren. Zu diesen Wissensarten nach Thorndike & Hayes-Roth (1982) gehören
1. das Landmarkenwissen (landmark knowledge), dabei werden Informationen über bestimmte Eigenschaften der Orte gespeichert, also beispielsweise Sehenswürdigkeiten oder sonstige markante Orientierungspunkte,
2. das Routenkartenwissen (route-road knowledge), welches das Wissen über bestimmte Wege, die von einem Ort zum anderen führen, beschreibt und last but not least
3. das Übersichtswissen (survey knowledge), welches uns ermöglicht Distanzen zwischen Orten im zweidimensionalen Raum zu schätzen. Werden Personen gefragt, ob bestimmte Orte auf einer Karte vorhanden waren, dann ist die Antwortzeit kürzer für Städte, die eine geringere Routendistanz zueinander haben, als für solche mit einer kürzeren Euklidischen Distanz (Übersichtswissen).
Zudem wird das Routenwissen auch höher gewichtet, wenn Personen angeben sollen, welcher Ort näher an einem anderen liegt. Oftmals wird dann der Ort angegeben, der eine geringere Routendistanz hat, das Übersichtswissen wird dabei vernachlässigt. Das zeigt, dass wir die Distanz zwischen Orten eher über die Wegdistanz als über die direkte Fluglinie schätzen.
Wie können wir uns Wege merken und wo liegt eigentlich unser räumliches Gedächtnis?
Dazu machte Maviel (2004) ein interessantes Experiment. Der Versuchsaufbau besteht aus einem Wasserbecken, in dessen Mitte sich eine kleine Plattform befindet, die jedoch durch die trübe Flüssigkeit im Becken nicht sichtbar ist. In dieses Wasserbecken setzte Maviel Ratten, die erst einmal ziellos durch das Becken geschwommen sind bis sie durch Zufall die „rettende" Plattform gefunden haben. Nach wenigen Versuchsdurchgängen haben sich die Ratten gemerkt, wo sich die Plattform befindet und schwimmen bei jedem neuen Durchgang direkt dorthin.
Jedoch wurde nach dem ersten Übungstag der Hippocampus der Ratten durch das lokale Anästhetikum Lidocain deaktiviert. Es zeigte sich, dass die Ratten mit dem deaktivierten Hippocampus den Weg zur Plattform nicht mehr erinnerten und umher schwammen, als seien sie zum ersten Mal ins Becken gesetzt worden. Das Ergebnis lässt darauf schließen, dass der Hippocampus mit der räumlichen Orientierung zu tun haben muss.
Was ist denn überhaupt der Hippocampus?
Der Hippocampus ist eine der evolutionär ältesten Gehirnstrukturen und hauptsächlich dafür bekannt, Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis zu überführen, dieser Prozess wird auch als Konsolidierung bezeichnet. Der Hippocampus hat zudem die Form eines Seepferdchens und befindet sich in den beiden Temporallappen des Gehirns.
Der Name Hippocampus kommt ursprünglich aus dem Griechischen ἱππόκαμπος (=hippocampos) und besteht aus den beiden Wortteilen ἵππος (=hippos) für „Pferd" und κάμπος (=kampos) für „Monster". John O'Keefe hat viel zum Hippocampus geforscht - auch unter anderem im Zusammenhang mit der Alzheimer-Krankheit.
Taxifahrer in London
Ausgerechnet diese Gehirnstruktur ist bei Taxifahrern besonders ausgeprägt. Forscher vom University College London - dort arbeitet auch unter anderem John O'Keefe - konnten zeigen, dass Taxifahrer in London im Vergleich zu anderen Versuchspersonen (also Nicht-Taxifahrer) einen deutlich größeren Hippocampus haben. Doch wieso ausgerechnet Taxifahrer in London?
Dazu sollte man wissen, dass angehende Taxifahrer in London sehr hohen Anforderungen ausgesetzt sind, um überhaupt die Taxifahrerlizenz erwerben zu können. Angehende Taxifahrer in London haben ein weltweit einmaliges Auswahlverfahren zu durchlaufen, welches ein intensives Training von zwei bis vier Jahren erfordert.
In diesem Zeitraum erwerben die Bewerber das sogenannte „the Knowledge", welches einen zu erlernenden Kartenausschnitt von 6 Meilen (ca. 9,6 km) Radius um den Charing Cross Bahnhof in London umfasst. Dieses Gebiet beinhaltet circa 25.000 Straßen und Tausende „Places of Interest". Die anschließende Prüfung besteht aus verschiedenen, zu durchlaufenden Assessment Centern durch das Public Carriage Office.
In mehreren verschiedenen Studien zu Londoner Taxifahrern konnte die Londoner Forschergruppe um Eleanor Maguire zeigen, dass es Menschen generell möglich ist ein großes und komplexes Stadtgebiet zu erlernen und sich darin zurecht zu finden.
Beim Erinnern und Ausführen von Orientierungsaufgaben ist vor allem der rechte Hippocampus aktiv. Dies konnte Maguire mit ihren Kollegen (1997) in einer Studie bestätigen, bei der sie Londoner Taxifahrer die Route von einem Ort zum anderen in London beschreiben ließ, während ihre Gehirnaktivität über eine funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) gemessen wurde.
Dabei zeigte sich erhöhte Aktivität im rechten Hippocampus. Eine andere Studie von Maguire und Kollegen (2000) zeigte, dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Londoner Taxifahrern größer im Vergleich zu Kontrollpersonen (= Nicht-Taxifahrer) ist, das Volumen wird größer mit steigender Fahrerfahrung.
Dies bedeutet, je länger Taxifahrer in London ihren Beruf ausüben, desto größer ist der posteriore Hippocampus ausgeprägt. Sechs Jahre später wurde eine weitere Studie von Maguire, Woollett & Spiers (2006) veröffentlicht, in der sie Taxifahrer in London mit Busfahrern in London bei verschiedenen Aufgaben, die das räumliche Gedächtnis betreffen, verglichen. Das ist daher interessant, da Busfahrer wie Taxifahrer in London gewisse Ähnlichkeiten bezüglich des Stresserlebens aufweisen.
Die teilnehmenden Bus- und Taxifahrer unterschieden sich zudem nicht hinsichtlich ihrer Fahrerfahrung, ihres Alters, ihrer Händigkeit (rechts- oder linkshändig), ihres Alters, mit dem sie die Schule verlassen haben und ihrer Intelligenz. Sowohl die Bus- als auch Taxifahrer mussten verschiedene Tests durchlaufen während ein fMRT ihrer Gehirne gemacht wurde.
Die Ergebnisse zeigen, dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Taxifahrer verglichen mit Busfahrern größer ist. Jedoch ist das Volumen des anterioren Hippocampus bei Taxifahrern geringer als bei Busfahrern.
Zusammengefasst bedeutet dies Ergebnis, dass Londoner Taxifahrer besser als ihre Busfahrerkollegen waren Londoner Sehenswürdigkeiten zu erkennen und Distanzen richtig einzuschätzen, jedoch schlechter darin neue räumliche Informationen aufzunehmen.
Um die Ergebnisse überspitzt auszudrücken, sind Londoner Taxifahrer gut darin, alles was mit Londons Sehenswürdigkeiten und Straßen zu tun hat, schnell und richtig zu erkennen. Ginge es jedoch darum, sich in einer neuen Stadt zu orientieren, wären Londoner Taxifahrer schlechter als Londoner Busfahrer. Daher wäre es als Londoner Taxifahrer wohl nicht empfehlenswert in einer anderen Stadt außer London als Taxifahrer tätig zu werden.
Interessant ist zudem, dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Taxifahrern mit steigender Anzahl an Berufsjahren zwar wächst, bei Busfahrern jedoch das Volumen sowohl des anterioren als auch des posterioren Hippocampus gleich bleibt. Dass das Volumen des posterioren Hippocampus bei Londoner Taxifahrern ansteigt, kann auch mit dem Phänomen der neuronalen Plastizität erklärt werden.
Dadurch, dass Taxifahrer dieses spezifische Hirnareal intensiver und häufiger nutzen als andere Menschen, werden die Verbindungen zu und von diesem Areal verstärkt und das Volumen steigt an. Eleanor Maguire schlussfolgerte daraus, dass der Hippocampus seine Struktur verändert, um die enorme Navigationserfahrung aufnehmen und verarbeiten zu können.
Eine andere Erklärung dazu lautet, dass diejenigen, die sich dazu entschließen Taxifahrer zu werden, bereits ein sehr guten Orientierungssinn besitzen und das Gehirn dementsprechend vorher schon so aussah. Jedoch spricht eine Menge dafür, dass die Strukturveränderungen erfahrungs- und funktionsbedingt sind und nicht vorher vorhanden waren.
Indirekt konnte diese Annahme auch durch ein Forscherteam um Bogdan Draganski von der Universität Regensburg bestätigt werden. Diese scannten für eine Studie Gehirne von Medizinstudenten einmal vor der „heißen" Lernphase fürs Physikum und einmal nach der Prüfung. Der Vergleich der Gehirnscans zeigt, dass sich verschiedene Gehirnstrukturen (auch der Hippocampus) sich während des monatelangen Lernens verändert bzw. vergrößert hatten.
Vergesslichkeit und der Hippocampus
So wie das Volumen des Hippocampus anwachsen kann, so kann es auch kleiner werden. Bekannt ist, dass der Hippocampus bei Patienten mit bestimmten psychischen Erkrankungen kleiner ist als im Vergleich zu gesunden Personen. Zu diesen Erkrankungen gehören unter anderem Depression, Posttraumatische Belastungsstörung und Angststörungen, also vor allem Störungen, in denen das subjektive Stresserleben besonders erhöht ist. Chronischer Stress führt also auch zu einer Verkleinerung des Hippocampus' und somit zu Vergesslichkeit.
Vergessen hat viele Gründe. Es kann einerseits eine Art Selbstschutz bei traumatischen Erlebnissen sein. Andererseits kann es durch die Speicherung neuer Informationen im Gedächtnis, die alte und ähnliche Gedächtnisinhalte „überschreiben" bedingt sein.
Doch auch geistige Vernachlässigung könnte ein möglicher Grund für die Verkleinerung des Hippocampus' und Vergesslichkeit sein. Heutzutage verwenden wir immer mehr technische Errungenschaften, um uns Dinge zu merken oder an Orte zu gelangen. Früher konnte ich z.B. sämtliche Telefonnummern und Adressen meiner Freunde auswendig. Wenn ich den Weg zu einem Ort nicht kannte, habe ich mir den Stadtplan genommen und mich damit orientiert.
Heute speichere ich alle Nummern und Adressen im Handy ab und wenn ich mal den Weg nicht weiß, nutze ich das Navigationssystem oder die App auf meinem Handy. Diese technischen Funktionen sind einerseits sehr hilfreich und erleichtern uns den Alltag, andererseits habe ich oft das Gefühl, dass wir in bestimmten Bereichen „verdummen". Ich kann mir heute Nummern schlechter merken, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich das Auswendiglernen von Zahlen nicht mehr übe.
Sobald bestimmte Strukturen und Verknüpfungen im Gehirn nicht mehr regelmäßig genutzt werden, nehmen die damit verbundenen Funktionen ab. Konnte ich mir also früher Zahlen gut merken, weil ich immer die Telefonnummern meiner Freunde auswendig gelernt habe, kann ich dies heute nicht mehr so gut, weil die neuronalen Verknüpfungen für das Auswendiglernen von Zahlen mit der Zeit vernachlässigt wurden.
Doch keine Angst diese Fähigkeiten sind durch Üben wieder lernbar.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das räumliche Gedächtnis ein spannendes Forschungsgebiet mit sehr vielen unterschiedlichen Aspekten ist. Die wichtigste Gehirnstruktur für unser räumliches Gedächtnis ist dabei der Hippocampus. Menschen (z.B. Taxifahrer) mit einem besonders gut ausgeprägten räumlichen Wissen und einer sehr guten Orientierung, haben dabei oftmals im Schnitt einen größeren Hippocampus als andere.
Dies lässt darauf schließen, dass das Gehirn sich den Bedürfnissen unseres Alltags anpasst.
Menschen und Tiere orientieren sich, indem sie sich von unbekannten Orten eine geistige Karte bilden. Orte, an denen wir schon einmal waren, erkennen wir normalerweise wieder und finden uns dort größtenteils zurecht. Auch Gefahren werden mit bestimmten Orten assoziiert und wiedererkannt, dadurch können wir bestimmte Orte vermeiden, um den Gefahren zu entgehen.
Gehirntraining möglich? - Ja!
Noch eine gute Nachricht zum Schluss: Wir können unser räumliches Gedächtnis trainieren! Das Center for Talentes Youth der Johns Hopkins Universität hat passend zu diesem Thema eine Testbatterie entwickelt, mit der sich räumliche Fähigkeiten erfassen und trainieren lassen.
Zudem hilft es, öfter mal das Navigationsgerät oder die Navi-App auf dem Handy ausgeschaltet lassen. Eine Hilfe könnte sein, sich den Weg bevor man losgeht auf der Karte anzuschauen und einzuprägen, während man jedoch auf dem Weg zum Ziel ist, nicht mehr die alltäglichen Navigationshilfen zu nutzen.
Ein weiterer Vorteil an dieser Methode ist, dass wir die Umgebung um uns herum ganz anders wahrnehmen werden