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20 Jahre Filmfest in Sarajewo: Eine ganze Stadt putzt sich heraus

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Sarajevo feiert 20 Jahre Filmfestival. Vom 15. bis 24. August konkurrierten überwiegend südosteuropäische Filme um den Hauptpreis des internationalen Wettbewerbs, das mit 16.000 Euro dotierte Herz von Sarajevo. Die Idee für das wichtigste Festival Osteuropas entstand in einer Nacht unter Granatenbeschuss und spielt bei der Aufarbeitung des Bosnienkrieges eine zentrale Rolle.

Ein warmer Augustabend in Sarajevo. Die Häuser auf den Berghängen sind beleuchtet, die Bewohner der bosnischen Hauptstadt haben ihre abendliche Promenade durch die Altstadt begonnen. Im Schein der angestrahlten Moscheen spazieren schicke hochgewachsene Mädchen und Jungen mit quer umgehängten Taschen durch den osmanischen Basar „Baščaršija". Touristen in nicht so schicken Shorts begutachten Sarajevo-1984-Aschenbecher und Edin-Džeko-Trikots.

Auch die Viječnica, das im Krieg zerstörte Rathaus, leuchtet wieder in orange-rot-gestreift. Gegenüber am Fluss lehnen knutschende Teenager an einer Mauer. Vor den kafanas sitzen Männer und rauchen, es duftet nach bosnischem Kaffee, dem besten der Welt, wenn man die Bosnier fragt. Schnell ergeben sich Gespräche, in Englisch und Deutsch, viele erzählen von ihren Jahren als Gastarbeiter oder Flüchtling in Bremen oder Bonn.

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Eine alte Dame mit Hut zerteilt ein achtschichtiges Tortenstück. Dann der typische Sarajevo-Grill-Geruch im Viertel der čevapđzinicas. Dazu vermischt sich die traditionelle bosnische Sevdah-Musik mit Achtziger-Pop.

Diese abendlichen Prozessionen muten immer ein wenig feierlich an, so ist das im Süden. Doch in diesen Tagen ist die Stimmung extra festlich, denn Sarajevo heißt zum 20. Film Festival willkommen. Internationale Filmstars sind in der Stadt, darunter Mike Leigh, Gael García Bernal und Michael Winterbottom, der 1997 in Sarajevo mit „Welcome to Sarajevo" den ersten internationalen Film über den Bosnienkrieg machte.

Über 100.000 Besucher kommen jedes Jahr, um sich 214 Filmen aus 59 Ländern anzuschauen. Diesmal mussten aufgrund der großen Nachfrage so viele Vorführungen nachgebucht werden wie noch nie. Viele ausgewanderte Bosnier kehren für diese Woche zurück, um ehrenamtlich zu helfen und dabei zu sein, wenn die Welt auf ihre Stadt schaut. Das Festival ist eine große Sache für Sarajevo, das zwar in nur eineinhalb Stunden von jeder wichtigen europäischen Stadt erreichbar, aber psychologisch für viele eine Weltreise entfernt ist.

Regisseur Danis Tanović wird mit einem Preis geehrt

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Der bosnische Regisseur Danis Tanović wird in diesem Jahr im Rahmen des Festivals mit dem Preis Honorary Heart of Sarajevo geehrt. Schon zweimal hat der 45-Jährige die Welt daran erinnert, welch gute Geschichtenerzähler der Balkan hervorbringt. Für seinen Geniestreich „No Man's Land" erhielt er unter anderem eine Goldene Palme und einen Oscar.

Im letzten Jahr kam der Goldene Bär für das Roma-Drama „An Episode in the Life of an Iron Picker" dazu. „Das Filmfestival ist für mich die schönste Woche im Jahr. Normalerweise muss ich reisen, um meine Freunde zu sehen, aber im August kommen alle zu mir und ich kann ihnen diese wunderbare Stadt zeigen."

Der schönste Platz auf dem Festival ist das Freiluftkino, in dem 3000 Besucher Platz finden. Ein einfacher Asphalt-Sportplatz des Ersten Gymnasiums mitten in der Altstadt. Wie ein Amphitheater liegt er da eingerahmt von hohen Wohnkästen aus kommunistischer Zeit, an denen noch nicht alle Einschusslöcher aus dem Bosnienkrieg überpinselt worden sind. In den Fenstern haben es sich die Bewohner mit Wein und Kissen bequem gemacht haben und winken: gratis Filme im eigenen Innenhof unter schönstem Sternenhimmel.

Aufarbeitung des Bosnien-Krieges

Das Interesse der Bosnier am Kino ist enorm. Fast andächtig betreten die Besucher den verwandelten Sportplatz, die Damen tragen heute den guten Schmuck, die Männer Anzughose, bei 30 Grad. Als der Vorspann kommt, legen die Pärchen die Arme umeinander. Der ein oder andere Besucherfuß ruht unbemerkt in einem Granatsplitterkrater. Menschen aus allen Teilen Bosniens sind gekommen, auch aus den serbischen Gebieten, die bleiben sonst gern unter sich.

Viele alte Menschen sind da. Dabei sind die meisten Filme im Wettbewerb harter Stoff: Krieg, Armut, Minderheitenschicksale - häufig nur allzu vertraute Sujets. Die Zuschauer ziehen sich das alles rein, über so manche Wange rollen die Tränen, Taschentücher werden herumgereicht, ganz ohne Scham.

Dies ist vielleicht die größte Errungenschaft des Sarajevo Film Festivals: Hier wird der Krieg aufgearbeitet. Hier dürfen Schmerz und Hass stattfinden und gleichzeitig Hoffnung, Multikulturalismus und Koexistenz.

„Dieses Festival hat schon vieles bewirkt.", erklärt Tanović. „Nachdem Jasmila Žbanić ihren Film „Grbavica" („Esmas Geheimnis") hier zeigte, wurden Gesetze in Bosnien geändert." Bis dahin war Žbanićs Thema - die Massenvergewaltigungen, die im Bosnienkrieg stattfanden - tabu. Danach aber trauten sich Tausende Frauen über ihr Schicksal zu sprechen, Entschädigungen wurden gezahlt und Psychotherapien organisiert.

Tanović selbst schaffte mit dem Erfolg von „No Man's Land", dass in Bosnien Filmfonds eingeführt wurden. Er lacht. „Filme von hier sind automatisch politisch. Wer in dieser Region lebt, ist von Geburt an politisch. Und Künstlern bleibt als einziges Werkzeug die Kunst". Danis Tanović studierte an der Uni von Sarajevo Filmregie und filmte im Bosnienkrieg an der Front. Sein Material wird heute in Dokumentationen und am Internationalen Gerichtshof in Den Haag verwendet.

Vor dem Krieg lebten Muslime, Serben und Kroaten in Sarajevo ganz selbstverständlich zusammen und es gab eine lebendige, kosmopolitische Kunstszene. Samir Ćeramida, in Sarajevo geborener Bassist von Bosniens bekanntester Popband Plavi Orkestar, stimmt die Erinnerung sentimental. „Wir waren verrückt nach Kunst und Kultur, wir gingen jeden Abend in der Woche aus. Unser ganzes Geld landete in Kino- und Konzertkassen.

Heute gehen wir nur noch am Wochenende feiern, wie in anderen Städten.", beklagt er. Er hat Fotos aus den Siebziger und Achtziger Jahren dabei. Bilder von Punks in Sarajevos Clubs, Goran Bregović in Hippiejeans, Intellektuelle im schwarzen Rolli beim Literaturzirkel. Ab und zu schaut Tito aus einem Bilderrahmen zu. „Die Leute in Sarajevo waren immer heiß auf Neues, wir haben Musik aus England aufgesaugt und was Neues draus gemacht. Hier war es genauso cool wie London oder Berlin." Der Krieg von 1992-1996 zerstörte die Identität von Sarajevo, Serben und Kroaten flohen, muslimische Dörfler strömten in die Stadt.

First War Cinema

Während der Kriegsjahre jedoch weigerten sich die Akademien für Kunst, Musik und Theater ihre Türen zu schließen und verlegten ihre Konzerte und Ausstellungen in Bunker. Aus Protest. Und um geistig zu überleben.

So trafen sich an einem Sommerabend im Jahr 1994, im dritten Jahr der serbischen Belagerung, im Keller unter Sarajevos ältestem Kino „Apollo" eine Gruppe junger Filmfreaks. Draußen frästen Granaten tiefe Löcher in die Straßen. Einmal wieder ins Kino gehen, das wär's. Tagsüber konnte man wenigstens ein Buch lesen, aber nachts gab es keinen Strom, bloß dunkle Gedanken. Doch wie an Filme gelangen? Eines Tages tauchte ein Stapel amerikanischer Videokassetten auf, die ein Journalist in der Stadt gelassen hatte. Der Journalist hatte einen Spleen: In allen Filmen spielte Sharon Stone die Hauptrolle. Egal. Eine bekritzelte Pappe diente als Festivalplakat und das „First War Cinema" war eröffnet.

Und auch wenn Sharon Stone der Detonationen wegen ab und zu im Standbild verharren musste - in jener Nacht war der Krieg einmal Nebensache. Das First War Cinema wurde zum Symbol dafür, wie es einigen Menschen in Sarajevo während des Krieges gelang, in Würde zu überleben. Aus diesem Filmabend entstand auch die Idee für das Filmfestival von Sarajevo. Ein Jahr später - ausländische Reporter schmuggelten aktuelle Filme von europäischen Filmfestivals in die Stadt - war das Programm schon etwas abwechslungsreicher.

Als Sarajevo 1996 befreit war, mussten zunächst elftausend Tote begraben, Flüchtlingsheime gebaut und die Strom- und Wasserversorgung wieder hergestellt werden. Viele, die am kulturellen Anspruch der Stadt mitgewirkt hatten, waren ins Ausland geflohen. Übrig blieb eine reduzierte, aber resolute Szene, die in den folgenden Jahren einen wichtigen Teil zum geistigen Wiederaufbau der Stadt beitrug und in jedem August ein Festival auf die Beine stellte.

Die Regisseure aus Ex-Jugoslawien fanden eine Sprache, mit der politischen Unmöglichkeit umzugehen, nach einem Krieg Gewinner oder Verlierer zu benennen. Einerseits drücken ihre Filme den Schmerz der Opfer aus, andererseits waren sie von Anfang an von Durchblick, political correctness und einer bewundernswerten Menschlichkeit geprägt: In bosnischen Filmen gibt es auch den „guten Serben". In Danis Tanovićs Kriegsparodie „No Man's Land" ist nur der Krieg der Feind. In „Esmas Geheimnis" spielt eine Serbin eine Muslimin. Im Antikriegsdrama „Circles" vom serbischen Regisseur Srdan Golubović ist der große Sympathieträger ein Muslim, und das obwohl Golubović - im wirklichen Leben - seinen Sohn in diesem Krieg verlor.

In der Kunst dürfen die Grenzen verschwimmen, verschwinden und unsinnig werden. Während sich die politischen Führer in Bosnien und den umliegenden Staaten nicht gerade die Beine ausreißen, um die drei Volksgruppen einander näherzubringen, spürt man während des Filmfestivals, wie gut es Sarajevo tut, dass Kino die ethnischen Trennungen transzendiert. Dass das Erbe des kosmopolitischen Geistes von Sarajevo stark ist.

Zukunftssorgen

„Ich kenne niemanden hier, der ethnische Trennungen will. Das sind bloß die Politiker, die wollen nichts ändern, weil sie von diesem Zustand leben". Danis Tanovićs Tonfall ist trocken, so als ob es ihm gleichgültig wäre. Dabei hat er selbst eine Partei gegründet, die neben Muslimen, Serben und Kroaten auch Mitglieder der jüdischen und Roma-Gemeinde umfasst. Mit Naša Stranka (Unsere Partei) hat es Tanović ins Parlament geschafft und bewirkt, dass auch Roma und Juden ins Parlament gewählt werden dürfen.

"Wir sind die letzte Generation, die sich an das Leben vor dem Krieg erinnert, also liegt es an uns etwas zu tun. Allerdings braucht man hier sehr viel Geduld, in Bosnien geht alles langsam." Tanović zieht die Augenbrauen hoch und winkt ab. „Das Bildungssystem muss verbessert werden, dann die Wirtschaft. Aber es gibt nicht viel Raum für Reformen. Die Politiker werden seit 20 Jahren fürs Nichtstun bezahlt, warum sollten sie da etwas ändern? Und die internationale Gemeinschaft tut auch nicht gerade viel für uns. Wir stecken fest".

Bosnien klebt im Dilemma-Vertrag von Dayton fest, der Verfassungsrang hat. Das vor 20 Jahren von den USA und der EU beschlossene Abkommen sieht vor, dass die drei Volksgruppen im dreijährigen Wechsel Bosnien und Herzegowina regieren. So geht nichts voran, denn die Interessen könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Wähler sind frustriert, weil immer dieselben Gesichter an die Macht kommen.

„Allerdings sind wir es auch gewohnt, ums Überleben zu kämpfen. Wir können gut improvisieren und Tag für Tag leben", räumt Tanović ein. „Das heißt aber nicht, dass wir das wollen. Es wäre so wichtig für uns, in die EU zu kommen. Die Aufbruchsstimmung, die dann herrschen würde, wäre unsere Rettung."

Kroatien ist in der EU, Serbien ist im Gespräch. Wenn die EU zurückhaltend bleibt, droht Bosnien ein schwarzer Fleck in der Mitte von Europa zu werden. „Für die Bosnier ist es schwer zu verstehen, dass die 3,5 Millionen Menschen, die in Bosnien leben, nicht in die EU passen sollen. Wenn sie wollten, könnten sie uns aufnehmen. Rumänien und Bulgarien sind riesige Länder und da ging es auch. Aber ich befürchte, Bosnien ist einfach zu unbekannt."

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Wenn die Filmstars am Abend auf dem Susan Sontag-Platz über den roten Teppich ins Nationaltheater marschieren, fühlt sich Sarajevo an wie der wichtigste Ort der Welt. Ein paar Hundert Menschen winken den Damen und Herren in Abendrobe zu, beinahe ungläubig. Die Stars winken zurück. Rührung statt Festivalhysterie. Die Securityleute stehen in der Ecke und rauchen, die Absperrungen sind eher Deko.

Auf dem Balkan hat man es nicht so mit Promibesessenheit. Dafür wird so manchem Gast später eine Straße oder ein Platz gewidmet. Später in dieser Augustnacht sehen sich die Bewohner von Sarajevo und die Filmstars bestimmt irgendwo wieder, bei Žjelko, der die besten Ćevapčići macht, bei Jugorock in der Havana Bar oder einem Stück Sachertorte im Hotel Europa.

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