Frauen schlucken mehr Medikamente als Männer, das gilt vor allem für Psychopharmaka und Schmerzmittel. Sie nehmen 2,8-mal so häufig wie Männer Kopfwehtabletten und etwa doppelt so häufig Antidepressiva, Schlafmittel oder Arzneien gegen Gelenksschmerzen. Zwei von drei der Personen, die über längere Zeit Beruhigungsmittel einnehmen, sind Frauen.
Schon in den 1980er Jahren bemängelten feministische Forscherinnen, dass Frauen aus den großen Arzneimittelstudien ausgeschlossen waren, obwohl doch klar sein musste, dass aufgrund physiologischer Unterschiede Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken können.
Vor allem umfangreiche Studien zu Fragestellungen nach der Wirkung von Aspirin auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit, aber auch solche nach dem Zusammenhang zwischen Bluthochdruck, Cholesterin, Rauchen und koronarer Herzkrankheit oder dem Effekt von hohem Kaffeekonsum auf das Herzinfarktrisiko waren zwar mit Zigtausenden Männern, aber gänzlich ohne Frauen durchgeführt worden.
Gängige Mittel wie Valium wurden überhaupt nie in klinischen Tests an Frauen erprobt. Sogar in dem ersten Versuch, in dem nachgewiesen werden sollte, dass Östrogene vor Herzproblemen schützen, gab es ausschließlich männliche Probanden. So absurd das klingen mag, wirklich verwunderlich war das nicht.
In der Medizin galt der Mann - und zwar der weiße, junge Mann - als das Maß aller Dinge. 1977 hatte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration FDA überhaupt verfügt, Frauen im gebärfähigen Alter aus Arzneimittelstudien der Phase I und II (siehe Kasten Seite 166) auszuschließen.
Es war die verzögerte Reaktion auf den bis dahin größten Arzneimittelskandal der Welt. Ende der 1950er Jahre waren immer mehr Babys mit Fehlbildungen der Gliedmaßen geboren worden: Ihnen fehlten Arme oder Beine, Hände und Füße waren unmittelbar am Rumpf angewachsen, zuweilen waren auch innere Organe betroffen.
Erst nach und nach kam die Wahrheit ans Licht. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan hatte die Ungeborenen von Frauen geschädigt, die dieses in Deutschland sogar rezeptfrei erhältliche Mittel in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft genommen hatten. Schon eine einzige Tablette hatte genügt.
Zwar hatte der Wirkstoff Thalidomid in Tierversuchen keinerlei Schädigungen verursacht, doch bereits in der klinischen Testphase in den USA waren Kinder mit Behinderungen auf die Welt gekommen, weshalb das Medikament in Amerika auch nicht zugelassen worden war.
Angst von erbschädigenden Wirkungen
Der Skandal hatte für den Hersteller zwar keine strafrechtlichen Folgen. Doch die Zulassungsbestimmungen für Medikamente wurden verschärft. Und es wurde die - ohnehin bis zu diesem Zeitpunkt relativ geringe - Teilnahme von Frauen im gebärfähigen Alter an Arzneimittelstudien überdacht. Plötzlich waren erbschädigende Wirkungen ein Thema, um das sich vor dem Contergan-Skandal niemand so recht gekümmert hatte.
Die Angst vor Regressansprüchen führte fortan zu extremer Vorsicht, denn während einer klinischen Studie, die sich meist über längere Zeit hinzieht, könnten teilnehmende Frauen schwanger werden, ohne dass sie es gleich bemerken.
Und der zu testende Wirkstoff könnte sich nachteilig auf den Embryo auswirken. Durch abzuschließende Versicherungen kommen Studien, die Frauen einbeziehen, teurer.
Die Konsequenz all dieser Überlegungen war, dass Männer umso mehr als das Maß aller Arzneimittelwirkungen hergenommen und im medizinischen Alltag die Dosierungen der Medikamente einfach an die geringere Körpergröße der Frauen angepasst wurden. Der Entschluss, Frauen aus Studien zur Arzneimittelsicherheit und -verträglichkeit auszuschließen, ist zwar nachvollziehbar, aber aus zwei Gründen wenig sinnvoll.
Einerseits bürdet das den Männern eine ziemlich schwere Last auf - schließlich nehmen Probanden trotz aller Absicherungen Risiken in Kauf und auch die Qualität der Spermien kann durch Medikamente beeinflusst werden.
Andererseits zeigen sich dadurch erst recht wieder besondere Wirkungen oder Nebenwirkungen für Frauen erst dann, wenn das Mittel bereits knapp vor der Zulassung oder überhaupt schon auf dem Markt ist. „Wenn man Frauen erst in spätere Phasen der Arzneimittelentwicklung aufnimmt, wo sie wesentlich weniger kontrolliert und beobachtet werden, dann ist das ja nur ein Verschieben der Problematik, und nicht ein Lösen", sagt die Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt Österreich, Christiane Druml.
Freilich wurden die Argumente der Frauengesundheitsforscherinnen nicht ganz ignoriert. In einem Abschnitt der so genannten Krankenschwesternstudie, einer der umfangreichsten Langzeitstudien, wurden Ende der 1980er Jahre 87.000 Krankenschwestern über sechs Jahre lang beobachtet, um zu überprüfen, ob die regelmäßige Einnahme von Aspirin das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, senkt.
Allerdings wurde diese Studie weit weniger aufwändig durchgeführt als jene, die die gleiche Fragestellung bei Männern untersucht hatte. 1993 verabschiedete das US-Forschungszentrum der National Institutes of Health NIH schließlich den so genannten Revitalization Act, in dem festgeschrieben wurde, dass Frauen - außer sie sind schwanger oder stillen - in klinische Studien einzubeziehen sind und dass eventuell dadurch entstehende höhere Kosten kein Grund für ihren Ausschluss sind.
Fünf Jahre später wollte Jerry Gurwitz vom Bostoner Women's Hospital wissen, ob sich etwas verändert hatte. Bereits 1992 hatte er festgestellt, dass nur 23 Prozent der insgesamt 150.000 Probandinnen und Probanden aller seit 1960 durchgeführten Studien zur Behandlung des Herzinfarkts Frauen waren, in altersbeschränkten Studien überhaupt nur 18 weitere drei Jahre später zeigte sich noch kein Effekt der NIH-Verfügung. So errechnete eine Forschungsgruppe aus der Cleveland Clinic in Ohio 2001 anhand der publizierten Ergebnisse von 120 randomisierten klinischewn Studien, dass durchschnittlich nicht mehr als 24,6 Prozent der Testpersonen weiblich waren und dass geschlechtsspezifische Daten nur in 14 Prozent der Studien erhoben worden waren.
Noch viel zu tun
Seit zehn Jahren werden Frauen zwar immer häufiger auch als Probandinnen in Studien aufgenommen. Doch „Unterschiede in der Wirkung und im Risiko unerwünschter Wirkungen bei Männern und Frauen werden nur selten miteinander verglichen", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donauuniversität Krems.
Er hat gemeinsam mit einem Team der University of North Carolina 59 Studien mit Daten von mehr als 250.000 Patientinnen und Patienten und 35 Medikamentengruppen unter die Lupe genommen, allerdings nur wenig Konkretes gefunden. Doch bei vielen dieser Studien lässt die wissenschaftliche Qualität zu wünschen übrig, so Gartlehner.
Freilich ist die geschlechtsspezifische Auswertung von Arzneimittelwirkungen bei Frauen aufgrund der schwankenden Hormonwerte besonders schwierig. So müsste gleichzeitig mit den Aufzeichnungen über Verträglichkeit, Wirkung und Nebenwirkungen auch erhoben werden, in welchem Abschnitt des Zyklus sich die weibliche Testperson befindet.
Das macht die Sache nicht nur kompliziert, sondern auch teuer. „Dieser Mangel an Wissen birgt Risiken und ist ungerecht", betont Christiane Druml, „da auf diese Weise Frauen der potenzielle Nutzen von neuen Erkenntnissen vorenthalten und eine gendergerechte Therapie unmöglich gemacht wird."
Die Kosten der Durchführung einer Studie, die Frauen und Männer gleichermaßen als Testpersonen einbezieht und die Daten entsprechend aufbereitet, sind für die Juristin keinesfalls ein zu akzeptierender Ausschlussgrund von Frauen.
„Das Ziel ist eine nicht nur krankheitsbezogene, sondern eine patientinnen- und patientenbezogene Medizin", sagt auch Mariarita Cassese vom Mailänder Frauenforschungs- und Gesundheitszentrum. Und: „Studien, die Frauen einbeziehen, sollten nicht nur das Anliegen einzelner Forscher sein, sondern im Mittelpunkt des Interesses von internationalen Gesundheitsorganisationen stehen."
Erste Schritte sind bereits gesetzt, ein Bewusstsein ist geschaffen. Aber noch etwas anderes gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen: Frauen sollten auch in entscheidenden wissenschaftlichen Gremien adäquat vertreten sein. Das ist bisher nicht der Fall. Denn auch wenn rund 52 Prozent der Studierenden und 57 Prozent der Absolventinnen und Absolventen Medizinischer Universitäten Frauen sind, so finden sich beispielsweise an der Wiener Medizinischen Universität zwar 98 männliche, aber nur 17 weibliche Ordentliche Professoren, im Universitätsrat beträgt das Verhältnis 4:1.
Im Herbst 2011 bestätigte eine von der EU in Auftrag gegebene Studie, dass Frauen an Österreichs Hochschulen zweieinhalb Mal so produktiv sein müssen wie Männer, um eine Professur zu erlangen. An deutschen Medizinuniversitäten ist die Lage nicht viel anders. Und auch in den Krankenhäusern gibt es noch immer mehr männliche als weibliche Primar- bzw. Chefärzte. Auch das führt laut Christiane Druml zu Defiziten in klinischen Studien.
Dieses Ungleichgewicht hat keinesfalls etwas mit einer mangelnden Qualifikation von Frauen für Forschung oder für den ärztlichen Beruf zu tun. Im Gegenteil. Ärztinnen verbringen mehr Zeit damit, mit ihren Patientinnen und Patienten zu sprechen und auf psychosoziale Gegebenheiten einzugehen, als Ärzte. Vor allem Patientinnen wissen das zu schätzen.
Tatsache ist: Immer mehr Frauen ergreifen den Arztberuf, und nach und nach sollte es durch entsprechende Initiativen für sie auch einfacher werden, Familie - sprich, die Betreuung ihrer Kinder, die zumeist immer noch Frauensache ist - und Beruf zu verbinden. Mentoring-Programme zum Abbau von Karrierehindernissen haben sich als hilfreich erwiesen.
Und so ist im ganzen Medizinbetrieb ein Umdenken im Gange. Immer mehr medizinische Universitäten sind bestrebt, für die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Anforderungen in der Ausbildung wie auch in der universitären Organisation Rahmenbedingungen zu schaffen. An etlichen medizinischen Universitäten wird bereits Gender-Medizin gelehrt, in Wien beispielsweise ist dafür im Jahr 2010 ein eigener Lehrstuhl eingerichtet worden.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen Fachrichtungen ermöglicht, wissenschaftliche Erkenntnisse der Geschlechterforschung nachhaltig in der Lehre, aber auch in der medizinischen Praxis zu verankern. Nicht zuletzt eine Umfrage unter den Studierenden der Medizinischen Universität Wien hat ergeben, dass die Aspekte der geschlechtergerechten Medizin immer wichtiger werden - für Patientinnen und Patienten und für das medizinische Personal.
Arzneimitteltests
Ehe ein neues Medikament auf den Markt kommt, hat es einen langen Weg hinter sich, denn bevor es in der medizinischen Versorgung eingesetzt werden darf, müssen nicht nur seine Wirksamkeit, sondern auch seine Verträglichkeit und Sicherheit nachgewiesen worden sein.
Von vielen Tausenden Substanzen schaffen es nur wenige überhaupt bis in diese Testphase. Nach der Forschung im Labor wird in der sogenannten vorklinischen Phase der Wirkstoff an Zellkulturen und/oder im Tierversuch erprobt.
Hat die Substanz diese Hürden genommen, folgen die vier Phasen der klinischen Prüfung, bei der Daten erhoben, verglichen und ausgewertet werden:
• Phase I: In ersten Tests wird an einer Gruppe von bis zu 80 Gesunden die Verträglichkeit und Sicherheit des Wirkstoffs einige Wochen bis Monate lang geprüft.
• Phase II: An bis zu 200 Personen - zu denen auch eine kleine Gruppe Kranker gehört - wird einige Monate lang untersucht, welche Dosis des Wirkstoffs den gewünschten Effekt erzielt.
• Phase III: Bis zu 10.000 Personen erproben die Langzeitwirkung und -verträglichkeit der Substanz. Diese Daten sind dann ausschlaggebend für die Marktzulassung.
• Phase IV: Auch wenn das Medikament bereits auf dem Markt erhältlich ist, werden Daten über Wirkung und Nebenwirkungen weiterhin registriert. Dabei kann sich herausstellen, dass das Arzneimittel neben den bereits bekannten Wirkungen auch andere positive hat, für die es in weiterer Folge - nach Zulassungserweiterung - ebenso eingesetzt werden kann. Es können aber auch bei Langzeiteinnahme bzw. bei der Verabreichung an viele Menschen bis dahin unentdeckte schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten, die es notwendig machen, den Vertrieb einzustellen.
Unterschiedliche Wirkung bei Männern und Frauen
Medikamente können bei Männern und Frauen unterschiedliche Effekte erzielen. Das hat verschiedene Ursachen. Frauen haben einen höheren Körperfettanteil, dafür einen geringeren Körperwasseranteil, ihre Organe sind stärker durchblutet, die Leistung ihrer Nieren ist um rund zehn Prozent geringer als die der Männer.
Ganz bestimmte Enzyme - biologische Scheren - in der Leber bauen bei Männern und Frauen gewisse Substanzen unterschiedlich schnell ab, hingegen entleert sich der weibliche Magen langsamer und produziert weniger Magensaft. Außerdem können die Sexualhormone die Medikamentenwirkung beeinflussen. Die Folgen davon sind beispielsweise:
• Bestimmte Medikamente zur Verhinderung von Thrombosen verursachen bei Frauen häufiger Gehirnblutungen.
• Aspirin hat bei Frauen, anders als bei Männern, keine vor Herzinfarkt schützende Wirkung.
• Neue Mittel gegen Übelkeit während einer Krebs-Chemotherapie wirken bei Männern besser.
• Einige Antidepressiva führen bei Männern öfter zu sexuellen Störungen.
• Frauen leiden häufiger unter Medikamentennebenwirkungen als Männer.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Gesundheit - eine Frage des Geschlechts" von Alexandra Kautzky-Willer und Elisabeth Tschachler, © 2012 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien, ISBN 978-3-7015-0541-8
Schon in den 1980er Jahren bemängelten feministische Forscherinnen, dass Frauen aus den großen Arzneimittelstudien ausgeschlossen waren, obwohl doch klar sein musste, dass aufgrund physiologischer Unterschiede Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken können.
Vor allem umfangreiche Studien zu Fragestellungen nach der Wirkung von Aspirin auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit, aber auch solche nach dem Zusammenhang zwischen Bluthochdruck, Cholesterin, Rauchen und koronarer Herzkrankheit oder dem Effekt von hohem Kaffeekonsum auf das Herzinfarktrisiko waren zwar mit Zigtausenden Männern, aber gänzlich ohne Frauen durchgeführt worden.
Gängige Mittel wie Valium wurden überhaupt nie in klinischen Tests an Frauen erprobt. Sogar in dem ersten Versuch, in dem nachgewiesen werden sollte, dass Östrogene vor Herzproblemen schützen, gab es ausschließlich männliche Probanden. So absurd das klingen mag, wirklich verwunderlich war das nicht.
In der Medizin galt der Mann - und zwar der weiße, junge Mann - als das Maß aller Dinge. 1977 hatte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration FDA überhaupt verfügt, Frauen im gebärfähigen Alter aus Arzneimittelstudien der Phase I und II (siehe Kasten Seite 166) auszuschließen.
Es war die verzögerte Reaktion auf den bis dahin größten Arzneimittelskandal der Welt. Ende der 1950er Jahre waren immer mehr Babys mit Fehlbildungen der Gliedmaßen geboren worden: Ihnen fehlten Arme oder Beine, Hände und Füße waren unmittelbar am Rumpf angewachsen, zuweilen waren auch innere Organe betroffen.
Erst nach und nach kam die Wahrheit ans Licht. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan hatte die Ungeborenen von Frauen geschädigt, die dieses in Deutschland sogar rezeptfrei erhältliche Mittel in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft genommen hatten. Schon eine einzige Tablette hatte genügt.
Zwar hatte der Wirkstoff Thalidomid in Tierversuchen keinerlei Schädigungen verursacht, doch bereits in der klinischen Testphase in den USA waren Kinder mit Behinderungen auf die Welt gekommen, weshalb das Medikament in Amerika auch nicht zugelassen worden war.
Angst von erbschädigenden Wirkungen
Der Skandal hatte für den Hersteller zwar keine strafrechtlichen Folgen. Doch die Zulassungsbestimmungen für Medikamente wurden verschärft. Und es wurde die - ohnehin bis zu diesem Zeitpunkt relativ geringe - Teilnahme von Frauen im gebärfähigen Alter an Arzneimittelstudien überdacht. Plötzlich waren erbschädigende Wirkungen ein Thema, um das sich vor dem Contergan-Skandal niemand so recht gekümmert hatte.
Die Angst vor Regressansprüchen führte fortan zu extremer Vorsicht, denn während einer klinischen Studie, die sich meist über längere Zeit hinzieht, könnten teilnehmende Frauen schwanger werden, ohne dass sie es gleich bemerken.
Und der zu testende Wirkstoff könnte sich nachteilig auf den Embryo auswirken. Durch abzuschließende Versicherungen kommen Studien, die Frauen einbeziehen, teurer.
Die Konsequenz all dieser Überlegungen war, dass Männer umso mehr als das Maß aller Arzneimittelwirkungen hergenommen und im medizinischen Alltag die Dosierungen der Medikamente einfach an die geringere Körpergröße der Frauen angepasst wurden. Der Entschluss, Frauen aus Studien zur Arzneimittelsicherheit und -verträglichkeit auszuschließen, ist zwar nachvollziehbar, aber aus zwei Gründen wenig sinnvoll.
Einerseits bürdet das den Männern eine ziemlich schwere Last auf - schließlich nehmen Probanden trotz aller Absicherungen Risiken in Kauf und auch die Qualität der Spermien kann durch Medikamente beeinflusst werden.
Andererseits zeigen sich dadurch erst recht wieder besondere Wirkungen oder Nebenwirkungen für Frauen erst dann, wenn das Mittel bereits knapp vor der Zulassung oder überhaupt schon auf dem Markt ist. „Wenn man Frauen erst in spätere Phasen der Arzneimittelentwicklung aufnimmt, wo sie wesentlich weniger kontrolliert und beobachtet werden, dann ist das ja nur ein Verschieben der Problematik, und nicht ein Lösen", sagt die Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt Österreich, Christiane Druml.
Freilich wurden die Argumente der Frauengesundheitsforscherinnen nicht ganz ignoriert. In einem Abschnitt der so genannten Krankenschwesternstudie, einer der umfangreichsten Langzeitstudien, wurden Ende der 1980er Jahre 87.000 Krankenschwestern über sechs Jahre lang beobachtet, um zu überprüfen, ob die regelmäßige Einnahme von Aspirin das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, senkt.
Allerdings wurde diese Studie weit weniger aufwändig durchgeführt als jene, die die gleiche Fragestellung bei Männern untersucht hatte. 1993 verabschiedete das US-Forschungszentrum der National Institutes of Health NIH schließlich den so genannten Revitalization Act, in dem festgeschrieben wurde, dass Frauen - außer sie sind schwanger oder stillen - in klinische Studien einzubeziehen sind und dass eventuell dadurch entstehende höhere Kosten kein Grund für ihren Ausschluss sind.
Fünf Jahre später wollte Jerry Gurwitz vom Bostoner Women's Hospital wissen, ob sich etwas verändert hatte. Bereits 1992 hatte er festgestellt, dass nur 23 Prozent der insgesamt 150.000 Probandinnen und Probanden aller seit 1960 durchgeführten Studien zur Behandlung des Herzinfarkts Frauen waren, in altersbeschränkten Studien überhaupt nur 18 weitere drei Jahre später zeigte sich noch kein Effekt der NIH-Verfügung. So errechnete eine Forschungsgruppe aus der Cleveland Clinic in Ohio 2001 anhand der publizierten Ergebnisse von 120 randomisierten klinischewn Studien, dass durchschnittlich nicht mehr als 24,6 Prozent der Testpersonen weiblich waren und dass geschlechtsspezifische Daten nur in 14 Prozent der Studien erhoben worden waren.
Noch viel zu tun
Seit zehn Jahren werden Frauen zwar immer häufiger auch als Probandinnen in Studien aufgenommen. Doch „Unterschiede in der Wirkung und im Risiko unerwünschter Wirkungen bei Männern und Frauen werden nur selten miteinander verglichen", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donauuniversität Krems.
Er hat gemeinsam mit einem Team der University of North Carolina 59 Studien mit Daten von mehr als 250.000 Patientinnen und Patienten und 35 Medikamentengruppen unter die Lupe genommen, allerdings nur wenig Konkretes gefunden. Doch bei vielen dieser Studien lässt die wissenschaftliche Qualität zu wünschen übrig, so Gartlehner.
Freilich ist die geschlechtsspezifische Auswertung von Arzneimittelwirkungen bei Frauen aufgrund der schwankenden Hormonwerte besonders schwierig. So müsste gleichzeitig mit den Aufzeichnungen über Verträglichkeit, Wirkung und Nebenwirkungen auch erhoben werden, in welchem Abschnitt des Zyklus sich die weibliche Testperson befindet.
Das macht die Sache nicht nur kompliziert, sondern auch teuer. „Dieser Mangel an Wissen birgt Risiken und ist ungerecht", betont Christiane Druml, „da auf diese Weise Frauen der potenzielle Nutzen von neuen Erkenntnissen vorenthalten und eine gendergerechte Therapie unmöglich gemacht wird."
Die Kosten der Durchführung einer Studie, die Frauen und Männer gleichermaßen als Testpersonen einbezieht und die Daten entsprechend aufbereitet, sind für die Juristin keinesfalls ein zu akzeptierender Ausschlussgrund von Frauen.
„Das Ziel ist eine nicht nur krankheitsbezogene, sondern eine patientinnen- und patientenbezogene Medizin", sagt auch Mariarita Cassese vom Mailänder Frauenforschungs- und Gesundheitszentrum. Und: „Studien, die Frauen einbeziehen, sollten nicht nur das Anliegen einzelner Forscher sein, sondern im Mittelpunkt des Interesses von internationalen Gesundheitsorganisationen stehen."
Erste Schritte sind bereits gesetzt, ein Bewusstsein ist geschaffen. Aber noch etwas anderes gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen: Frauen sollten auch in entscheidenden wissenschaftlichen Gremien adäquat vertreten sein. Das ist bisher nicht der Fall. Denn auch wenn rund 52 Prozent der Studierenden und 57 Prozent der Absolventinnen und Absolventen Medizinischer Universitäten Frauen sind, so finden sich beispielsweise an der Wiener Medizinischen Universität zwar 98 männliche, aber nur 17 weibliche Ordentliche Professoren, im Universitätsrat beträgt das Verhältnis 4:1.
Im Herbst 2011 bestätigte eine von der EU in Auftrag gegebene Studie, dass Frauen an Österreichs Hochschulen zweieinhalb Mal so produktiv sein müssen wie Männer, um eine Professur zu erlangen. An deutschen Medizinuniversitäten ist die Lage nicht viel anders. Und auch in den Krankenhäusern gibt es noch immer mehr männliche als weibliche Primar- bzw. Chefärzte. Auch das führt laut Christiane Druml zu Defiziten in klinischen Studien.
Dieses Ungleichgewicht hat keinesfalls etwas mit einer mangelnden Qualifikation von Frauen für Forschung oder für den ärztlichen Beruf zu tun. Im Gegenteil. Ärztinnen verbringen mehr Zeit damit, mit ihren Patientinnen und Patienten zu sprechen und auf psychosoziale Gegebenheiten einzugehen, als Ärzte. Vor allem Patientinnen wissen das zu schätzen.
Tatsache ist: Immer mehr Frauen ergreifen den Arztberuf, und nach und nach sollte es durch entsprechende Initiativen für sie auch einfacher werden, Familie - sprich, die Betreuung ihrer Kinder, die zumeist immer noch Frauensache ist - und Beruf zu verbinden. Mentoring-Programme zum Abbau von Karrierehindernissen haben sich als hilfreich erwiesen.
Und so ist im ganzen Medizinbetrieb ein Umdenken im Gange. Immer mehr medizinische Universitäten sind bestrebt, für die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Anforderungen in der Ausbildung wie auch in der universitären Organisation Rahmenbedingungen zu schaffen. An etlichen medizinischen Universitäten wird bereits Gender-Medizin gelehrt, in Wien beispielsweise ist dafür im Jahr 2010 ein eigener Lehrstuhl eingerichtet worden.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen Fachrichtungen ermöglicht, wissenschaftliche Erkenntnisse der Geschlechterforschung nachhaltig in der Lehre, aber auch in der medizinischen Praxis zu verankern. Nicht zuletzt eine Umfrage unter den Studierenden der Medizinischen Universität Wien hat ergeben, dass die Aspekte der geschlechtergerechten Medizin immer wichtiger werden - für Patientinnen und Patienten und für das medizinische Personal.
Arzneimitteltests
Ehe ein neues Medikament auf den Markt kommt, hat es einen langen Weg hinter sich, denn bevor es in der medizinischen Versorgung eingesetzt werden darf, müssen nicht nur seine Wirksamkeit, sondern auch seine Verträglichkeit und Sicherheit nachgewiesen worden sein.
Von vielen Tausenden Substanzen schaffen es nur wenige überhaupt bis in diese Testphase. Nach der Forschung im Labor wird in der sogenannten vorklinischen Phase der Wirkstoff an Zellkulturen und/oder im Tierversuch erprobt.
Hat die Substanz diese Hürden genommen, folgen die vier Phasen der klinischen Prüfung, bei der Daten erhoben, verglichen und ausgewertet werden:
• Phase I: In ersten Tests wird an einer Gruppe von bis zu 80 Gesunden die Verträglichkeit und Sicherheit des Wirkstoffs einige Wochen bis Monate lang geprüft.
• Phase II: An bis zu 200 Personen - zu denen auch eine kleine Gruppe Kranker gehört - wird einige Monate lang untersucht, welche Dosis des Wirkstoffs den gewünschten Effekt erzielt.
• Phase III: Bis zu 10.000 Personen erproben die Langzeitwirkung und -verträglichkeit der Substanz. Diese Daten sind dann ausschlaggebend für die Marktzulassung.
• Phase IV: Auch wenn das Medikament bereits auf dem Markt erhältlich ist, werden Daten über Wirkung und Nebenwirkungen weiterhin registriert. Dabei kann sich herausstellen, dass das Arzneimittel neben den bereits bekannten Wirkungen auch andere positive hat, für die es in weiterer Folge - nach Zulassungserweiterung - ebenso eingesetzt werden kann. Es können aber auch bei Langzeiteinnahme bzw. bei der Verabreichung an viele Menschen bis dahin unentdeckte schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten, die es notwendig machen, den Vertrieb einzustellen.
Unterschiedliche Wirkung bei Männern und Frauen
Medikamente können bei Männern und Frauen unterschiedliche Effekte erzielen. Das hat verschiedene Ursachen. Frauen haben einen höheren Körperfettanteil, dafür einen geringeren Körperwasseranteil, ihre Organe sind stärker durchblutet, die Leistung ihrer Nieren ist um rund zehn Prozent geringer als die der Männer.
Ganz bestimmte Enzyme - biologische Scheren - in der Leber bauen bei Männern und Frauen gewisse Substanzen unterschiedlich schnell ab, hingegen entleert sich der weibliche Magen langsamer und produziert weniger Magensaft. Außerdem können die Sexualhormone die Medikamentenwirkung beeinflussen. Die Folgen davon sind beispielsweise:
• Bestimmte Medikamente zur Verhinderung von Thrombosen verursachen bei Frauen häufiger Gehirnblutungen.
• Aspirin hat bei Frauen, anders als bei Männern, keine vor Herzinfarkt schützende Wirkung.
• Neue Mittel gegen Übelkeit während einer Krebs-Chemotherapie wirken bei Männern besser.
• Einige Antidepressiva führen bei Männern öfter zu sexuellen Störungen.
• Frauen leiden häufiger unter Medikamentennebenwirkungen als Männer.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Gesundheit - eine Frage des Geschlechts" von Alexandra Kautzky-Willer und Elisabeth Tschachler, © 2012 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien, ISBN 978-3-7015-0541-8