Zunächst ist offensichtlich, dass rhetorische Beschämungsstrategien auch zur parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Demokratie hinzugehören.
Für einen Minister, der das eine Mal selbstgerecht auftrumpfend und das andere Mal sich feige wegduckend agiert, muss man sich, so sagt man (in der veröffentlichten Meinung), schämen.
Polizisten, die auf friedliche Demonstranten einschlagen, ruft man ein "Schämt euch! Schande über euch!" entgegen.
Im breiten öffentlichen Diskurs erfüllen vor allem die Boulevardpresse und seit einiger Zeit die im soziologisch-technologischen Sinn sogenannten sozialen Medien die Funktion der individuellen Schuldzuweisung und Beschämung. Dann brechen shit storm und hate speech über einen herein.
Aber auch breitere gesellschaftspolitische Kampagnen nutzen die Beschämungsstrategie:
Ein Film, der zeigt, wie Männer mit stumpfen Waffen Robben, diese zutraulichen Tiere, vor allem - so der geschickt gewählte Ausdruck - "Robbenbabys" erschlagen; oder einer, der zeigt, wie Delfine, diese intelligenten und kommunikationsfreudigen Tiere (und jeder, der in den 1960er- und 1990er-Jahren Kind war, kennt Flipper, unseren "besten Freund") sich in den Treibnetzen von Thunfisch-Jägern verfangen und verenden, stellt diese Jäger und die Profit- und Luxusinteressen, die sie bedienen, an den Pranger.
Die Durchsetzung eines Fair Trade-Zertifikats auf inzwischen zahlreichen Waren, von Kaffee bis Kleidung, ist Resultat derselben Strategie.
Verschiebt man die Aufmerksamkeit von der empirischen auf die normative Ebene, kann man mit John Rawls und Martha Nussbaum kurz noch einmal daran erinnern, dass Selbstachtung eine notwendige Bedingung für die Partizipation am sozialen und politischen Leben ist, und dass Scham, die Erfahrung eines Verlustes an Selbstachtung, daher gefährlich ist für demokratisch-partizipative Gesellschaftsformen sowie für das sozial und moralisch relevante Mitfühlen (compassion) überhaupt.
➨ Mehr zum Thema: Von wegen Schweigen: Deutschland redet sich um Kopf und Kragen
Und diese Gefahr besteht nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene. Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich sehr wohl schämen können, aber nicht in Grund und Boden schämen für ihre Traditionen.
Es gibt Anlässe und Gründe, für die man sich als Kollektiv schämen muss. In der jüngeren deutschen Geschichte kennen wir diesen Sachverhalt nur allzu gut unter dem Titel "Schuld und Scham angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus".
Die verstörenden Bilder von Demütigungs- und Folterszenen aus dem Militärgefängnis von Bagdad, Abu Ghraib, sind das jüngste Memento für die USA. Aber eine Gemeinschaft kann so wenig mit einem Übergewicht an Scham leben wie ein Einzelner mit einem Übergewicht an Selbstmissachtung.
Wir müssen die individuelle und kollektive Selbstwertschätzung nicht unbedingt "Stolz" und "Nationalstolz" ("Patriotismus") nennen.
Aber Richard Rorty hat meiner Meinung nach recht, wenn er in seinem Buch "Stolz auf unser Land" (im amerikanischen Original Achieving Our Country) sagt, dass nationale Selbstwertschätzung oder Nationalstolz für ein Land dasselbe ist wie Selbstachtung für den Einzelnen: "eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung"(self-improvement), und das schließt ein, dass ein - wie man altaristotelisch betonen kann -maßvoller "Stolz die Scham überwiegt".
Wie aber steht es nun nicht mit dem Stolz als Gegenpol, als kompensierendem Gegenteil der Scham, sondern mit der Unverschämtheit als - neben der Schamlosigkeit -semantischem Gegenteil?
Zunächst muss man auch hier, im engeren politischen Kontext, konstatieren, dass das Gerede über das Ende der Scham, über die Zunahme an rüdem und unzivilisiertem Verhalten eine Reaktion ist auf den zunehmenden Egalitarismus, und das heißt soziologisch: auf die zunehmende Inklusion von sozialen Gruppen in das gesellschaftlich-repräsentative Ganze, die vorher ausgeschlossen waren.
Die Ängste, die sich in diesem Lamento ausdrücken, sind vor allem die vor den unteren sozialen Schichten, auf die die demokratischen Rechte im Laufe der Jahrhunderte schubweise ausgedehnt wurden.
Das Lamento moduliert insofern also einen nostalgischen Grundton, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der Scham, wie man meint, über alle sozialen Unterschiede hinweg das Reglement gesichert hat.
➨ Mehr zum Thema: In 6 EU-Ländern sind Rechtspopulisten erfolglos - was wir davon über den Umgang mit der AfD lernen können
Unverschämtes Verhalten gibt aus dieser kritischen Perspektive also nicht einfach einen Grund zur Klage. Eher einen erneuten Grund zur Vorsicht bezüglich politischer Standards und standardisierter Denkformen.
Die sozial Ausgeschlossenen haben oft gar keine andere Wahl, als dagegen mit grenzüberschreitenden, provozierenden und dadurch tendenziell unverschämten Protestformen vorzugehen.
So inszenieren sich Aktionen zivilen Ungehorsams seit den 1960er-Jahren als bewusste symbolische Verstöße gegen rechtliche Normen, symbolisch, weil im juristischen Sinn niemand einen körperlichen oder materiellen Schaden erleiden darf, aber auch, weil diese Verstöße ein bildhaft-anschauliches, auf einen tieferen Sinn verweisendes Zeichen setzen.
Unverschämt in jeder Hinsicht des Wortes (anmaßend, keck, ungezogen, übermütig, kühn) war dagegen die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 Kurt Georg Kiesinger gab, dem damaligen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Unverschämt war auch der Zwischenruf des Bundestagsabgeordneten Joschka Fischer während einer Parlamentsdebatte 1984: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!"
Unverschämt war jüngst das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkisch-autokratischen Präsidenten Erdoğan.
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Es handelt sich hier um demonstrative Aktionen im doppelten Sinn des Wortes: Aktionen, die etwas demonstrativ (anschaulich, auffallend) demonstrieren (zeigen) wollen. Unverschämtheit, so wird in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich, ist eine primär soziale, nicht, wie Schamlosigkeit, eine primär moralische Eigenschaft.
Der unverschämte Bürger (unashamed citizen) ist demnach für eine Demokratie ebenso notwendig wie gefährlich.
Er zeigt sich auf der progressiven wie auf der konservativen bis reaktionären Seite, in raffiniert provozierenden politischen Aktionen wie in grölenden Pöbeleien gegen die etablierte Politik, im demonstrativen Einfordern wie im demonstrativen Verhindern von Minderheitenrechten, im mutigen Verteidigen der Zivilgesellschaft gegenüber Autokraten wie in der Vulgarität des politisch-kulturellen Proleten.
Unverschämtheit gehört zur Demokratie wie der mündige, für sich selbst sprechende und auf Einlass in den Raum der Macht drängende Bürger, der citizen, der im Englischen geschlechtsneutral inklusiv auftreten kann.
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Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Essay "Idioten. Blodmänner. Assholes". Es ist im September 2017 in der Essay-Sammlung "Bullshit.Sprech" im Murmann Verlag erschienen.
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Für einen Minister, der das eine Mal selbstgerecht auftrumpfend und das andere Mal sich feige wegduckend agiert, muss man sich, so sagt man (in der veröffentlichten Meinung), schämen.
Polizisten, die auf friedliche Demonstranten einschlagen, ruft man ein "Schämt euch! Schande über euch!" entgegen.
Im breiten öffentlichen Diskurs erfüllen vor allem die Boulevardpresse und seit einiger Zeit die im soziologisch-technologischen Sinn sogenannten sozialen Medien die Funktion der individuellen Schuldzuweisung und Beschämung. Dann brechen shit storm und hate speech über einen herein.
Die Strategie der Scham
Aber auch breitere gesellschaftspolitische Kampagnen nutzen die Beschämungsstrategie:
Ein Film, der zeigt, wie Männer mit stumpfen Waffen Robben, diese zutraulichen Tiere, vor allem - so der geschickt gewählte Ausdruck - "Robbenbabys" erschlagen; oder einer, der zeigt, wie Delfine, diese intelligenten und kommunikationsfreudigen Tiere (und jeder, der in den 1960er- und 1990er-Jahren Kind war, kennt Flipper, unseren "besten Freund") sich in den Treibnetzen von Thunfisch-Jägern verfangen und verenden, stellt diese Jäger und die Profit- und Luxusinteressen, die sie bedienen, an den Pranger.
Die Durchsetzung eines Fair Trade-Zertifikats auf inzwischen zahlreichen Waren, von Kaffee bis Kleidung, ist Resultat derselben Strategie.
Verschiebt man die Aufmerksamkeit von der empirischen auf die normative Ebene, kann man mit John Rawls und Martha Nussbaum kurz noch einmal daran erinnern, dass Selbstachtung eine notwendige Bedingung für die Partizipation am sozialen und politischen Leben ist, und dass Scham, die Erfahrung eines Verlustes an Selbstachtung, daher gefährlich ist für demokratisch-partizipative Gesellschaftsformen sowie für das sozial und moralisch relevante Mitfühlen (compassion) überhaupt.
➨ Mehr zum Thema: Von wegen Schweigen: Deutschland redet sich um Kopf und Kragen
Und diese Gefahr besteht nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene. Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich sehr wohl schämen können, aber nicht in Grund und Boden schämen für ihre Traditionen.
Es gibt Anlässe und Gründe, für die man sich als Kollektiv schämen muss. In der jüngeren deutschen Geschichte kennen wir diesen Sachverhalt nur allzu gut unter dem Titel "Schuld und Scham angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus".
Die verstörenden Bilder von Demütigungs- und Folterszenen aus dem Militärgefängnis von Bagdad, Abu Ghraib, sind das jüngste Memento für die USA. Aber eine Gemeinschaft kann so wenig mit einem Übergewicht an Scham leben wie ein Einzelner mit einem Übergewicht an Selbstmissachtung.
Stolz der die Scham überwiegt
Wir müssen die individuelle und kollektive Selbstwertschätzung nicht unbedingt "Stolz" und "Nationalstolz" ("Patriotismus") nennen.
Aber Richard Rorty hat meiner Meinung nach recht, wenn er in seinem Buch "Stolz auf unser Land" (im amerikanischen Original Achieving Our Country) sagt, dass nationale Selbstwertschätzung oder Nationalstolz für ein Land dasselbe ist wie Selbstachtung für den Einzelnen: "eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung"(self-improvement), und das schließt ein, dass ein - wie man altaristotelisch betonen kann -maßvoller "Stolz die Scham überwiegt".
Wie aber steht es nun nicht mit dem Stolz als Gegenpol, als kompensierendem Gegenteil der Scham, sondern mit der Unverschämtheit als - neben der Schamlosigkeit -semantischem Gegenteil?
Zunächst muss man auch hier, im engeren politischen Kontext, konstatieren, dass das Gerede über das Ende der Scham, über die Zunahme an rüdem und unzivilisiertem Verhalten eine Reaktion ist auf den zunehmenden Egalitarismus, und das heißt soziologisch: auf die zunehmende Inklusion von sozialen Gruppen in das gesellschaftlich-repräsentative Ganze, die vorher ausgeschlossen waren.
Die Ängste, die sich in diesem Lamento ausdrücken, sind vor allem die vor den unteren sozialen Schichten, auf die die demokratischen Rechte im Laufe der Jahrhunderte schubweise ausgedehnt wurden.
Das Lamento moduliert insofern also einen nostalgischen Grundton, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der Scham, wie man meint, über alle sozialen Unterschiede hinweg das Reglement gesichert hat.
➨ Mehr zum Thema: In 6 EU-Ländern sind Rechtspopulisten erfolglos - was wir davon über den Umgang mit der AfD lernen können
Unverschämtes Verhalten gibt aus dieser kritischen Perspektive also nicht einfach einen Grund zur Klage. Eher einen erneuten Grund zur Vorsicht bezüglich politischer Standards und standardisierter Denkformen.
Die sozial Ausgeschlossenen haben oft gar keine andere Wahl, als dagegen mit grenzüberschreitenden, provozierenden und dadurch tendenziell unverschämten Protestformen vorzugehen.
So inszenieren sich Aktionen zivilen Ungehorsams seit den 1960er-Jahren als bewusste symbolische Verstöße gegen rechtliche Normen, symbolisch, weil im juristischen Sinn niemand einen körperlichen oder materiellen Schaden erleiden darf, aber auch, weil diese Verstöße ein bildhaft-anschauliches, auf einen tieferen Sinn verweisendes Zeichen setzen.
Demonstrationen der Unverschämtheit
Unverschämt in jeder Hinsicht des Wortes (anmaßend, keck, ungezogen, übermütig, kühn) war dagegen die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 Kurt Georg Kiesinger gab, dem damaligen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Unverschämt war auch der Zwischenruf des Bundestagsabgeordneten Joschka Fischer während einer Parlamentsdebatte 1984: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!"
Unverschämt war jüngst das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkisch-autokratischen Präsidenten Erdoğan.

Es handelt sich hier um demonstrative Aktionen im doppelten Sinn des Wortes: Aktionen, die etwas demonstrativ (anschaulich, auffallend) demonstrieren (zeigen) wollen. Unverschämtheit, so wird in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich, ist eine primär soziale, nicht, wie Schamlosigkeit, eine primär moralische Eigenschaft.
Der unverschämte Bürger (unashamed citizen) ist demnach für eine Demokratie ebenso notwendig wie gefährlich.
Er zeigt sich auf der progressiven wie auf der konservativen bis reaktionären Seite, in raffiniert provozierenden politischen Aktionen wie in grölenden Pöbeleien gegen die etablierte Politik, im demonstrativen Einfordern wie im demonstrativen Verhindern von Minderheitenrechten, im mutigen Verteidigen der Zivilgesellschaft gegenüber Autokraten wie in der Vulgarität des politisch-kulturellen Proleten.
Unverschämtheit gehört zur Demokratie wie der mündige, für sich selbst sprechende und auf Einlass in den Raum der Macht drängende Bürger, der citizen, der im Englischen geschlechtsneutral inklusiv auftreten kann.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Essay "Idioten. Blodmänner. Assholes". Es ist im September 2017 in der Essay-Sammlung "Bullshit.Sprech" im Murmann Verlag erschienen.
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