Europa setzt auf eine radikale Sparpolitik zur Sicherung des Wohlstandes. Läuft aber hinter dem Vorwand der Krisenbewältigung ein stiller Putsch gegen die europäischen Bürger? Tahir Chaudhry sprach mit dem Enthüllungsjournalisten Jürgen Roth über den Plan der Putschisten, die Opfer ihrer Bestrebungen, die Zukunft Europas und die Fehler der Verschwörungstheoretiker.
Chaudhry: In Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie einen „stillen Putsch", der, während wir gerade sprechen, voll im Gange sein soll. Wenn es den Putschisten um einen Systemwechsel geht, was für ein System wird dann angestrebt?
Roth: Tatsache ist, dass unter dem Vorwand notwendiger Reformen ein neoliberales, wirtschaftliches und soziales Ordnungssystem in den südeuropäischen Ländern durchgesetzt wurde, das eine aufgeklärte demokratische Zivilgesellschaft niemals kampflos hingenommen hätte. Es ist deshalb ein stiller Putsch, weil es um die Machterhaltung der Interessen einer globalen Wirtschaftselite geht. Ihr ist es in den letzten Jahren unter dem Vorwand Reformen durchzusetzen gelungen, die erreichten sozialen Sicherungssysteme in vielen europäischen Ländern zu zerschlagen. Und sie wollen dieses Modell, teilweise modifiziert, in allen europäischen Ländern umsetzen.
Chaudhry: Die Putschisten agieren also aus dem Verborgenen heraus. Sie nennen ja auch die sogenannten Runden Tische wie z.B. den „European Round Table of Industrialists", den „European Financial Services Round Table" oder den „Entrepreneurs Roundtable". Was können Sie über diese Runden Tische sagen?
Roth: Es handelt sich hier um vollkommen intransparente Treffen der politischen und wirtschaftlichen Elite, die durch nichts demokratisch legitimiert sind, aber weitgehende Entscheidungen für die gesamte Bevölkerung treffen. Teilnehmer sind ausschließlich Repräsentanten der globalen wie nationalen Wirtschaftselite. Ihre Treffen sind nicht deshalb geheim, weil man nicht vom demokratischen „Pöbel" belästigt werden will, sondern weil hier, häufig sehr informell, ihre Herrschaftsbestrebungen abgesichert werden. Und es ist doch auffällig, dass in allen deutschen Medien niemand etwas über die Beziehungsstrukturen der „Entrepreneurs Roundtables" oder der „European Round Table of Industrialists" veröffentlicht.
Chaudhry: Wenn man über exklusive Treffen der Mächtigen spricht, dann denken sehr viele Menschen sofort an Bilderberg-Konferenzen oder sogar an die „Illuminaten". Ist da für Sie ein Fünkchen Wahrheit dran?
Roth: Nein. Zwar sind die Bilderberger geradezu typisch für diese intransparenten Elitezirkel, und richtig ist auch, dass in den entscheidenden Schaltstellen immer die gleichen Repräsentanten der Finanzelite sitzen. Aber im Vergleich zum „Entrepreneurs Roundtable" oder dem „European Round Table of Industrialists" sind sie eher von bescheidenem Einfluss auf die konkrete nationale, wie europäische Politik.
Chaudhry: Nun kommt aber die Frage auf, wie die Dinge, die dort besprochen werden, in praktische Politik umgesetzt werden. Wie ist das konkret realisierbar?
Roth: In dem Moment, in dem Banker, Top-Konzernchefs und Medienmogule (wie beim „Entrepreneurs Roundtable") sich zum geselligen Wochenende treffen, wird besprochen, welche politischen Entscheidungen ihre Interessen fördern oder nicht. Dann wird darüber diskutiert über welche Kanäle man Einfluss nehmen kann. Da die Teilnehmer alle über extrem gute Beziehungen zur politischen Elite in Brüssel oder Berlin verfügen, setzen sie danach ihren Einfluss ein, um politische, wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen in ihrem Interesse umzusetzen. Ich schildere in meinem Buch ja genau die Personen und ihre Möglichkeiten politisch Einfluss zu nehmen.
Chaudhry: Kein Putsch ist legal. Er fordert auch Opfer. Welchen illegalen Aspekt haben diese Bestrebungen und wer sind ihre Opfer?
Roth: Der stille Putsch hat in den südeuropäischen Ländern bisher schon über 4000 Todesopfer gefordert. Zum einen aufgrund der radikalen Kürzungen im Gesundheitswesen. Das hatte zur Folge, dass die Säuglingssterblichkeit extrem gestiegen ist, dass schwerkranke Menschen nicht mehr behandelt wurden und deshalb sterben mussten. Es gehört die hohe Selbstmordrate aufgrund der existentiellen Verzweiflung dazu. Es war Nils Muiznieks, der Menschenrechtskommissar des Europarats, der Anfang Dezember 2013 eine Studie über die Verletzung der Menschenrechte in Europa durch die Austeritätspolitik, also die Politik der Troika, veröffentlichte. In Deutschland wurde sie schlichtweg negiert. Demnach vergessen die Regierungen, die in Europa die Sparmaßnahmen durchsetzen, ihre Verpflichtung, die Menschenrechte zu wahren. Insbesondere die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Verwundbarsten, die Notwendigkeit, den Zugang zur Justiz zu gewährleisten und das Recht auf Gleichbehandlung. Das sind die Opfer des stillen Putsches, die wir hier in Deutschland gerne ausblenden.
Chaudhry: Welche konkreten Gefahren sehen Sie da für Deutschland?
Roth: Ein Ziel des stillen Putsches ist die Prekarisierung der Gesellschaft, niemand soll noch eine langfristige soziale Sicherheit haben. Genau diese Politik wird auch in Deutschland umgesetzt. Hinzu kommt die Privatisierung des Gemeineigentums - alles soll nach Möglichkeit privatisiert werden, selbst die existentielle Versorgung, wie zum Beispiel die Versorgung mit Wasser. In den Ländern, die dem Diktat der Troika unterworfen sind, wurde das per Dekret teilweise schon umgesetzt. Und auch in Deutschland wird das früher oder später geschehen, wenn sich die Bürger nicht massenhaft dagegen zur Wehr setzen.
Chaudhry: Wurde Ihrer Meinung nach die Euro-Krise willkürlich herbeigeführt, damit sich ganze Länder einer mächtigen Elite unterwerfen?
Roth: Das wäre Spekulation, weil es dafür keine konkreten Beweise gibt. Sicher ist jedoch - und ich belege das ja auch - dass die Euro-Krise das ideale Instrument war, um die erkämpften sozialen und demokratischen Errungenschaften in den europäischen Ländern zu zerschlagen. Und Tatsache ist auch, dass die Troika genau die Maßnahmen umsetzte, die in Ländern wie Griechenland oder Portugal zum Beispiel auf demokratischem Wege nicht umgesetzt werden konnten. In Portugal ist es ja so gewesen, dass die konservative Regierung der Troika immer wieder vorgeschlagen hat, was an sozialen Sicherungssystemen zerschlagen werden muss, weil sie es als politische Partei nicht umsetzen konnte. Und genau so geschah es. Und eines dürfen wir bitte nicht vergessen: Die gleiche korrupte politische Elite, die für die hohen Schulden verantwortlich war (ob Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien zum Beispiel), ist heute diejenige, die von der Krise profitiert. Sie ist immer noch an der Macht, hat sich ihre Pfründe gesichert. Leidtragende sind - wie immer - die normalen Bürger und Bürgerinnen.
Chaudhry: Unter welchen Umständen hat denn für Sie Europa noch eine Zukunft?
Roth: Europa hat natürlich eine Zukunft, aber nur wenn es ein soziales und demokratisches Europa ist. Die vorbildliche Europäische Sozialcharta endlich umzusetzen wäre ein wichtiger Schritt hin zu einem sozialen Europa. Davon kann bislang jedoch keine Rede sein. Wir brauchen, um es platt zu sagen, kein Europa der Wirtschafts- und Finanzelite, wie es die konservativen Parteien bislang erfolgreich gehegt und gepflegt haben.
Chaudhry: Nun könnten viele Menschen sagen, dass das alles Spekulationen sind und eine große Verschwörungstheorie. Was würden Sie entgegnen?
Roth: Von wegen Verschwörungstheorie. Die Strippenzieher werden von mir mit Namen benannt. Ich zitierte seriöse Wirtschaftswissenschaftler, Gewerkschafter und kritische Unternehmer - die alle bestätigen, dass es einen stillen Putsch gegeben hat. Es war zum Beispiel Ulisses Garrido, der Direktor der Bildungsabteilung des Europäischen Gewerkschaftsbundes, der mir Folgendes sagte: „Das ist ein Putsch. Warum sage ich das so eindeutig? Weil es die Synthese dessen ist, was wir hier in Europa erleben, eine Attacke auf den Sozialstaat. Was erreicht werden soll, ist eine komplette Veränderung der Gesellschaft, ohne dass die Bevölkerung darüber mitentscheiden kann. Es ist eine ideologische Revolution, ein stiller Putsch - zweifellos."
Chaudhry: Was ist Ihrer Meinung nach der größte Fehler, den Verschwörungstheoretiker in der Untersuchung von Unstimmigkeiten in der Welt begehen?
Roth: Sie haben ein schwarz-weißes Bild von der Gesellschaft. Ihre Erklärungsmuster, dass es einzelne Männer gibt, die die Welt regieren, ist zu simpel. Sie erkennen keine Widersprüche und gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhänge, bzw. blenden sie aus, damit man das Böse besser erkennen kann. Verschwörungstheorie ist geradezu ein Instrument der globalen Wirtschaftselite um die fraglos undurchsichtigen Beziehungsgeflechte ins Lächerliche zu ziehen.
Chaudhry: Ihr Buch müsste doch für die mächtige Elite sehr unangenehm sein. Müssen Sie sich in irgendeiner Weise fürchten?
Roth: No risk no fun.
Chaudhry: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Roth!
Jürgen Roth: "Der stille Putsch. Wie eine geheime Elite aus Wirtschaft und Politik sich Europa und unser Land unter den Nagel reißt", Heyne Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro. ISBN 978-3-453-20027-2
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