Raed Saleh, SPD-Fraktionschef im Berliner Senat, brachte den Stein im Sommer 2013 ins Rollen. Er forderte, Kinder ab dem vierten Lebensjahr verpflichtend in das staatliche Kita-Räderwerk einzuspeisen. „Ein konservatives Familienbild steht der gesellschaftlichen Aufgabe der Integration und der Schaffung von gleichen Bildungschancen entgegen." Zauberwort „Integration" einmal mehr. Herr Saleh weiß, wie der Hase läuft.
Eine vom Berliner Senat ins Leben gerufene Mischpoke, selbstredend höchstobjektiv forschender, „Experten" kam damals zu dem Schluss, dass Einwanderer im Vergleich zu ihren einheimischen Leidesgenossen etwas eher abgeneigt seien, ihre Jüngsten den Saugnäpfen der väterlich wohlwollenden Staatskrake anheim zu geben. Die gesunde Abneigung gegenüber Bevormundung und monopolistischer Zwangsbewirtschaftung des Humankapitals wurde den Ur-Deutschen dagegen spätestens vom Reichszusammenschweißer Bismarck aberzogen.
Unter den Experten tummelte sich auch Jutta Allmendinger. Gegenüber dem „Handelsblatt" plädierte die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung nur wenige Wochen nach Salehs Vorstoß für eine Vorschulpflicht in Deutschland. Nach ihrer Meinung sollen zumindest die letzten Jahre in einem Kindergarten zu einer Vorschule umgewandelt und verpflichtend angeordnet werden.
Ihre Argumentationslinie folgte dabei den von Saleh ausgetretenen Pfaden. Kinder aus sogenannten sozial schwachen oder auch Familien mit Migrationshintergrund würden später und seltener in deutschen Kindergärten angemeldet. „Hochproblematisch", so Allmendinger, denn diese Kinder würden dadurch „weniger gefördert". Sie würden „Bildung verpassen". Förderung und Bildung, die nur der Staat garantieren kann. Bildung und Förderung, deren Qualität sich als so herausragend darstellt, dass man die Konsumenten dazu zwingen muss. Doch noch ist es nicht soweit. „Eine Kindergarten-Pflicht in Deutschland wird immer mal wieder diskutiert. Sie ist aber noch nicht durchsetzbar - aus rechtlichen Gründen", trauerte Allmendinger im „Handelsblatt".
Salamitaktik
Scheibchen für Scheibchen wird seit dem Sommer 2013 das Thema Kita-Pflicht warm gehalten. Die Herren und Damen Sozialklempner köcheln dabei mal auf höherer, mal auf niedrigerer Flamme. Hauptsache, die „Problematik" bleibt in aller Munde. „Gewöhnung" heißt diesmal das Zauberwort. Peu à peu wird das Wahlvolk auf diesem Wege mit bis noch vor einigen Monaten Undenkbarem vertraut gemacht.
Im Januar 2014 erreichte man die zweite Eskalationsstufe. Wo sonst, als in Deutschlands Hauptstadt für Sozialexperimente? Der Berliner Senat beschloss, die Kinder, die keine Kita besuchen, ab dem Schuljahr 2014/15 früher zu einem verbindlichen Sprachtest antreten zu lassen. Diese Kinder werden demnach künftig schon mit vier Jahren getestet. Die Begründung: Eventuelle Sprachdefizite sollen frühestmöglich diagnostiziert und therapiert werden.
Damit verlängert sich auch die Kitapflicht für förderbedürftige Kinder in Berlin um ein halbes Jahr. Zudem sollen sie ab August 2014 fünf statt drei Stunden lang pro Tag eine Kita besuchen. Verbindlich. Verpflichtend. Per Gesetz. Und kein Gesetz ohne Strafe. Eltern, die sich dieser Weisung des Senats widersetzen, müssen zukünftig mit Bußgeldern von bis zu 2.500 Euro rechnen.
„Mir sind die rechtlichen Bedenken gegen eine Kita-Pflicht bekannt, aber die Berliner Studie zeigt doch, dass es übergeordnete Interessen gibt", betonte Vorreiter Raed Saleh im Sommer 2013.
Dritte Runde
Übergeordnete Interessen! Sie werden nun ganz aktuell auch im Westen der Bundesrepublik erkannt. Kölns Schuldezernentin Dr. Agnes Klein (SPD) forderte am vergangenen Donnerstag „Kita-Pflicht für alle Kinder ab drei Jahren." Seit dem 16. Juli 2010 ist Klein die vielleicht mächtigste Frau Kölns. Als Chefin von fast der Hälfte aller städtischen Mitarbeiter verwaltet sie mehr als 50 Prozent des Haushalts der Stadt. Zirka 6.800 Mitarbeiter in den Dezernaten für Bildung, Jugend, Sport, Soziales, Integration, Umwelt und Gesundheit hören auf ihr Kommando. Ihr Gesamtbudget beträgt mehr als drei Milliarden Euro.
Kölns Linke und Grüne begrüßten natürlich Kleins ursozialistische Forderung. Die grüne Kommunalwahl-Spitzenkandidatin Kirsten Jahn (37) sagte: „Langfristig halte ich eine Kita-Pflicht für richtig. Aber zuerst müssen wir uns um die Qualität der Kitas kümmern." Und der Linke Jörg Detjen äußerte: „Wir fordern in unserem Programm eine gute Kindheit. Deshalb begrüßen wir den Vorschlag von Dr. Klein nach einer Kita-Pflicht. Dazu gehört aber unbedingt auch gute Qualität!"
Kölns promovierte Superdezernentin versuchte natürlich ihrer Forderung wissenschaftliches Gewicht zu verleihen: „Klar ist, dass jedes Kind, das vor der Schule nicht in der Kita war, schlechtere Startbedingungen hat." Ein Schuss in den Ofen, wie der Blick in die Publikation „Informationsdienst Soziale Indikatoren" Nummer 48 aus dem Juli 2012 offenbart. Für das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln untersuchten damals Heike Wirth und Verena Lichtenberger die Aufgeschlossenheit von Eltern gegenüber der Fremdbetreuung ihrer Kinder in den europäischen Ländern.
Vor allem hinsichtlich der diesbezüglichen Einstellung finnischer Eltern kamen die Sozialwissenschaftler zu einem bemerkenswerten Ergebnis: „Innerhalb der nordischen Länder fällt Finnland aus dem Rahmen. Ähnlich wie in Dänemark, Schweden und Norwegen besteht für Kinder in Finnland spätestens ab dem ersten Lebensjahr ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und zugleich eine umfangreiche Betreuungsinfrastruktur. Dennoch nehmen nur 23 Prozent der Mütter in Finnland institutionelle Unterstützung für ihr jüngstes Kind in Anspruch.
Nahezu drei Viertel der Mütter hingegen betreuen ihr Kind ausschließlich selbst, das heißt sie verzichten auf jede Form der externen Betreuung, sei es institutioneller oder privater Art." Und obwohl nicht einmal ein Viertel aller finnischen Eltern ihre Jüngsten in Kitas betreuen lassen, brillieren finnische Schüler seit Jahren mit besten PISA-Ergebnissen. Es besteht also keinerlei positiver Zusammenhang zwischen Kita-Betreuung und späteren schulischen Leistungen.
Doch all die Sozialklempner Deutschlands von Allmendinger bis Saleh verschweigen, was nicht sein darf: Institutionelle Fremdbetreuung kann Nestwärme nicht ersetzen. Frühes Lernen im Dreikäsehoch-Kollektiv ist nicht zu verwechseln mit natürlicher, kindlicher Neugier in der wohligen, sicheren Umgebung von Mutter und Vater.
Geschnibbelt wird weiter unerschrocken. Die Salami wird kleiner. Und der gedankliche Virus, eine Kita-Pflicht fördere Kinder, sei nur zu ihrem Besten, breitet sich Scheibchen für Scheibchen aus. Im Sommer 2013 begann das Gewöhnungsprojekt. Im Januar und Mai 2014 wurden Zwischenetappen erreicht. Die Intervalle werden kürzer. Die Einschläge kommen näher. Lange wird es sicherlich nicht mehr dauern, bis sich die gesamte Republik am Anblick zwangsbeschulter Vierjähriger erfreuen wird.
Der folgende Artikel erschien zuerst auf eigentümlich frei.