Quantcast
Channel: Huffington Post Germany Athena
Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Die Eltern Viktor Juschtschenkos: Die Mutter

$
0
0
Varvara Timofeevna Juschtschenko (1918-2005)

Andreijs Frau wurde am 27. November 1918 in Choruschiwka geboren. Zu den angenehmsten Erinnerungen ihrer Kindheit zählten die langen Winterabende mit dem Großvater - er war Zimmermann - , der Geruch von frischem Holz, das beruhigende Surren vom Spinnrocken der Mutter, der Anblick von Heringen, gebackenen Kartoffeln, Weißkraut und salzigen Gurken aus einem Fass. Eine unbeschwerte Kindheit.

Die ersten schrecklichen Erinnerungen knüpften sich an das Jahr 1929. Alle Ländereien wurden im Zuge der stalinistischen Kollektivierung den Bauern enteignet und zu großen Kolchosen zusammengeführt. Diejenigen, die sich weigerten, ihr Land abzutreten, wurden verhaftet und getötet.

Da die Familie arm und ohne großen Besitz war, wird ihnen wohl erspart geblieben sein, was viele andere zu erleiden hatten. 1933 und 1934 verhungerten mindestens 3 Millionen Menschen in der Sowjetunion, da sie Weizen und andere Erzeugnisse - aufgrund des von Moskau zentralistisch geführten Warenhandels - in andere, weniger Güter produzierende Großstädte des Landes abzugeben hatten, so dass ihnen, obwohl einer der größeren Produzenten, selbst nichts blieb.

Die damals 13-Jährige sieht Männer, Kontrolleure von Haus zu Haus gehen, die überwachen, dass niemand seinen Vorrat an Weizenkörnern zwischen den Bodenbrettern oder im Ofen vor dem Abtransport hortet. Mit einer Art Stock, dessen eine Seite scharf war, maßen sie die Tiefe, den Platz zwischen den grob verlegten Dielenbrettern in der Nähe der Tür und jenen direkt neben dem Ofen. Vergehen wurden hart bestraft und endeten nicht selten mit dem Tod. Varvara Timofeevna erinnert sich in einem Interview vom 1.12.2003 in der Zeitschrift „Beztsenzury": „Einmal fanden sie sechs oder acht Kilogramm Körner im Haus meines Onkels, der alles im Ofen versteckt hatte. Sie nahmen die Körner und meinen Onkel mit. Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben. Aber drei Monate später kam er schwerkrank zurück. Er verbrachte drei Nächte zu Hause, dann starb er (...)."

In dieser Zeit bewahrten Kühe und Ziegen die Menschen vor dem Hungertod. Milch war das einzige, was noch an richtiges Essen erinnerte. Brot schmeckte fürchterlich, da Rüben, Kartoffeln oder Lindenblätter beigemischt wurden.

Das Schlimmste aber passierte, wenn die Körner zu reifen begannen. Leute aßen in Mengen diese frischen Körner, geschwächt und gierig zugleich, und starben unmittelbar nach dem Verzehr. Frauen und Kinder waren die ersten, deren Bäuche sich vom Hunger aufblähten. Frauen lagen mit aufgeplatzten Körpern auf der Straße, Kinder aßen ihre eigenen Mütter. Kannibalismus. Bilder, die eine Jugendliche nie mehr wird vergessen können!

1939 beendete sie die Schule. Sie wechselte zur pädagogischen Berufsschule nach Lebedinsk, um Grundschullehrerin zu werden. Während des Sommers absolvierte Varvara Timofeewna 28 Prüfungen und bekam ihr Lehrerdiplom. Am 1. September 1939 begann sie als Lehrerin in dem
Dorf Derkachivka zu unterrichten. 1940 entschied sie sich zu studieren und wechselte zum „Glukhov Pädagogischen Institut", das aber während des Krieges zerstört wurde.

Ihr Sohn Wiktor erinnert sich: „Man wollte auch meine Mutter zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppen. Sie aber aß verschiedene Unkräuter, um krank zu werden und dadurch der Zwangsarbeit zu entgehen."

Und Varvara fügt in dem besagten Dezemberinterview ergänzend hinzu: „Aber freundliche Leute gaben mir einige Ratschläge - eine Nacht vorher trank ich eine Öltinktur - aus Tabak gewonnen -, und am anderen Morgen waren meine Beine ganz geschwollen. Aber ein herbeigerufener Doktor der medizinischen Kommission wollte mir keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen. Er wollte zwei Flaschen Schnaps dafür haben. Es grenzt an ein Wunder, dass mein Vater von seiner Schwiegermutter zwei Flaschen Schnaps auftreiben konnte."

Jeder aus dem Dorf kannte die jüdische Familie Khalevskiy aus Romny, einer Stadt, nicht weit entfernt von Choruschiwka. Sie gaben denen, die von Choruschiwka in die Stadt kamen, um Geschäften nachzugehen oder Kühe zu verkaufen, Essen und Unterkunft. Varvara erzählt: „Als die Nazis kamen, entschied sich meine Tante, drei Mädchen dieser Familie vor den Besatzern zu verstecken. Selbst wir wussten nichts davon! Aber Nachbarn beobachteten das und informierten die Polizei. Die nahmen die Kinder und meine Tante mit." Varvaras Tante berichtet später, dass sie, als sie im Gefängnis saß, nichts essen und trinken konnte, sondern die ganze Zeit betete und Gott anflehte, ihre eigenen Kinder am Leben zu lassen. Sie überlebte - ihre Kinder aber wurden nach Deutschland verschleppt.

Als die Region um Choruschiwka 1943 befreit wurde, begann sie wieder in ihrem Beruf als Lehrerin für Mathematik und Physik zu arbeiten. Insgesamt 40 Jahre im Schuldienst: zwei Jahre vor Beginn des Krieges und den Rest der Zeit danach. Zusammen mit ihrem Mann beendete sie 1952 ihr Studium. Im September 2004 kam Varvara Timofeevna Juschtschenko ins Feofania- Krankenhaus nach Kiew. Bis zu ihrem Tod durch Herzinfarkt am 31. Januar 2005 verblieb sie dort unter ärztlicher Aufsicht.


TOP-BLOGS



Viewing all articles
Browse latest Browse all 40759

Trending Articles