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Ein Jahr nach den Snowden-Enthüllungen ist die Freiheit der Gedanken tot

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Es war heute vor einem Jahr, als die britische Zeitung „The Guardian“ unser Bild vom Netz mit einem einzigen Artikel für immer veränderte. Erstmals bestätigte damals ein Insider, dass amerikanische und britische Geheimdienste an einem Überwachungsapparat arbeiten, der die Abhöraktivitäten der vergangenen Jahrzehnte im Nachhinein wie Kinderfasching aussehen lassen. Der Name: Edward Snowden.

Die Unschuld im Internet ist gestorben

Es wurden immer mehr Details bekannt: Dass der Datenverkehr im Netz komplett aufgezeichnet und gespeichert wird. Dass Wohnungen mit Hilfe des WLANs überwacht werden können. Dass es sogar eine Art perverses Facebook für Geheimagenten gibt, durch das man – nur mit Hilfe einer E-Mail-Adresse – sämtliche privatesten Datenspuren abrufen kann, die ein Nutzer im Netz hinterlassen hat. Nichts davon haben die USA und Großbritannien bisher glaubhaft dementiert. Der 6. Juni 2013 ist der Tag, an dem die Unschuld im Internet starb.

Was politisch passiert ist? Fast nichts.

Doch noch frappierender ist, was im politischen Berlin seitdem passiert ist. Nämlich fast nichts. Bundeskanzlerin Angela Merkel leugnete erst einmal jedes Wissen um die Abhörtätigkeiten, dann schickte sie den damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich vor, der die deutsch-amerikanische Freundschaft mit einer Reise nach Washington retten sollte – und dabei intellektuell so grandios und umfassend scheiterte wie Eddy the Eagle an der Skisprungschanze von Calgary.

Merkel selbst wurde erst aktiv, als ihr eigenes Handy abgehört wurde, was ein weiterer Skandal im Skandal ist. Doch auch hier ließ sie sich wieder mit halbherzigen Versprechungen zufriedenstellen. Ihr Handy würde fortan nicht mehr abgehört werden, sagte US-Präsident Barack Obama. Wer’s glaubt, eröffnet immer noch E-Mail-Fächer bei Googlemail und speichert seine Tagebücher in einer Dropbox ab.

Umgekehrt betrachtet heißt selbst dieses lauwarme Versprechen, dass die Mobilfunkverbindung sämtlicher Kabinettsmitglieder immer noch im Visier der US-Geheimdienste stehen könnte. Snowden selbst sagte in einem ARD-Interview, dass auch andere hochrangige deutsche Regierungsmitglieder von Spähaktionen betroffen seien. Angela Merkel kümmert das nicht. Sie hätte im Januar die Gelegenheit gehabt, nach dem Scheitern des so genannten No-Spy-Abkommens Druck zu machen. Wenn dies tatsächlich geschehen sein sollte, dann im diplomatisch-homöopathischen Dosen.

Der Zeuge soll nichts sagen

Schließlich sollte ein Untersuchungsausschuss des Bundestages die NSA-Affäre aufklären. Doch seit Monaten schon verhindert die Bundesregierung, dass der Ausschuss Edward Snowden als Zeugen vorladen kann. Tenor: Das sei den deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht zuzumuten. Dass Snowden sich womöglich strafbar machen würde, wenn er in seinem russischen Exil aussagt – geschenkt. Mal abgesehen von der Tatsache, dass Snowden kürzlich in einem "Stern"-Interview sagte, er sei für die Überwachung des Datenverkehrs in Deutschland bei der NSA mitverantwortlich gewesen. Wer also könnte dem Ausschuss belastbarere Informationen liefern als dieser Edward Snowden?

Und was haben Intellektuelle nicht alles getan, um diese Bundesregierung wachzurütteln? Mehr als 500 Schriftsteller haben am internationalen Tag der Menschenrechte einen Aufruf unterzeichnet, in dem die Regierungen (und damit auch das Kabinett Merkel) aufgefordert werden, mehr zum Schutz der digitalen Bürgerrechte zu tun. Es war ein ehrbarer Versuch, der vielleicht nicht gleich zum Erfolg geführt hat, jedoch über die Zeit nachwirken könnte.

Auch auf HuffingtonPost.de: Washington Post und The Guardian gewinnen Pulitzer-Preis für Snowden-Enthüllungen




In Deutschland ist öffentlicher Druck der einzige Hebel, um etwas zu verändern. Eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht wäre deshalb aussichtslos, weil der Beschwerdeführer dafür nachweisen müsste, dass er selbst betroffen ist. Doch bisher ist nur ein einziger konkreter Fall bekannt ist, in dem die NSA massenhaft Daten einer deutschen Staatsbürgerin abgefischt hat: den der Kanzlerin. Aber die müsste gegen ihre eigene Betonstarre klagen. Eine witzige Idee. Aber nicht sehr wahrscheinlich.

Die Regierung schaut leise pfeifend zu

Wahrscheinlich werden immer noch jeden Tag gut ein halbes Dutzend im Grundgesetz verbriefter Freiheitsrechte gebrochen. Angefangen vom Fernmeldegeheimnis, über die Unverletzbarkeit der Wohnung, bis hin zur Menschenwürde und der Handlungsfreiheit. Es gab kluge Leute, die darüber nachgedacht haben, ob seit dem 6. Juni vergangenen Jahres Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes greift: Das Recht auf Widerstand. Doch die kümmerliche Wahrheit ist, dass die Bundesregierung nicht im Begriff ist, die verfassungsmäßige Ordnung zu ändern. Sie schaut leise pfeifend dabei zu, wie es andere tun.

Die Debatte um die Datenüberwachung könnte sich an einem entscheidenden Punkt drehen: Wenn der Bundesregierung stichhaltig nachgewiesen würde, dass sie nicht nur von den Abhöraktivitäten der NSA und des GCHQ gewusst hat, sondern auch mit den ausländischen Geheimdiensten bei der Überwachung der deutschen Bevölkerung zusammenarbeitet. Nach den bisherigen Enthüllungen liegt dieser Schluss nahe. Doch die Aussicht darauf, dass dies bewiesen werden könnte, wird immer geringer.

Dieser 6. Juni 2014 ist deshalb ein trauriger Tag. Ein Jahr nach der Unschuld im Internet ist damit nicht nur das Vertrauen in die Digitalkompetenz der Bundesregierung tot. Auch das Selbstbild Deutschlands als „Supermacht der Werte“ hat sich erledigt. Weil die Bundesregierung es aus lauter Angst vor den USA nicht schafft, die Freiheit der Gedanken im eigenen Land zu verteidigen.

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