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„Wir leben in einer Diktatur der Ökonomie" - Optimieren wir uns kaputt?

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Optimieren wir uns kaputt? Stressen wir uns zu sehr, weil wir denken, wir müssten immer weiter im Hamsterrad laufen? Hecheln wir und lassen uns ausbeuten, bis die Lebenskrise kommt, die Midlife-Crisis, der Burn-out?

„Wir haben die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben, doch in unserer Gesellschaft geht es nur noch ums Funktionieren“, sagt Martin Liebmann.

Er ist Familienvater, Unternehmer und „Lobbyist der Langsamkeit“. Liebmann ist im Vorstand vom „Verein zur Verzögerung der Zeit“, der an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt vor 24 Jahren gegründet wurde.

Eine seiner Thesen lautet: „Wir haben die Balance verloren und leben in einer Diktatur der Ökonomie.“

Das sind laut Liebmann einige Anzeichen für die „Diktatur der Ökonomie“:

1. Termin: Umarmung 16.15 Uhr:




umarmung

„Auch Familien werden immer stärker nach Terminkalender organisiert. Aber was ist mit Liebeskummer, einem Problem Ihres Kindes in der Schule oder wenn eine Freundschaft bröckelt? Das kann ich nicht takten. Das dauert so lange, bis es geklärt ist. Das ist eine emotionale Sache. Es geht um Geborgenheit und Zugehörigkeit. Ich kann nicht sagen: „Jetzt habe ich keine Zeit, Dich in den Arm zu nehmen. Aber von 16.15 Uhr bis 16:30 Uhr würde es passen.“

2. Zwickmühle Kind oder Chef?




kind weint

„Was machen Sie, wenn Ihr Kind beim Klettern vom Baum fällt und sich leicht verletzt hat? Im normalen Betrieb stehen Sie vor einer Zwickmühle. Die Arbeit ist wichtig, ich muss dringend etwas fertig machen. Kann ich wirklich weg vom Schreibtisch? Vielleicht ist die Verletzung gar nicht so schlimm? Das ist fatal. Die Kinder nehmen eine grausame Erfahrung mit: 'Papa muss arbeiten und Mama hat auch keine Zeit.' Die Arbeit gibt es morgen auch noch, der Schmerz des Kindes ist aber jetzt akut. Meine Kinder werfen mir heute noch vor, dass ich damals, als ich mein Geschäft aufgebaut habe, so viel vor dem PC saß. Und sie dachten oft, dass sie weniger wichtiger sind als meine Arbeit.“

3. Aussterbende Rituale:




tisch

„Wo wird denn wirklich noch gemeinsam gefrühstückt oder zu Mittag gegessen? Freunde aus Italien, die uns kürzlich besucht haben, waren völlig perplex, dass ich mittags nicht nach Hause komme, um mit meiner Familie zu essen. ‚Wie, du isst mittags nur schnell was und kommst nicht nach Hause? Hast du keine Mittagspause?’, haben die mich verwirrt gefragt.“

4. Sei effizient, du bist doch gar nicht krank!




effizienz

„Ein Bekannter, der bei einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet hat, war drei Tage krankgeschrieben. Die Firma sagte: ‚Sie sehen doch gar nicht so krank aus. Entweder wir ziehen den Krankenstand von Ihren Überstunden ab, oder Sie sind der nächste auf der Liste, der gekündigt wird.’ Das ist die Realität und das ist gar nicht lustig, aber es sind gesellschaftliche Prozesse, die im vollem Gange sind. Der Bekannte ist übrigens mutig gewesen und hat gekündigt. Das kann sich nicht jeder leisten. Das hätten aber auch viele nicht gemacht, weil sie glauben, dass wir immer funktionieren müssen. Und wenn du nicht funktionierst, bist du ganz schnell raus. Das muss der Chef nicht extra sagen. Das denken wir doch schon automatisch.“

5. Turbo-Abi und das Ende der Bummel-Studenten:




abitur turbo

„In der Schule geht es um die Effizienz des Unterrichts, nicht darum, dass die Kinder Lust auf Begegnungen mit der Welt bekommen und neugierig werden. Da geht es um möglichst viel Stoff in kurzer Zeit. Und an den Unis geht es weiter: Dort gibt es jetzt vollgestopfte Stundenpläne. Wer es nicht in der vorgegebenen Zeit schafft, fliegt. Ich selbst konnte während des Studiums noch in andere Bereiche reinschnuppern, heute bleibt kaum noch Zeit, nach rechts und links zu blicken.“

6. Angst vor der Familiengründung:




baby familie

„Die Entscheidung, eine Familie zu gründen, ist für junge Menschen eine schwierige Herausforderung geworden. Können wir uns das leisten? Schaffe ich das dann noch mit der Karriere? Das beschäftigt unsere Lebensentwürfe. Dabei ist es die schönste Erfahrung, Kinder zu haben. Doch wir haben Angst davor. Es ist grausam, was die Gesellschaft bewirkt. Aber die Wahrheit ist auch: Da ist kein einzelner böser Mensch, der uns dazu zwingt, effizient zu sein. Da ist niemand, der uns das vorschreibt und uns auslacht. Wir haben die Zweckrationalität doch schon kollektiv verinnerlicht. Wir verwechseln immer häufiger Wohlstand mit Glück.“

7. Kaum etwas ist wirklich zweckfrei:




skaterpark

„Es gibt kaum noch zweckfreie Orte, wo es nicht um Konsum geht, wo Menschen sich einfach hinsetzen, miteinander schnacken können, einfach da sind, um zusammenzukommen. In meiner Heimatstadt Reinfeld testete ich mit Freunden, wie unbekannte Menschen auf eine Frühstückseinladung reagierten. Wir hatten Stehtische aufgebaut, Kaffee gekocht. Brötchen standen bereit, Marmelade, Orangensaft. Wir haben alles schön gemacht. Aber es hat über eine Stunde gedauert, bis jemand die Einladung angenommen hat. ‚Ich habe keine Zeit’, war immer wieder die Antwort. Die Menschen konnten nicht glauben, dass wir nichts verkaufen wollten. Wenn Sie irgendwo von fremden Menschen eine Einladung bekommen, denken Sie, der kommt von einer Sekte, der will mir Heizdecken verkaufen oder einen Telefonvertrag andrehen. Mit welchen Augen gehen wir durch die Welt? Das ist doch traurig, oder? Oder schauen Sie sich die Plätze an, auf denen sich Jugendliche treffen. Die werden kritisch gesehen, weil dort – wie schlimm! – Geräusche entstehen. Die Plätze werden an den Rand gepackt, am besten raus aus den Zentren. Plätze, an denen sich Generationen zweckfrei treffen können, werden nach und nach abgeschafft.“

8. Feiern nur noch als Geschäft?




oktoberfest

„Ein Beispiel aus Sardinien. Dort verstehen es die Menschen noch, richtig schön gemeinsam zu feiern. Da bringt jeder mit, was er hat: Wein, Wasser, Käse, Wurst, Brot oder sogar ein gegrilltes Lamm. Dann wird der Platz schön gemacht, die Menschen unterhalten sich, singen, tanzen und lachen miteinander. Und was haben wir? Das Oktoberfest, Stadtfeste mit einer Saufbude neben der anderen, die durchgestylte Geburtstagsfeier im Erlebnispark. Da geht es nur noch um ein Geschäft. Es geht nicht um das gemeinsame Feiern. Es muss sich alles rechnen.“



Auch auf HuffingtonPost.de: Die 5 glücklichsten Länder der Welt


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