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„Wir können uns das nicht leisten."
Die Depression kam, als eigentlich alles wieder im Lot zu sein schien. Gerade hatte Sarah eine Krebserkrankung überstanden und wieder in ihrem Beruf als Vorstandsassistentin Fuß gefasst. Doch eines Morgens fühlte sie sich wie gerädert, hatte keinen Antrieb mehr, ja, sie schaffte es an diesem Morgen nicht einmal mehr aufzustehen.
Sarah war ausgelaugt, fühlte sich überfordert und alles fiel ihr irgendwie schwer. Ihr Kopf war leer, nichts machte mehr Spaß, auch ihr Job, der sie immer ausgefüllt hatte, schien plötzlich sinn- und freudlos. Dabei hätte sie sich doch eigentlich freuen müssen, den Krebs besiegt und wieder zurück ins Leben gefunden zu haben.
Aber das Schlimmste war, dass sie kein Selbstvertrauen mehr hatte. Bei jeder kleinen Kritik brach sie in Tränen aus, zweifelte an sich selbst, empfand sich als nutzlos. Sie konnte einfach nichts dagegen tun. Erschwerend kam hinzu, dass sie nachts keine Ruhe fand und stundenlang wach lag.
Lange fand Sarah den Grund für ihr Leiden nicht, und auch ihr Hausarzt konnte ihr nicht helfen. Nach einem Selbstmordversuch wurde sie schließlich in die Psychiatrie eingewiesen.
Die Diagnose lautete: schwere depressive Episode. Obwohl ihr 60-jähriger Chef zu den Ersten gehörte, der sie dort besuchte, ihr Blumen brachte und Genesungswünsche übermittelte, ließ er sie doch mit ihrer Erkrankung allein.
Denn als sie wenige Wochen nach ihrer Therapie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, hatte eine Andere bereits ihren Platz eingenommen. Vom Personalchef hieß es schließlich lapidar, dass man sich nach einer anderen Besetzung habe umsehen müssen, denn man hätte ja nicht gewusst, ob Sarah den Belastungen je wieder gewachsen sein würde.
Auch, wie lange sie künftig krankheitsbedingt ausgefallen wäre, sei ja nicht absehbar gewesen. „Das können wir uns einfach nicht leisten." Der mitleidige Blick des Personalchefs sprach Bände.
Soviel Verständnis wie ihr damals während ihrer Krebserkrankung entgegengebracht wurde, so wenig schien sich in diesem Augenblick irgendjemand für ihre Krankheit zu interessieren. Eine Welle aus Unverständnis, Ablehnung, stummen Vorwürfen, peinlichem Schweigen und mitleidigen Blicken schlug ihr entgegen.
Sarah ist kein Einzelfall - jeder Dritte ist betroffen ...
Jeder dritte Deutsche leidet irgendwann im Laufe seines Lebens an einer oder mehreren psychischen Störungen - so lautet die erschreckende Bilanz des Psycho-Moduls des Deutschen Gesundheitssurveys aus dem Jahr 2012. Überraschenderweise sind insbesondere junge Menschen betroffen.
Am häufigsten finden sich Angststörungen (16,2 Prozent), Alkoholmissbrauch (11,2 Prozent), Depressionen (8,2 Prozent), Zwangsstörungen (3,8 Prozent) und psychosomatische Störungen ohne Organbefund, sogenannte somatoforme Störungen (3,3 Prozent).
„Du bist doch irre!"
Gerade, wenn man sich diese Fakten ansieht, verwundert es doch sehr, dass wir den psychisch Kranken so oft mit Vorbehalten und Vorurteilen begegnen. Obwohl die meisten von uns mindestens eine Person in ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis kennen, die an einer psychischen Erkrankung leidet, hört man immer wieder, dass Menschen mit psychischen Störungen unberechenbar, labil oder gar gefährlich seien.
Doch was ist der Grund für diese Vorurteile? Möglicherweise spielt hier der sogenannte „Primacy-Effekt" eine Rolle. Das bedeutet, dass der erste Eindruck über unsere Mitmenschen auch dann bestehen bleibt, wenn sie diesem nicht entsprechen.
Wenn wir also beispielsweise eine Person als inkompetent einstufen, hat sie in der Regel nur geringe Chancen, diese Etikettierung, die wir ihr verpasst haben, wieder loszuwerden. So ähnlich ist es auch bei unserem Umgang mit psychisch Kranken: Wenn wir ihnen mit Ablehnung begegnen und glauben, dass sie verrückt, labil oder gefährlich sind, werden sie keine Chance haben, dieses Label je wieder loszuwerden.
Denn unsere Wahrnehmung ist darauf ausgerichtet, solche Attribute an ihnen zu erkennen. Dabei sind es gerade Vorurteile wie diese, die es Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, zusätzlich erschweren, zurück ins „normale" Leben zu finden. Auch die negative Darstellung psychisch Kranker in Kino- oder Fernsehfilmen wirkt meinungsbildend.
Hinzu kommt die zugespitzte Berichterstattung der Medien, die sich allzu gern über gefährliche Amokläufer und Sexualmörder auslassen, die lebenslänglich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden.
Dabei bleibt häufig unerwähnt, dass es sich hierbei nicht um eine normale psychiatrische Klinik, sondern um eine forensische handelt, in der ausschließlich psychisch kranke Straftäter einsitzen.
Im öffentlichen Bewusstsein aber setzt sich fest, dass Psychiatriepatienten unheilbare, verrückte Gewaltverbrecher sind. Eine amerikanische Studie zeigt auch, dass der soziale Status, den psychiatrische Patienten einnehmen, oft weit niedriger ist als der von ehemaligen Strafgefangenen: So werden psychisch Kranke auch nach fünf Jahren normalen Lebens und geregelter Arbeit sozial weniger akzeptiert als ehemalige Gefängnisinsassen (vgl. BASTA, Bündnis für psychisch erkrankte Menschen).
Hinzu kommt, dass bereits viele psychiatrische Diagnosen wie schizophren, paranoid oder manisch als Schimpfworte in die Umgangssprache übernommen wurden und daher eine diskriminierende Wirkung haben.
Die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft existieren, sind vielfältig und bleiben natürlich nicht ohne Folgen für die Betroffenen, die sich selbst als defizitär erleben, Schamgefühle entwickeln und sich immer mehr zurückziehen. Sie schämen sich für ihre Erkrankung und wollen nicht darüber sprechen, weil sie fürchten auf Ablehnung zu stoßen und isoliert zu werden.
Was wir tun müssen ...
Weil Vorurteile vor allem aus Unwissenheit über psychische Erkrankungen - über ihre Ursachen, Symptome und Therapiemöglichkeiten - entstehen, brauchen wir mehr Information und Aufklärung. Dabei sind es nicht nur Wissenslücken, sondern sogar oft falsches Wissen, das sich angesammelt hat.
So werden Schizophrene beispielsweise häufig als gewaltbereit, geistig zurückgeblieben und weniger intelligent als gesunde Menschen eingestuft - eine Etikettierung, die in keiner Weise den Tatsachen entspricht.
Viele Betroffene geben in Befragungen an, dass es für sie schwierig sei, Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten bei psychischen Problemen zu finden. Gleichzeitig zeigen Studien, dass kaum jemand über die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche von Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten informiert ist, was die Suche nach der passenden Unterstützung nicht einfacher macht.
Hinzu kommt, dass die Befragten die meisten Informationen aus den Unterhaltungsmedien beziehen, die ihrerseits zum Negativimage psychischer Erkrankungen beitragen. Die Reportage von Bettina Böttinger „B. sucht" (die am 31. Juli, 22 Uhr im WDR zu sehen war), in der sie psychisch Kranke in ihrem alltäglichen Umfeld besuchte, war dabei die positive Ausnahme.
Mit ihrer natürlichen und unvoreingenommen Art, ihrer Akzeptanz und dem Respekt, mit der sie psychisch Kranken dort begegnet ist, konnte Bettina Böttinger gewiss das eine oder andere Vorurteil entkräften.
Festzuhalten bleibt, dass Betroffene sich aus unterschiedlichen Gründen schwer damit tun, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Wenn sie sich dann überwunden haben, zum Arzt zu gehen, verstehen sie oftmals dessen Erklärungen nicht, da er sich häufig gar nicht die Zeit nehmen kann, ihnen ihre Erkrankung, die Ursachen, Symptome und Therapiemöglichkeiten ausführlich und verständlich darzulegen.
Mit unseren Nachschlagewerken „Dr. Psych's Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie" wollen wir genau diese Informationslücke schließen und erreichen, dass sich künftig mehr Menschen mit psychischen Krankheiten beschäftigen und sowohl Betroffene als auch Angehörige Hilfe in Form von Information finden.
Durch seine charmante, unterhaltsame und manchmal auch augenzwinkernde Art, mit der Dr. Psych hier Aufklärung betreibt, baut er Berührungsängste ab, indem er psychische Krankheiten für jedermann verständlich und anschaulich beschreibt.
Psychische Erkrankungen werden häufig nicht oder zu spät erkannt und therapiert
Information und Aufklärung allein reichen jedoch nicht aus, um den Problemen psychisch Kranker entgegenzuwirken.
Unterstützung bei der Lösung ihrer psychischen Probleme zu finden, ist für die Betroffenen nicht einfach. Noch immer gibt es Versorgungslücken bei der Therapie psychisch Kranker. So hat die Deutsche Gesundheitssurvey besonders bei Alkoholmissbrauch, Zwangsstörungen und Phobien zu niedrige Behandlungsraten ermittelt.
Mangelndes Angebot oder falsche Diagnosen?
Woran liegt es, dass sich offenbar zu wenig Betroffene in Behandlung begeben? Liegt es daran, dass sie nicht erkennen, dass sie krank sein könnten und Hilfe brauchen? Oder ist es die Angst vor unangenehmen Reaktionen ihrer Mitmenschen, dass sie ihre Beschwerden sogar gegenüber dem Hausarzt häufig nicht erwähnen, was wiederum zu falschen Diagnosen führt?
Sind mangelnde Angebote der Grund für die niedrigen Behandlungsraten? Liegt es daran, dass Psychiater, Psychotherapeuten oder Hausärzte fehlen, oder dass sie die Behandlungsbedürftigkeit nicht wahrnehmen? Vielleicht ist die Ursache aber auch, dass manche Krankheitsbilder ernster als andere genommen werden?
Auffallend ist jedenfalls, dass die Behandlungsraten zunehmen, wenn mit der psychischen Erkrankung andere Erkrankungen einhergehen. Muss es demnach erst richtig schlimm kommen, damit der Patient Hilfe sucht und dann endlich die richtige Behandlung bekommt?
Wie können wir psychisch Kranke unterstützen?
Aufklärung allein reicht nicht aus, um die Bevölkerung wirklich zum Umdenken zu bewegen, denn die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen nimmt allen Aufklärungskampagnen zum Trotz zu.
Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Universität Greifswald. Während die Bereitschaft der Befragten, mit Betroffenen in Kontakt zu treten in Bezug auf Depression und Alkoholabhängigkeit unverändert auf einem niedrigen Niveau verharrt, hat sich das Verhältnis zu Menschen mit Schizophrenie sogar deutlich verschlechtert.
50 Prozent der Befragten lehnten es ab, einen schizophrenen Menschen einem Freund vorzustellen. Die stärkste Ablehnung erfahren nach wie vor Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit.
Jeder Dritte möchte weder einen Alkoholkranken als Nachbarn noch als Arbeitskollegen haben. 60 Prozent wollen auch keinen Alkoholiker im Freundeskreis haben.
Um diese Berührungsängste abzubauen, müssen wir alle versuchen dazu beizutragen, dass psychisch kranke Menschen künftig nicht mehr an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden. #
Wir sollten unsere Vorurteile hinterfragen und uns bemühen, psychisch Kranken offen und angstfrei zu begegnen, um ihnen die Sorge zu nehmen, aussortiert zu werden und zu einer sozialen Randgruppe zu gehören. Dabei sollten wir immer daran denken, dass irgendwann vielleicht auch einmal wir selbst betroffen sein könnten.
Der Artikel entstand unter Mitarbeit der Diplom-Psychologin Hedda Rühle.
Literatur: Sandra Maxeiner, Hedda Rühle (2014) „Dr. Psych's Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie" (Band 1 und Band 2), Jerry Media Verlag